Anzeige
Anzeige

Psychologe Michael Thiel Hitze, Regen: Darum beschweren wir uns ständig über das Wetter

Ein Mann steht im Regen und schaut kritisch unter seinem Regencape
Hitze? Blöd. Regen? Blöd. Dass wir Deutschen ständig über das Wetter jammern, liegt auch an unserer Geschichte.
© Jaromír Chalabala / mauritius images
Im Juli war es die Hitze, jetzt jammern alle über den Regen. Das "schlechte" Wetter ist bei uns Deutschen ständig Thema. Indem wir über den Dauerregen klagen, beschweren wir uns eigentlich über etwas anderes, sagt der Psychologe Michael Thiel. Doch Jammern hat auch etwas Gutes, und kann sogar unser Leben verändern – wenn man es nicht übertreibt

GEO: Herr Thiel, in Hamburg schüttet es seit Tagen wie aus Kübeln. Schrecklich. Sie sind heute in München – wie ist es dort?

Michael Thiel: Die Sonne scheint. Aber heute Morgen war es hier auch sehr trist.

Mal ist es uns zu heiß, dann regnet es wieder zu viel. So richtig passen will uns Deutschen das Wetter nie. Warum beschweren wir uns ständig darüber?

Indem wir uns gemeinsam über das Wetter beschweren, bauen wir Stress und Druck ab.

Bauen wir nicht eher Stress auf? Weil wir das Thema Hitze oder Regen größer machen, als es ist?

Wenn ich mit einem Freund über das schlechte Wetter rede, fühle ich mich gleich von ihm verstanden. Denn er hat ja dasselbe Problem wie ich. Gemeinsam zu jammern gibt einem ein gutes Gefühl. Denn ich bin nicht allein mit dem Problem, ich kann es teilen. Wir erfahren also einen Solidaritätseffekt.

Das erklärt, warum wir so viel über Probleme sprechen, wenn wir uns mit Freunden treffen. Sonst wäre das Gespräch auch schnell vorbei. Wie läuft es bei dir? Sehr gut, und bei dir? Passt auch alles.

Genau.

Mal wieder schlechtes Wetter: "Gemeinsam zu jammern gibt einem ein gutes Gefühl"

Aber heutzutage ist Regenwetter für uns in Deutschland – von Naturkatastrophen wie im Ahrtal abgesehen – doch kein echtes Problem. 

Für die Bauern kann das Wetter essentiell sein, noch heute. Früher gab es viel mehr Bauern in Deutschland, die über das Wetter geschimpft haben, wenn es nicht gut für die Ernte war. Für die ging es damals ums Überleben. 

Und das Jammern und Schimpfen über das Wetter wurde dann von Generation zu Generation weitergegeben?

Ja, ganz unbewusst. Außerdem ist das Schimpfen über das Wetter ein soziales Ventil. Man kann ja auch stellvertretend für andere Probleme über das Wetter schimpfen. Heutzutage gibt es auf der Welt viele Probleme, die einem Angst machen können. Der Klimawandel oder der Krieg in der Ukraine zum Beispiel. 

Darüber zu sprechen, würde die Leute wahrscheinlich zu sehr stressen. Hinzu kommt, dass man mit Freunden vielleicht politisch nicht einer Meinung ist. Aber über das Wetter schimpfen kann man mit jedem. Das geht immer.

Genau, das ist Druckabbau für uns und hat von daher sogar einen Nutzen. Generell teilen wir gerne unsere Emotionen mit anderen. 

Warum konzentrieren wir uns dabei so oft auf Probleme?

Negatives wird von unserem Gehirn als viel wichtiger bewertet als Positives. Das hat evolutionsbiologische Gründe. Wenn der Neandertaler nach Gefahren Ausschau hielt und sich später eher an negative Erlebnisse erinnerte um daraus zu lernen, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass er länger lebte.

Hitze, Regen, Stress: Darum jammern wir Deutschen so viel

Wir Deutschen sind bekannt dafür, dass wir uns besonders viel beklagen. Bei dem ganzen Jammern über den Regen könnte man fast meinen, wir hätten das schlechteste Wetter. Dabei haben wir mehr Sonnenstunden als Finnland. Und dort leben laut Glücksatlas gerade die glücklichsten Menschen der Welt. Warum sind wir häufig so negativ?

Es stimmt. Menschen in einigen Ländern, denen es wirtschaftlich sogar schlechter geht als uns, haben eine Leichtigkeit, durchs Leben zu gehen. Wir Deutschen haben immer eine gewisse Schwermut. Dass wir so negativ sind, liegt an unserer Geschichte. Wir waren lange Spielball der Mächte. Fürsten und Könige haben uns gesagt, was wir zu tun und zu lassen haben, wir waren abhängig von anderen. Wenn der König wieder höhere Steuern haben wollte, wurde natürlich gejammert.

Später, nach den Verheerungen des zweiten Weltkriegs, den wir ja gestartet haben, war das Selbstwertgefühl der Deutschen lange Zeit ganz unten, auch zurecht. Erst bei der Fußball-WM 2006 wurden wieder Fahnen geschwungen. Auch dadurch wurde der Sommer so besonders. Wir durften endlich wieder stolz auf unser Land sein.   

Trotzdem machen wir uns viele Sorgen.

Ja. Es gibt den Begriff “German Angst”, welcher im Englischen gebraucht wird. Wir Deutschen sind also wortwörtlich dafür bekannt, dass wir ständig Angst haben und uns Sorgen machen. Darüber, unser Geld zu verlieren, vor Krankheiten, und so weiter. Deswegen jammern wir so viel. Stewardessen von British Airways wurden mal gefragt, welche Passagiere sich am meisten beschweren. Das waren die Deutschen.

Man jammert also mehr, wenn man sich hilflos fühlt…

Natürlich. Machtlosigkeit gibt uns ein ganz schlechtes Gefühl. Aber Jammern kann auch der erste Schritt für eine Veränderung sein.

Durch Jammern kann sich das Leben verändern

Jammern kann positive Veränderungen anstoßen?

Durchaus. Neben dem Spannungsabbau kann Jammerei ein Zeichen sein, dass man in seinem Leben etwas ändern muss. Weil man mit der Situation unzufrieden ist. Durch eine Veränderung der Situation würde man auch aus der Machtlosigkeit herausfinden. Weil man aktiv nach Lösungen sucht und diese umsetzt. Wenn man hingegen nicht aus dem Jammertal herausfindet, kann das sehr schädlich für die Psyche sein – und auch zu Depressionen führen. Dann braucht man professionelle Hilfe von Psychologen.

Man muss auch aufpassen, dass man sich nicht von der Jammerei von Freunden und Bekannten runterziehen lässt. Negativität kann auch abfärben. Außerdem kostet das Energie. Etwas Schönes und Positives zu erleben, baut hingegen die Psyche auf.

Manchmal haben Freunde aber auch einfach eine schlechte Phase. Die kann man ja nicht gleich abservieren. 

Nein, natürlich nicht. Da hört man sich erstmal die Probleme an. Aber dann kann man sagen: Was gibt es für Lösungsmöglichkeiten, damit du keinen Grund mehr hast, um zu jammern? Und wie kann ich dir konkret dabei helfen, damit sich deine Situation verbessert?

Und wer selber gerne jammert und sich jetzt ertappt fühlt – wie findet man aus dem Jammertal heraus und sieht wieder positiv? 

Als ersten Schritt muss man identifizieren, was hinter der Jammerei steckt. Um welche Probleme geht es? Als zweiten Schritt kann man sich fragen: Was müsste passieren, damit ich keinen Grund mehr zum Jammern habe? Was müsste sich an der Situation ändern? Was müsste ich an mir selbst ändern – oder was fehlt mir bei meinem Partner? Wie sollte das Leben aussehen, damit ich mich nicht mehr darüber beschweren muss? Im dritten Schritt geht es um die konkrete Planung. Wie kann ich die Änderung jetzt herbeiführen? Zum Beispiel, indem ich den Job oder den Partner wechsle. Vielleicht muss ich aber auch an meiner Einstellung etwas ändern. Und als vierten Schritt muss ich dann in Aktion treten.

Eine Grafik von einem gut gelaunten Mann unter einem Regenschirm
Schimpfen über das Wetter baut Druck ab. Jammern kann also etwas Positives haben.
© Volodymyr Melnyk/ Alamy Stock Photos / mauritius images

Das miese Wetter ist nicht zu ändern. Also ändern Sie sich!

Damit kommt man auch wieder heraus aus der Machtlosigkeit, die uns so bedrückt, und kommt wieder selbst in die Macht. 

Genau. Es geht darum, wieder Kontrolle über das Leben zu bekommen. In den Bereichen, in denen es gerade nicht passt: Beziehung, Job, Freunde, Ausgleich und so weiter. Wer das Gefühl hat, die Kontrolle über sein Leben zu haben und es selbst so bestimmen zu können, dass es gut passt, der ist auch fröhlich. 

Alles können wir leider nicht kontrollieren. Das Wetter zum Beispiel. Da können wir nur an unserer Einstellung etwas ändern. Und uns etwa sagen: Endlich bekommen die Pflanzen nach der Hitze wieder Regen. 

Ja. Indem wir unsere Wahrnehmung zu einem Thema verändern, verändern sich auch unsere Gefühle dazu: Wir werden gelassener, leiden nicht mehr so sehr unter unserer Kontrolllosigkeit, lassen los. Gelassenheit macht letztendlich glücklich. Weil wir unsere Energie gezielt für Dinge einsetzen, die wir tatsächlich ändern und damit kontrollieren können. Also – lieber über den Lieblingstitel im Radio freuen, als über den Stau ärgern. Dann werden wir automatisch zufriedener, vielleicht sogar etwas glücklicher, und leben somit gesünder.

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel