Opfer aus Hiroshima Das Mädchen, das 1000 Kraniche faltete

  • von Rebecca Wegmann
Sadako Sasaki ist einer von vermutlich mehr als 100.000 Menschen, die an den Spätfolgen der radioaktiven Strahlen sterben. Nach ihrem Tod spenden ihre Angehörigen ihre Origami-Kraniche an Bildungsinstitutionen weltweit
Sadako Sasaki ist einer von vermutlich mehr als 100.000 Menschen, die an den Spätfolgen der radioaktiven Strahlen sterben. Nach ihrem Tod spenden ihre Angehörigen ihre Origami-Kraniche an Bildungsinstitutionen weltweit
© Polaris / ddp, Kyodo / picture alliance
Als Kleinkind überlebt Sadako Sasaki 1945 den Atombombenabwurf auf Hiroshima. Jahre später stirbt das Mädchen an den Folgen radioaktiver Strahlung und wird zum Symbol für den Frieden

Am 6. August 1945 um 2.45 Uhr in der Früh steigen zwölf Soldaten der United States Air Force auf der Pazifikinsel Tinian in den B-29-Bomber "Enola Gay". Nach fünfeinhalb Stunden erreicht das Flugzeug Hiroshima, eine Stadt im Südwesten der japanischen Hauptinsel Honshu. Das Ziel des US-Bombers ist die T-förmige Aioi-Brücke in der Innenstadt. Gegen 8.15 Uhr befolgt Kommandant Colonel Paul W. Tibbets den Befehl des damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman: "Little Boy" wird in fast 10.000 Meter Höhe abgeworfen. Die Atombombe fällt etwa 45 Sekunden, dann explodiert sie in rund 600 Meter Höhe über der Stadt, in der zu diesem Zeitpunkt mehrere Hunderttausend Menschen leben. Eine von ihnen ist die damals zweijährige Sadako Sasaki. 

Unmittelbar nach der Explosion breiten sich mit rasender Geschwindigkeit gewaltige Druck- und Hitzewellen von bis zu 6000 Grad Celsius in alle Richtungen aus. Binnen weniger Sekunden werden rund 80 Prozent der Innenstadt zerstört. Über Hiroshima steigt ein riesiger Atompilz auf. Die zweijährige Sadako Sasaki ist zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Familie in deren Haus im Bezirk Kusunoki-cho, nur ungefähr 1600 Meter von Hypozentrum entfernt. Dieser Punkt senkrecht unterhalb der explodierten Bombe wird auch Nullpunkt oder Ground Zero genannt, weil dort die Zerstörung am größten und die Strahlung am stärksten ist. 

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Um 8.16 Uhr treffen die Wellen das Haus der Familie Sasaki: Sie schleudern das kleine Mädchen aus dem Fenster. Ihre Mutter Fujiko findet ihre Tochter draußen weitestgehend unverletzt, schnappt sich Sadako und deren älteren Bruder und rennt los, fort von dem Feuersturm, der hinter ihnen losbricht. Auf ihrem Rücken trägt sie das Mädchen zu einem Evakuierungszentrum. Auf dem Weg dorthin werden sie vom "schwarzen Regen" überrascht, der radioaktive Niederschlag, bleibt an Haut und Kleidung haften.

Vor dem Nichts

Sadako, ihr Bruder und ihre Mutter überleben den Katastrophentag in der japanischen Stadt. Doch die Familie steht vor dem Nichts. Ihr Haus ist niedergebrannt, und auch der Familienbetrieb, ein Barber-Shop, ist vollständig ruiniert. Die Sasakis finden Zuflucht bei Verwandten. Sie trauern um die vielen Toten des 6. Augusts: Bekannte, Kunden, Nachbarn, Freunde und Großmutter Sasaki gehören zu den rund 80.000 Menschen, die an jenem Tag an den unmittelbaren Folgen der Bombe sterben. Bis zum Ende des Jahres werden es mehr als 100.000 sein. 

Am 9. August 1945 werfen die Amerikaner eine weitere Atombombe, genannt "Fat Man", über der japanischen Stadt Nagasaki ab. Wenige Tage später verkündet Kaiser Hirohito im Radio die bedingungslose Kapitulation Japans. Der Zweite Weltkrieg ist beendet. Vater Shigeo Sasaki kehrt zurück zu seiner Familie. Er wurde kurz nach Sadakos Geburt vom Militär eingezogen.

Wie viele andere in Hiroshima kämpft auch Familie Sasaki in der Nachkriegszeit mit finanzieller Unsicherheit, Nahrungsmittelknappheit und einer ungewissen Zukunft. Millionen Japaner und Japanerinnen hungern. 

Die Schnellste ihrer Klasse 

Nach und nach baut Familie Sasaki ihr Heim und ihren Betrieb wieder auf: 1947 eröffnet der neue Friseursalon in der Stadt. Die Sasakis leben in bescheidenen Verhältnissen. Mit den Jahren kehrt eine gewisse Stabilität zurück. In der Schule begeistert sich Sadako besonders für Sport. Sie ist die schnellste Läuferin ihrer Klasse und träumt davon, später einmal Sportlehrerin zu werden; ein vermeintlich gesundes, lebensfrohes Kind. 

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Fast ein Jahrzehnt nach dem Atombombenabwurf spürt das Mädchen zum ersten Mal die körperlichen Folgen der radioaktiven Strahlung, der sie am 6. August 1945 ausgesetzt war. Im Herbst 1954 wird Sadako krank: Erst sieht es nur nach einer Erkältung aus, dann glaubt die Familie, das Mädchen habe Mumps. Doch die Symptome halten wochenlang an, Sadako wachsen Knoten an Hals und Ohren, auf ihrem linken Bein tauchen violette Flecken auf. Kurz vor dem neuen Jahr bringen die Etern sie zum Arzt. Am 7. Januar 1955 feiert Sadako ihren zwölften Geburtstag. Drei Tage später diagnostizieren Ärtze bei ihr Leukämie, Sadako bleibe weniger als ein Jahr Lebenszeit, sie muss sofort ins Krankenhaus. 

Ein Wunsch für 1000 Kraniche

Morgens, mittags, abends, dreimal am Tag muss Sadako Fieber messen. Mehrfach täglich wird die Anzahl ihrer weißen und roten Blutkörperchen bestimmt. "Ich will leben", soll sie immer wieder gesagt haben, so berichten es ihre Angehörigen später. 

Im Sommer 1955 scheint sich ihr Zustand tatsächlich zu bessern: Die Knoten schwellen ab, die Flecken am Bein verschwinden. Eine Freundin, die Sadako im Krankenhaus besuchen darf, bringt Origami-Blätter als Geschenk mit. Während sie Kraniche falten, soll die Freundin Sadako eine uralte japanische Legende erzählt haben: Wer Tausend Papierkraniche bastelt, dem erfüllten die Götter einen Wunsch. Die Vögel sind in Japan seit Jahrtausenden heilig, sie symbolisieren Glückseligkeit und Lebenskraft. 

Sadako nimmt sie beim Wort. Und faltet Kraniche: karierte, gemusterte, einfarbige, bunte Origami-Vögel. Manche groß wie Handteller, andere winzig klein, nicht größer als ein Fingerhut. Wie viele genau, lässt sich heute nicht mehr sagen. Ihr Wunsch: gesund zu werden und zu ihrer Familie zurückzukehren. 

Angehörige beteuern, Sadako habe die 1000 bereits im August 1955 geschafft – doch ihr Wunsch geht nicht in Erfüllung. Am 25. Oktober 1955 stirbt Sadako. Als Andenken werden auf ihrer Beerdigung einige der Kraniche verteilt. Sie ist einer von vermutlich mehr als 100.000 Menschen, die durch die Spätfolgen der radioaktiven Strahlen schwer erkranken oder daran sterben. 

Andenken für den Frieden

Mitschüler sammeln Spenden für ein Denkmal. Am 5. Mai 1958 wird im Friedenspark in Hiroshima eine neun Meter hohe Statue eingeweiht. Sie zeigt ein Mädchen mit ausgebreiteten Armen, das einen Kranich in den Händen hält, bereit zum Abflug. Und ist heute ein zentraler Ort des Gedenkens an die Kinder, die dem Atombombenabwurf zum Opfer fielen. 

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"Hibakusha" bedeutet auf Deutsch "von Bomben betroffene Menschen". Sadako Sasaki ist eine der bekanntesten dieser Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Ihre Lebensgeschichte wurde vielfach nacherzählt. Die US-amerikanische Kinderbuchautorin Sue Diccico schrieb Sadako Sasakis Geschichte 2020 auf ("The Complete Story of Sadako Sasaki: And the Thousand Paper Cranes"). "Ich war anfangs etwas eingeschüchtert, weil ich dachte: Ich komme aus Amerika. Und wir haben die Bombe abgeworfen", sagt die Autorin der Deutschen Welle. Doch sie wollte, dass auch Kinder, die Englisch sprechen, Sadakos Geschichte kennen. Sie biete einen guten Zugang zum Verständnis des Zweiten Weltkriegs durch die Augen einer Gleichaltrigen. 

Das Kinderfriedensdenkmal in Hiroshima
Auf dem Friedensdenkmal der Kinder in Hiroshima steht eine Statue des Mädchens Sadako Sasaki. Sie hält einen riesigen Origami-Kranich in den Händen und breitet die Arme aus, als wolle sie gleich gen Himmel schweben
© xphurineex / imago images

Sadakos Papierkraniche wurden zum Symbol für den Glauben an eine friedlichere Welt. Familie Sasaki hat sie an Schulen, Gedenkstätten, Museen, Bibliotheken und andere Institutionen auf der ganzen Welt verschenkt. Auch an das Besucherzentrum in Pearl Harbor – ein Zeichen der Versöhnung, denn mit dem Angriff auf den US-Marinestützpunkt begann vor mehr als 80 Jahren der Krieg zwischen Japan und den USA.