Dass Schlaf die Konzentration fördert, ist bekannt. Vor einer wichtigen Prüfung oder einem Vortrag solle man gut schlafen, lautet ein häufiger Rat. Und fast jeder hat schon einmal erlebt, dass sich der Kopf nach einer durchwachten Nacht matschig anfühlte. 27 Stunden ohne Schlummer beeinträchtigen die kognitive Leistung sogar stärker als 0,85 Promille Alkohol im Blut. Aber warum ist das eigentlich so?
Forschende des Massachusetts Institute of Technology haben näher untersucht, was im übernächtigten Gehirn passiert. Im Wesentlichen das Gleiche wie im Schlaf, stellten sie überrascht fest: Aufräumarbeiten.
Unser Gehirn hole offenbar tagsüber nach, was es nachts verpasst hat, ob wir wollen oder nicht. Die Details dieses erstaunlichen Prozesses berichten sie im Fachmagzin "Nature Neuroscience".
Das "Abwassersystem" des Gehirns spült nachts Abfälle weg
Normalerweise finden die Putzarbeiten in der Nacht statt. Als Hochleistungsorgan erzeugt unser Gehirn tagsüber Unmengen an Abfallstoffen. Diese sind nicht ohne Weiteres abzutransportieren, während das Denkorgan voll in Betrieb ist. Deshalb entsorgt es Abfälle in mehreren gründlichen Spüldurchgängen, während wir schlafen.
Hierfür hat das Gehirn eigens eine Art Abwassersystem entwickelt, das erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde: das glymphatische System. Es besteht aus kleinsten Kanälen, die mit Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor) gefüllt sind und unser Denkorgan durchziehen. Steht eine Reinigung an, verengen und weiten sich die Gefäße im Gehirn pulsartig. Dabei pumpen sie alte Flüssigkeit heraus und neue, saubere Flüssigkeit hinein.
Bei Übernächtigten findet das Großreinemachen tagsüber statt
Man kann sich den Vorgang in etwa wie bei einer selbstreinigenden Toilette vorstellen: Ist sie gerade nicht in Benutzung, wird einfach alles einmal komplett durchgespült. Freilich funktioniert diese Art des Großreinemachens nicht im laufenden Betrieb. Deshalb findet das Durchspülen hauptsächlich in jener Zeit statt, in der unser Gehirn am wenigsten aktiv ist, im Tiefschlaf. So dachte man jedenfalls bis jetzt.
Die Studie offenbart nun, dass das Gehirn tagsüber nicht einfach auf dem Abfall sitzen bleibt, wenn wir den Tiefschlaf ausgelassen haben. Das konnten die Forschenden anhand von 26 Freiwilligen beobachten. Jeder wurde zwei Mal gründlich untersucht: Einmal nach einer erholsamen Nacht und einmal nach einer durchwachten Nacht. Mit einem MRT-Scanner wurde der Liquorfluss gemessen, ein EEG-Gerät zeichnete Hirnströme auf. Tests sowie ein Pupillenmessgerät maßen Aufmerksamkeit und Augenbewegungen.
Das Ergebnis: Waren die Probanden übernächtigt, schnitten sie in den Aufmerksamkeitstests wie erwartet katastrophal ab. Interessant war jedoch, dass immer dann, wenn ihre Aufmerksamkeit wegsackte, eine im MRT messbare Liquorwelle aus dem Gehirn herausströmte. Wenn die Aufmerksamkeit zurückkehrte, floss frischer Liquor in das Gehirn nach.
Das Gehirn rutscht in einen schlafartigen Zustand
Für die Forschenden heißt das: Glasige Augen und leerer Blick sehen nicht nur so aus, als würden die übernächtigten Probanden mit offenen Augen dösen; ihr Gehirn gleitet tatsächlich für wenige Augenblicke in einen schlafartigen Zustand, in dem es kurz sein Selbstreinigungsprogramm anwirft.
Auch im restlichen Körper waren Veränderungen messbar: Etwa zwölf Sekunden, bevor die Liquor-Welle durch das Gehirn rauschte, verlangsamten sich Atmung und Herzschlag. Die Pupillen schrumpften vorübergehend. Dass der Sekundenschlaf so koordiniert ablief, erstaunte die Forschenden. Sie nehmen an, dass er von einer einzigen Kontrollinstanz im Gehirn gesteuert wird.
Wo genau die sich befindet, konnten sie nicht mit Sicherheit ermitteln. Sie vermuten, dass das noradrenerge System, ein Netzwerk von Nervenbahnen, ein potenzieller Kandidat ist. Dieses nutzt einen chemischen Botenstoff namens Noradrenalin, um wichtige Funktionen wie Konzentration, Wachsamkeit, Herzfrequenz und Flüssigkeitsfluss zu steuern.
Jonglieren zwischen Saubermachen und Aufmerksamkeit
Zusammengenommen legen die Ergebnisse nahe, dass das Gehirn den Schlaf so dringend benötigt, dass es verzweifelt versucht, immer wieder in einen schlafähnlichen Zustand zu gelangen, sagt Zinong Yang, Hauptautor der Studie in einer Pressemitteilung. "Das Flüssigkeitssystem unseres Denkorgans versucht, die Funktion wiederherzustellen, indem es das Gehirn dazu bringt, zwischen Zuständen hoher Aufmerksamkeit und hohem Durchfluss zu wechseln."
Dass ist natürlich nicht besonders effizient und mit Risiken verbunden. Man denke nur an den Sekundenschlaf im Auto. Aber offensichtlich ist die Reinigung so überlebenswichtig, dass sie auch im Wachzustand erzwungen wird.
Wenn man bedenkt, dass unter den zu entsorgenden Abfallstoffen auch β-Amyloid-Moleküle sind, die im Verdacht stehen Alzheimer zu begünstigen, ist das nicht überraschend. Umgekehrt weisen Studien darauf hin, dass das glymphatische System bei neurodegenerativen Erkrankungen geschwächt ist.
Wer keine Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen hat, tut also gut daran, seinem Denkorgan die Notputzaktion zu ersparen – und ihm nachts ausreichend Ruhe zu gönnen.