Ob gegen Zahnschmerzen, Schnupfen oder Magenverstimmung: Kokain war Ende des 19. Jahrhunderts in Europa das Mittelchen für alle Fälle. Verarbeitet in Pralinen, Bonbons und Limonaden putschte die Droge zudem ordentlich auf.
Während in Südamerika, der Heimat der Kokapflanze Erythroxylum coca, die Menschen bereits seit mehreren Tausend Jahren um deren berauschende Wirkung wissen, wurde das Mittel hierzulande erst ab 1860 massentauglich – als Kokain, dem Extrakt der Kokablätter.
400 Jahre alte Rückstände der Kokapflanze
Nun zeigt eine neue Studie jedoch, dass die Kokapflanze auch in Europa Jahrhunderte zuvor verbreitet war – und genutzt wurde. Forschende um den italienischen Biologen Gaia Giordano von der Universität Mailand haben den bislang ältesten Kokapflanzen-Konsum in Europa datiert, auf das frühe 17. Jahrhundert.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten mumifiziertes Gehirngewebe mehrerer Personen aus einer Krypta in Mailand, in der verstorbene Patienten des Krankenhauses Ospedale Maggiore bestattet wurden. Bei der Analyse konnten die Forschenden in zwei Gehirnen rund 400 Jahre alte Rückstände der Kokapflanze nachweisen. Offenbar kauten Personen in Mailand Kokablätter, schreiben Gaia Giordano und sein Team in dem Fachblatt "Journal of Archaeological Science".
Haben Ärzte in Mailand ihren Patienten die Blätter als Medizin verordnet? Was wussten sie über deren Wirkung? Und wie verbreitet war die Kokapflanze damals in Europa?
Fest steht: Bereits 1499 beobachtete der florentinische Seefahrer Amerigo Vespucci während einer Reise an der Küste des heutigen Venezuelas, wie Indigene Kokablätter zusammen mit gerösteten Muscheln verspeisten. Zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert schafften Händler, Missionare, Konquistadoren und Wissenschaftler zahlreiche exotische Pflanzen von der "Neuen Welt" nach Europa. Zentrum des Botanik-Geschäfts war ausgerechnet Mailand, damals unter spanischer Vorherrschaft.
Gerade der Transport der Erythroxylum coca galt als besonders schwierig, ging die empfindliche Pflanze doch bereits häufig während der Überfahrt ein. Wohl auch deshalb taucht der Kokastrauch in keinen schriftlichen Quellen in Europa auf.

Dennoch müssen es Exemplare unbeschadet in die "Alte Welt" geschafft haben, wie nun die Studie aus Mailand zeigt. Den Forschenden zufolge beweise ihre Analyse den erfolgreichen Import von Erythroxylum coca auf den Kontinent. Allerdings: "Die Pflanze war nicht in der Krankenhausapotheke aufgeführt", heißt es in der Studie. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass die beiden positiv getesteten Personen die Coca-Blätter entweder als Selbstmedikation kauten – oder dass außerhalb der Klinik praktizierende Heiler ihnen die Blätter verabreichten.
Ein exquisites Rauschmittel waren die importierten Kokapflanzen jedenfalls nicht: Das Ospedale Maggiore war ein Armenspital. Gaia Giordano und sein Team schließen aus dem Befund, dass die "Wirkung der Pflanze, einschließlich der Reduzierung von Hunger und Durst sowie ihr Einfluss auf das Wohlbefinden, den Spaniern bekannt war und anschließend im übrigen Europa verbreitet wurde." Als Nächstes solle untersucht werden, ob die Kokablätter in Europa vor allem als Heilmittel in Umlauf waren – oder ob sie schlicht als Rauschmittel im Alltag eingesetzt wurden.