Am 20. Juli 802 stampft ein Wesen durch die Straßen von Aachen, wie es die Menschen hier allenfalls aus abenteuerlichen Sagen kennen. Größer ist es als jedes andere Tier, das die Einwohnerinnen und Einwohner bislang gesehen haben. Es hat einen riesigen Schädel mit großen faltigen Ohren, zudem einen Rüssel, aus dem merkwürdige Laute ertönen: ein Elefant. Vorbei an hölzernen Wohnhäusern, Schmieden, Viehställen, Speichern und Werkstätten zieht er zur Lieblingspfalz Karls des Großen.
Viele Reisende hat der eineinhalb Jahre zuvor zum Kaiser gekrönte Frankenherrscher bereits empfangen, wohl keine allerdings mit einer so weiten Anreise. 5000 Kilometer liegen hinter dem Dickhäuter Abul Abbas, den Karl an jenem Sommertag als Geschenk aus dem Morgenland erhält. Seine Begleiter haben das Tier, das jeden Tag 200 Kilogramm Gräser, Blätter und Wurzeln verschlingt sowie 100 Liter Wasser trinkt, durch Täler geführt, entlang von Küstenlinien gelenkt, über das Mittelmeer transportiert und gar die Alpen mit ihm überwunden.
Keine Quelle berichtet davon, wie die Begegnung zwischen Kaiser und Elefant ausfällt. Sicher ist: Das Tier wird bleiben – und es hat eine Mission. Abul Abbas soll die Bande zwischen dem mächtigsten Reich des Abendlandes und jenem der muslimischen Welt, dem Abbasiden-Kalifat, stärken. Eine Freundschaft, die einst Karls Vater angebahnt hat.
Ein diplomatisches Geschenk
Pippin, der erste Karolinger auf dem Frankenthron, setzt auch auf die Kraft der Diplomatie, um die Position seiner Dynastie zu sichern. Denn wer Respekt und Anerkennung durch andere mächtige Herrscher erfährt, wer mit ihnen Geschenke tauscht und so Schätze aus der ganzen Welt vereint, der muss in den Augen der jeweiligen Untertanen wahrhaft königlich sein.
Im Jahr 764 entsendet der König Botschafter zum Kalifen al-Mansur nach Bagdad. Der muslimische Herrscher gebietet über das gewaltige Reich der Abbasiden, eine gleichfalls junge Dynastie, deren Einfluss von Nordafrika bis zum Indus reicht, und revanchiert sich beim Frankenkönig mit kostbaren Geschenken.
Gut 30 Jahre später bringt Pippins Sohn Karl gleichfalls eine Delegation auf den Weg gen Osten. Im Abbasidenreich sitzt mit Harun ar-Raschid inzwischen ein Regent auf dem Thron, der sich seinen Platz mühsam gegen Widersacher erkämpft hat, seither von der Unterstützung durch einflussreiche Militärs abhängig ist und sich immer wieder mit Rebellionen herumschlagen muss. Karls Delegation empfängt er daher wohl nur allzu gern, vermutlich an seinem Hof in Raqqa, knapp 600 Kilometer nordwestlich von Bagdad im heutigen Syrien, das er kurze Zeit zuvor zu seiner neuen Hauptstadt gemacht hat. Und er scheut keine Mühe, die Gunst des aufstrebenden Karolingers durch eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit zu erwidern: einen indischen Elefanten.
Wie Harun ar-Raschid an das Rüsseltier gelangt, ist unbekannt. Vielleicht kam es einst als diplomatisches Geschenk mit Gewürzen, Edelsteinen und anderen Handelsgütern per Schiff aus Indien ins Kalifat. Fest steht: In freier Wildbahn leben in seinem Reich keine Elefanten, am Hof des Kalifen sind die Tiere höchst außergewöhnliche Erscheinungen. Vielleicht auch deshalb trägt das für Karl den Großen vorgesehene Exemplar einen klangvollen Namen: Abul Abbas – vermutlich nach Abu l-Abbas as-Saffah, dem Begründer der Abbasidendynastie.

Wohl im Jahr 800 geht es für den Elefanten auf eine noch viel längere Reise als jene, die ihn einst aus seiner indischen Heimat geführt hat. Denn Karls Delegation leitet Abul Abbas nicht etwa auf kürzestem Weg – über Kleinasien – in Richtung Frankenreich: Weil sich die Abbasiden immer wieder im Krieg mit Ostrom befinden, muss das Tier zunächst gen Mittelmeer laufen, folgt dann der Küstenlinie vorbei an Alexandria weiter gen Westen, stets im Einflussgebiet des Kalifen, bis es vermutlich Tunis erreicht. Spezialisten, die das Tier führen, füttern und pflegen, begleiten den Tross.
Für das Rüsseltier muss ein Schiff angefertigt werden
Karl, inzwischen zum Kaiser gekrönt, hat vier Jahre nichts von der Delegation gehört, als ihn im Juni 801 während eines Aufenthaltes in Norditalien eine Nachricht erreicht: In Pisa, so berichten ihm Boten, seien Abgesandte von Harun ar-Raschid eingetroffen. Umgehend reist der Kaiser den Ankömmlingen entgegen und erfährt, dass seine fränkischen Gesandten inzwischen ums Leben gekommen sind, ihr Begleiter aber sei mit Helfern und großen Geschenken auf der Rückreise aus dem Kalifat – darunter ein Elefant. Karl lässt daraufhin eine Flotte rüsten, um die gewaltige Gabe von Afrika über das Mittelmeer an die ligurische Küste zu holen und von dort weiter bis in seine Pfalz in Aachen zu transportieren.
Für das Rüsseltier muss eigens ein Schiff angefertigt werden, das auch dann nicht kentert, wenn sich ein bis zu 6,5 Tonnen schweres Tier darauf bewegt. Im Herbst des Jahres läuft es samt dem Elefanten in Porto Venere ein. Sogleich nach Aachen kann die Gruppe jedoch nicht ziehen: Die Alpen sind mit Schnee bedeckt, Abul Abbas überwintert in Norditalien.

Erst im Frühsommer 802 überschreitet der Trupp die Berge, rund 1000 Jahre nachdem der legendäre karthagische Feldherr Hannibal mit seinen Elefanten die Alpen in umgekehrter Richtung passiert hatte und in Italien eingefallen war.
Am 20. Juli 802 schließlich erscheint Abul Abbas in Aachen, wo Karl in diesen Jahren die prächtigste Pfalz des Frankenreiches errichtet: eine herrschaftliche Anlage mit der monumentalen Königshalle und der 30 Meter gen Himmel ragenden Marienkirche. Karl ist höchst angetan von dem Präsent aus dem Morgenland, wohl die Krönung seiner Sammlung an aufsehenerregenden Geschenken. (Einer einzelnen Quelle zufolge hat er den Elefanten sogar beim Kalifen bestellt.) Er revanchiert sich beim fernen Herrscher unter anderem mit einer Sendung besonders schneller und furchtloser Hunde für die Löwen- und Tigerjagd. Im Gegenzug erhält er weitere kostbare Präsente aus dem Abbasidenreich, darunter eine Wasseruhr und ein großes, farbenprächtiges Zelt aus Leinen als Symbol der Macht – und antwortet wiederum mit Gold und einem kostbaren Mantel.
Abul Abbas verbringt seine Zeit derweil wohl zumeist in Tiergehegen, in denen sich etwa auch Pfauen tummeln, streift vielleicht durch die Obstgärten der Residenz. Und immer wieder wird er womöglich auf kürzere Reisen gehen, mit dem Frankenherrscher von Quartier zu Quartier ziehen, Eindruck schinden bei den Untertanen und Gegner auf Feldzügen in Angst und Schrecken versetzen.
Abul Abbas stirbt und bleibt unvergessen
Im Jahr 810 begleitet Abul Abbas den Kaiser auf einer Kampagne gegen Dänen, die in Friesland eingefallen sind. Karl will den Nordmännern auch mithilfe seines Elefanten Einhalt gebieten. Doch auf dem Weg stirbt Abul Abbas bei einem Ort namens Lippeham am östlichen Rheinufer, mehrere Tagesreisen von Aachen entfernt – "plötzlich", wie es in einer fränkischen Quelle heißt. Hat er das kühlere Klima im Frankenreich, in dem er acht Jahre seines Lebens verbrachte, nicht vertragen? Litt er an einer Lungenentzündung? Oder war er unzureichend gepflegt worden? Möglich. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Elefant einer Rinderseuche zum Opfer fällt, die in jenem Jahr durch das Frankenreich fegt.
Die sakralen Spuren der Franken
geo_epoche
Die sakralen Spuren der Franken
geo_epocheAuf jeden Fall bleibt Abul Abbas unvergessen. Chronisten halten die Erinnerung an das wundersame Tier aus dem Orient wach, das die Menschen noch Jahrhunderte später fasziniert. Um 1746 nimmt der westfälische Gelehrte Hermann Jodokus Nünning in seine Altertumssammlung einen Knochen auf, der auf einem Acker am Rheinufer zum Vorschein gekommen war – dort, wo sich womöglich einst der Königshof Lippeham befand. Nünning klassifiziert den 70 Zentimeter langen Knochen sogleich als Überrest des kaiserlichen Elefanten.
Im Jahr 1750 ziehen Fischer drei weitere, heute gleichfalls verschollene Skelettteile aus der Lippe, darunter angeblich ein Schienbein. Auch diese schreiben Zeitgenossen Karls Dickhäuter zu – getrieben wohl von der Sehnsucht, Spuren des legendären Elefanten zu finden.