Sagenumwobener Räuber Der "Schinderhannes": Die wahre Geschichte hinter dem Mythos

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  • von Christina Schneider
Ölgemälde des "Schinderhannes", Johannes Bückler, in schwarzer Kleidung
Johannes Bückler, genannt "Schinderhannes", trieb vor über 220 Jahren als Räuberhauptmann sein Unwesen zwischen Mosel und Rhein. Er stahl, raubte Kutschen aus, überfiel Häuser. Sein Geburtshaus steht im heutigen Miehlen
© Stadtarchiv Mainz
Um 1800 trieb ein tolldreister Räuberhauptmann westlich des Rheins sein Unwesen: Der "Schinderhannes", so sein Spitzname, wurde vom Volk wie ein Held verehrt. Doch besonders edel war er nicht

Staudernheim, in einer Septembernacht des Jahres 1801. Flackerndes Licht tanzt über die Fassaden der Hauptstraße. Vier Männer mit Fackeln marschieren durch das Dorf im Hunsrück zum Haus der jüdischen Krämerfamilie Löw. Dort wuchten sie einen Baumstamm hoch - und rammen die Haustür ein. Eine der Gestalten bleibt als Wache zurück, die anderen stürmen in das Gebäude, mit Messern zwischen den Zähnen.

Sie raffen Schmuck und silbernes Geschirr zusammen und zwingen die Löws, ihr Geld herauszugeben. Niemand im Haus wagt Widerstand. Ohnmächtig sieht die Händlerfamilie mit an, wie ihre Habe in die Hände eines der berüchtigtsten deutschen Räuber fällt: Johannes Bückler, genannt "Schinderhannes".

Schinderhannes raubte und stahl – auch am hellichten Tag

Ein Mann, der stiehlt und Menschen mordet und das Gesetz nicht fürchtet - weil in den Dörfern zwischen Mosel und Rhein scheinbar kein Gesetz gilt. Seit neun Jahren führen Europas Monarchen Krieg gegen Frankreich. Ihre Armeen wälzen sich ab 1792 durch die deutschen Lande über den Rhein. Vergebens: Bis 1795 besetzen französische Truppen das Gebiet links des Rheins, den Hunsrück, Trier, Aachen und Koblenz.

Brauner Hut mit breiter Krempe, zwei Federn und zwei Quasten, der Schinderhannes zugeschrieben wird
Schinderhannes kleidete sich gern modisch. Angeblich gehörte der Hut aus grünem Wollfilz mit Baumwollfutter und Kordeln bis zu seiner Hinrichtung zu seiner Garderobe 
© Hunsrück-Museum

Den Heeren folgt bitteres Elend. Die Menschen müssen die durchziehenden Truppen versorgen und werden von Soldaten ausgeplündert. Vielen bleibt nur, sich mit Diebstählen durchzuschlagen. Vagabunden zwingen Bauern mit vorgehaltener Waffe zu "Almosen", andere plündern Marktstände aus.

Verfolgung müssen Diebe kaum befürchten, denn die öffentliche Ordnung ist nahezu vollständig zusammengebrochen: Die Franzosen haben in den zu neuen Departements erklärten Gebieten noch keinen wirkungsvollen Polizeiapparat aufgebaut, und die Revolutionskriege toben weiter. Immer mehr Räuber schließen sich zusammen. Wie viele Banden um 1800 rauben und morden, weiß niemand genau. Es mögen Dutzende sein. Vor allem im dicht bewaldeten Hunsrück müssen Fuhrleute, Reisende, Händler, selbst Mägde und Knechte Überfälle fürchten.

August von Kotzebue

Verbrechen der Vergangenheit Mord für die deutsche Nation: Das Attentat auf August von Kotzebue

In der Ära der französischen Besatzung erwächst vor allem an den Universitäten Deutschlands ein neues nationales Bewusstsein. In Burschenschaften organisierte Studenten streiten für die deutsche Einheit und für freie Parlamente – und gegen Adel, Feudalherren und konservative Denker. Um ein Fanal zu setzen, greift ein Student schließlich zum Dolch: Im Frühjahr 1819 sticht Carl Ludwig Sand den verhassten Dichter und Staatsrat August von Kotzebue in dessen Haus in Mannheim nieder.

Johannes Bückler, vermutlich um 1777 im Taunus geboren, bessert schon als junger Knecht eines Abdeckers - eines "Schinders", wie die Menschen sagen - seinen Lohn mit Diebstählen auf. Wohl als 19-Jähriger raubt er im Hunsrück mehrere Hammel und wird erstmals verhaftet. Doch Bückler entkommt: Viele Gefängnisse sind marode und schlecht bewacht; Häftlinge durchtrennen morsche Bretter mit eingeschmuggelten Messern und bestechen die Wärter. Die Behörden suchen ihn nun per Steckbrief. Er schließt sich entflohenen Sträflingen, Bettlern und ehemaligen Soldaten an, die in Scharen durch die Wälder und über die Landstraßen der deutschen Kriegsgebiete am Rhein ziehen.

Wer sich vor der Obrigkeit versteckt, kommt in abgelegenen Höfen oder Mühlen unter, deren Pächter sich als Hehler gestohlener Waren etwas dazuverdienen. Die Ganoven tauschen Informationen aus, werben Komplizen, planen Überfälle.

Das "edle Herz" des Schinderhannes war nur eine Mär

Mit solchen Weggefährten stiehlt "Schinderhannes", wie er seit seiner Jugend genannt wird, Pferde aus entlegenen Bauernhöfen. 1799 geht er den Gendarmen erneut ins Netz, entkommt aber aus dem Gefängnisturm von Simmern: Seine Flucht mit einem aus Stroh gedrehten Seil ist so spektakulär, dass die Gauner der Gegend ihn fortan als Helden verehren und häufig zu ihrem Anführer bestimmen.

Bückler wird tollkühner, lauert Händlern nach Markttagen auf und greift schließlich fahrende Kutschen am hellen Tag an.

Dabei arbeitet er, anders als die meisten Räuber, geradezu versessen an seinem Ruf: Bei Überfällen trennt er manchmal Händler in Juden und Christen - und lässt den Getauften ihren Besitz. Denn nur gegen die Juden führe er Krieg, verbreitet er; Arme und christliche Bauern hätten nichts zu befürchten. Eine Mär: Tatsächlich ergreift Bückler fast jede Gelegenheit, um Beute zu machen.

Eine alte metallene Flinte mit hölzernem Schaft
Bei seinen Raubzügen schreckte der Schinderhannes auch vor Mord nicht zurück. Zu seinen Waffen gehörte diese knapp einen Meter lange Flinte, das so genannte "Schinderhannesgewehr"
© Hunsrück-Museum

Im Volk kursieren bald fantastische Geschichten über einen schillernden Räuberhauptmann mit edlem Herzen. Bückler kleidet sich stets nach der neuesten Mode, gibt sich Frauen gegenüber als Charmeur und unterzeichnet Erpresserbriefe an Bauern und Müller mit "Johannes durch den Wald" - wohl, weil es geheimnisvoller klingt.

Bei Schinderhannes wuchs die Angst vor Entdeckung

Einem jungen Mädchen, heißt es, habe er durch den Wald geholfen, weil es Angst vor Räubern gehabt habe, und sich erst am Ende des Weges zu erkennen gegeben. Ab 1800 überfallen Schinderhannes und seine Kumpane immer häufiger auch Wohnhäuser. Wer sich wehrt, wird übel misshandelt oder gar getötet; ein Opfer stirbt qualvoll mit einer Ladung Schrot im Unterleib.

Die Franzosen fahnden immer dringender nach Bückler. 1801, als allmählich Frieden einkehrt am Rhein, richten sie eine neue Polizeigarde ein. Zudem befehlen sie den Bürgermeistern im Hunsrück und in der nördlichen Pfalz, Bürgerwehren aufzustellen: Der Kampf gegen das Räuberwesen beginnt.

Porträt der "Schinderhannes"-Geliebten Juliana Blasius, die ein Baby stillt
Als "letzte Räuberbraut" des Schinderhannes wurde Juliana Blasius bekannt. Wohl ab 1800 zog sie mit dem ihm und seiner Bande umher, gebar dem Hauptmann zwei Kinder. Sie überlebte ihren Geliebten um fast 50 Jahre
© Stadtarchiv Mainz

Tatsächlich sind viele Menschen der ständigen Angst vor Überfällen überdrüssig. Wie die Bürger von Staudernheim, wo Johannes Bückler im Spätsommer 1801 das Haus der Händlerfamilie Löw überfällt. Der Lärm, den Bückler und seine Gehilfen machen, reißt den Bürgermeister des Dorfes aus dem Schlaf. Er leiht sich die Flinte eines benachbarten Jägers, läuft mit einigen Männern zum Tatort und feuert auf den Wachposten der Räuber. Schinderhannes springt mit seinen Kumpanen über die Gartenmauer und flieht in die Dunkelheit. Zum ersten Mal scheitert ein Überfall des berüchtigten Räubers an der massiven Gegenwehr der Bevölkerung.

Bald muss Bückler weitere geplante Raubzüge aufgeben, denn die Gefahr, erwischt zu werden, nimmt zu. Im Dezember 1801 richtet der französische Regierungskommissar eine geheime Arbeitsgruppe ein. Ihr Ziel: die "Ausrottung der Räuber". Mit Hilfe von Spitzeln, die als Deserteure verkleidet sind, sowie den Aussagen verhafteter Ganoven heben die Mitarbeiter etliche Räubernester aus. Zudem gehen immer mehr anonyme Hinweise auf untergetauchte Verbrecher ein.

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Bückler schickt noch einmal Bauern und Müllern Erpresserbriefe: Wer nicht zahlt, dessen Anwesen werde in Flammen aufgehen. Tatsächlich aber ist die Zeit der Banden in Deutschland vorbei, werden spektakuläre Überfälle zur Seltenheit. Auch bei dem einst furchtlosen Räuberhelden Bückler wächst die Angst.

Häufig setzt er sich über den Rhein in die deutschen Lande ab, wohl in dem Glauben, dort nicht gefasst zu werden. Ein Irrtum. Am 31. Mai 1802 wird Schinderhannes auf einem Feldweg im Taunus von einer Polizeistreife angehalten.

Schinderhannes machte seine Hinrichtung zum Schauspiel

Weil er sich nicht ausweisen kann, nimmt ihn der Amtmann fest. Erst eine Woche nach der Gefangennahme wird klar, dass die Polizei einen der meistgesuchten Verbrecher verhaftet hat. Am 16. Juni liefern die deutschen Behörden Bückler an die Franzosen aus. Ein Gericht verurteilt ihn wegen der Beteiligung an mehr als 50 Vergehen - darunter drei Morde, 20 Raubüberfälle und 30 Diebstähle - zum Tode.

Der Körper des Schinderhannes auf der Guillotine, der Henker hält seinen abgetrennten Kopf hoch
Im November 1803 endete das Leben des Schinderhannes mit nicht einmal 25 Jahren in Mainz unter der Guillotine. Mit ihm starben 19 Komplizen
© Stadtarchiv Mainz

Mainz, 21. November 1803. Auf dem Hinrichtungsplatz oberhalb der Stadt leuchtet eine rote Guillotine, umstellt von 300 Soldaten. Seit Stunden warten Zehntausende Schaulustige auf die Verurteilten: Bückler und 19 Komplizen. Flugblätter erzählen die Geschichte vom edlen Räuber Schinderhannes; nicht wenige Zuschauer sehen in ihm einen Volkshelden.

Endlich kündigen dumpfe Trommelschläge die fünf Leiterwagen mit den Verurteilten an. Auf dem ersten sitzt Schinderhannes, mit einem roten Hemd bekleidet - dem Zeichen des Mörders. Er wirkt gelassen, als er auf die Guillotine steigt. "Ich sterbe gerecht, aber zehn von meinen Kameraden verlieren das Leben unschuldig. Das ist mein letztes Wort", ruft er der Menge zu. Dann verbeugt er sich. 

Wie ein Schauspieler, dessen Stück beendet ist.

Erschienen in GEO Epoche Nr. 37/2009 "Die deutsche Romantik"