Für viele Wissenschaftler ist Liebe nichts anderes als das Ergebnis biochemischer Prozesse. Die Forscher sezieren Lust und Begehren, manipulieren Triebe, vermessen Entwicklung, Qualität und Dauer von Partnerschaften. In ihren Laboren suchen sie Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Menschen ineinander verlieben.
Sie haben Hormone gefunden, die unsere Libido steuern. Gene, die uns treu sein lassen oder zu Seitensprüngen verleiten. Hirnschaltkreise, die unsere tiefsten Gefühle lenken. Eines aber lassen die Wissenschaftler oft außer Acht: was die Liebe für den Einzelnen bedeutet.
Die persönliche Empfindung lässt sich nicht mit Zahlen fassen, mit Formeln und Statistik greifbar machen. Wer verliebt ist, denkt nicht an Biochemie oder daran, seine Gene zu verbreiten. Die Liebe ist etwas Magisches. Sie ist unergründlich und doch so mächtig, dass sie unser ganzes Leben zu bestimmen vermag: Wir suchen einen Menschen, der uns so annimmt, wie wir sind. Wir sehnen uns nach einem Gegenüber, das uns begleitet und unterstützt. Wir wünschen uns, mit einem Partner geistig und körperlich zu verschmelzen.
Die Romanzen der Literaturgeschichte enden meist tragisch
Es ist das Verlangen nach romantischer Liebe. Ein Ideal, das tief in unserem Bewusstsein verankert ist.
Seit Jahrhunderten inspiriert es Literaten. Die Liebesgeschichten von Lancelot und Guinevere, von Héloïse und Abelard, von Romeo und Julia verbinden sexuelle Begierde und geistige Hingabe. Doch die großen Romanzen enden meist tragisch. Ihre Helden leben in einer Zeit, in der sie nicht so lieben dürfen, wie sie wollen. Sie sind Rebellen, kämpfen gegen ihre Herkunft, gegen Zwänge und Traditionen.
Ihre Liebe scheitert an der jeweiligen Kultur. Denn ihre Zeitgenossen behandeln die Liebenden wie Aussätzige, schauen ängstlich auf ihre Leidenschaft und versuchen erbarmungslos zu verhindern, dass sie zueinanderfinden. Das Glück der wahren, der romantischen Liebe ist für Menschen noch nicht sehr lange so selbstverständlich wie heute: Erst vor rund 250 Jahren breitete sich in Europa die Vorstellung aus, dass partnerschaftliche Liebe das Leben mit Sinn erfülle.
Der Weg dorthin war weit. Natürlich: Schon in der Steinzeit fanden sich Menschen zu Paaren zusammen und gründeten Familien. Aber sie gingen, wie einige Forscher vermuten, Beziehungen aus praktischen Gründen ein, nicht aus Liebe. Je mehr Mitglieder ein Clan zählte, desto mehr Arbeiter konnten für Nahrung sorgen, desto mehr Krieger gegen Feinde kämpfen. Die Familie bildete eine Überlebensversicherung.
Der alltägliche Existenzkampf forderte Kraft und Geschicklichkeit. Frauen, das körperlich etwas schwächere Geschlecht, brauchten Schutz – besonders während der Schwangerschaft. Sie gebaren Kinder, verrichteten wahrscheinlich einfache Feldarbeiten, und sie ordneten sich den Männern unter.
Im Mittelalter durfte die wahre Liebe nur Gott gelten
Spätestens ab dem 5. Jahrhundert vor Christus begannen Menschen im alten Griechenland, die Liebe zu preisen. Doch ihre Vorstellung davon hatte nichts mit leidenschaftlicher Nähe zwischen Mann und Frau zu tun. Vielmehr verstanden die Philosophen Athens eine tief empfundene Verbundenheit und Zuneigung zwischen Männern als Liebe und geisti- ges Ideal.
Meist entwickelte sich eine intime Beziehung zwischen einem erwachsenen Mann und einem Knaben. Der erfahrene Ältere wies den wissbegierigen Jüngeren in das tugendhafte Leben ein. In Edelmut, Treue und Geistesstärke. Hingebungsvolle Liebe zwischen den Geschlechtern dagegen galt als Verrücktheit. Als Besessenheit, die innere Ruhe und Harmonie zerrüttet.
Dass zwei Menschen aus Liebe heirateten, war den Griechen ebenso fremd wie all den Stammesgesellschaften in den Jahrtausenden zuvor. Ehefrauen stellten eine Last dar, ein kostspieliges Übel. Große Denker wie Platon und Aristoteles lehrten, Frauen seien minderwertig – körperlich wie geistig. Und doch waren Vermählungen unvermeidlich. Denn die Männer fühlten sich dem Staat gegenüber verpflichtet, Familien zu gründen und für Nachwuchs zu sorgen.
„Die Ehe“, schrieb der griechische Dichter Pallatas, „beschert einem Mann zwei glückliche Tage: Den, an dem er seine Braut zu Bett bringt – und den, an dem er sie zu Grabe trägt.“
Auch die Römer heirateten nicht aus Liebe. Zumindest jedoch gewann die Beziehung zwischen Mann und Frau an Bedeutung: Familien arrangierten Partnerschaften gezielt, um Bündnisse zu schließen und ihr Eigentum zu mehren.
So wurde die Ehe zu einem politischen Instrument.
Ihre sexuelle Lust befriedigten Römer wie selbstverständlich in Affären. Ehebruch galt gleichsam als Sport, um Langeweile und Überdruss zu lindern. Die Beziehung zwischen Mann und Frau war für die Römer ein Ringen um Begierde, ein Spiel aus Zuneigung und Zurückweisung, ein kurzlebiger Genuss der Sinne. Aber als das römische Imperium ab 300 n. Chr. zu zerfallen begann, wandelte sich das Bild der Liebe radikal. Der christliche Glaube breitete sich in Europa aus. Und mit ihm die Vorstellung, Liebe könne einzig Gott gelten. Irdische Freuden verachteten Gläubige dagegen als diabolische Laster.
Erotische Intimität und körperliche Leidenschaft befleckten ihrer Ansicht nach den Geist und gefährdeten die Beziehung zu Gott. Liebe und Sex widersprachen einander – das eine war himmlische Gnade, das andere teuflischer Trieb. Gleichwohl mussten auch Christen den Beischlaf hinnehmen, um Nachkommen zu zeugen. Lustvoll aber durfte er nicht sein.
Allein die femininen Reize waren tiefgläubigen Männern unheimlich. Sie stritten gar darüber, ob Frauen überhaupt eine Seele hätten – immerhin war ihre Urahnin Eva ja verantwortlich gewesen für die Vertreibung aus dem Paradies und damit für das Leid auf Erden.
In der Renaissance sahen Männer Frauen nicht als gleichwertig an
Gut 800 Jahre lang beherrschten diese christlichen Vorstellungen das Bild der Liebe – bis im 11. Jahrhundert an französi-schen Fürstenhöfen die Sehnsucht nach Romantik erwachte. Damals zogen Troubadoure von Hof zu Hof und besangen die Minne, die selbst gewählte Liebe. Erstmals in der Geschichte priesen Menschen die Freiheit, ihren wahren Begierden zu folgen – immer außerhalb der Ehe, die weiterhin eine rationale Zweckgemeinschaft blieb.
„Niemandem soll ohne triftigen Grund seine eigene Liebe vorenthalten werden“, schrieb die Gräfin von Champagne im Jahr 1174 in ihren „Regeln der Minne“. Selbst wenn die Angebetete unerreichbar war, sollte der Liebende versuchen, durch Heldentaten und Mutproben deren Herz für sich zu gewinnen – und so zudem gesellschaftliches Ansehen erlangen.
In vielem glich diese sogenannte Hohe Minne bereits unserer heutigen Vorstellung von romantischer Liebe. Doch meist fand sie ihren Ausdruck eher in der Poesie und im Gesang. Gelebt wurde sie ver-mutlich selten. Das veränderte sich allmählich, als Handel, Kultur und Wissenschaft in der Renaissance zu florieren begannen. Eine neue Mittelschicht, das Bürgertum, entstand; Kaufleute wandten sich zunehmend dem weltlichen Leben zu, strebten materielles Glück an – und nahmen Abstand von rein religiöser Erfüllung.
Männer umschmeichelten die Damen, machten ihnen Komplimente, ließen sich von ihren Reizen verführen.
Aber noch immer sahen die wenigsten das weibliche Geschlecht als gleichwertig an. Frauen seien nichts anderes als große Kinder, schrieb der englische Politiker Lord Chesterfield an seinen Sohn. Bisweilen sei ihr Geschwätz zwar unterhaltsam, manchmal gar von Witz. Aber eine ernst zu nehmende Frau habe er in seinem Leben nie kennengelernt. Die geschlechtliche Gleichstellung – und damit die Grundlage für all das, was wir in westlichen Ländern heute unter romantischer Liebe verstehen – begann sich erst langsam mit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert zu entwickeln.
Es war der Kapitalismus, der den Grundstein legte für die Frauenrechte von heute: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte konnten beide Geschlechter ihren Intellekt und ihre Ideen einsetzen, um ihr Auskommen zu sichern. Die Marktwirtschaft, also das freie Spiel von Angebot und Nachfrage, ermöglichte es Männern wie Frauen, mit Ehrgeiz und aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Statt gemeinsam auf Äckern zu arbeiten, gingen Eheleute, Söhne und Töchter jeweils einer eigenen Beschäftigung nach – und bestimmten ihr Leben selbst. Nach und nach löste sich die Großfamilie auf.
Immer mehr Maschinen ersetzten die menschliche Muskelkraft. So traten weniger die körperlichen als vielmehr geistige Fähigkeiten in den Vordergrund. Die neue Lebenswelt war die Stadt: Gleichsam aus dem Nichts entstanden urbane Zentren wie Oberhausen oder Ludwigshafen. Ehemals kleinere Siedlungen wuchsen zu Ortschaften ungekannter Größe heran.
Vor allem in diesen Industriestädten emanzipierten sich Frauen, erkämpften mehr und mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit und versuchten, das jahrtausendealte Joch der Unterdrückung abzustreifen.
Ende des 19. Jahrhunderts erhob sich die Liebesheirat zur Norm
In dieser Zeit der Umbrüche und rasanten Entwicklungen vermochte niemand vorherzusehen, wie die zunehmend technisierte Welt in wenigen Jahren aussehen würde. Die Menschen suchten nach Sicherheit, nach Beständigkeit – und fanden sie im Ideal der freien, der wahren Liebe. Daraus mochte eine tief erfahrene Bindung zwischen Mann und Frau erwachsen, die Halt bot und ein wenig Ordnung ins turbulente Weltgeschehen brachte.
Menschen schwärmten nunmehr von der Einmaligkeit, Natürlichkeit und individuellen Stärke einer jeden Leidenschaft. Einen Seelenverwandten zu finden und zu heiraten: Das galt als höchstes Ziel im Leben.
Die Idee der romantischen Liebe kam einem „ungeheuren Kulturerfolg“ gleich, wie der deutsche Soziologe Hartmann Tyrell bemerkt. Aufgeklärte Bürger verstanden die auf freier Liebe gegründete Ehe als unabdingbare Voraussetzung für ein intensives, harmonisches Familienleben – für „häusliche Glückseligkeit“.
In seiner Schrift „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788 empfiehlt der Staatsdiener und Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge eindringlich, den Ehepartner aus Zuneigung zu wählen. Und der Brockhaus definierte in seinen vier Auflagen zwischen 1817 und 1827 die Ehe als „lebenslängliche Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts, die in ihrer Vollkommenheit auf Liebe beruht“.
Die Idee der Liebesheirat breitete sich innerhalb weniger Jahrzehnte in der gesamten Gesellschaft aus. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhob sie sich zur allgemeingültigen Norm. Selbst eine bewusst kinderlos geplante Ehe wurde nun als „wahre Ehe“ geschätzt. Die Zeugung, so das „Deutsche Staatswörterbuch“ von 1858, sei nur „eine Frucht der Ehe, aber die Ehe besteht vor der Frucht und abgesehen von der Frucht“.
Dies kehrte die alten Traditionen gänzlich um: Ehe ohne Liebe galt jetzt als unmoralisch. Als Herabsetzung zu etwas Äußerlichem und Inhaltslosem. Wer ist der andere, fragten Verliebte. Was verbirgt sich hinter der Oberfläche? Männer und Frauen suchten das Wesen des geliebten Menschen in seiner ganzen Vielfalt zu ergründen und zu begreifen. Als sich der Hamburger Architekt Otto Beneke im Herbst 1841 in Marietta Banks, die Tochter eines Anwalts, verliebte, faszinierte ihn deren „tieferes Seelen- und Gemütsleben“. Monatelang hielt er in einem Beziehungs-Tagebuch jede Geste der Angebeteten fest, ihre Gesichtszüge, ihre Reaktionen auf seine Briefe und Geschenke. Er bat sie, ihn „einzuführen in die Hallen ihres Geistes“.
„Liebe ist Erkenntnis“, schwärmte Bettina von Arnim in „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“. Liebe ist gleichsam „das Anschauen der Individualität“, vermerkte der Philosoph Friedrich Schleiermacher. Liebe sei ein Gefühl, schrieb Goethe in einem Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg, das wir empfänden, wenn wir in einem anderen Menschen „unser Gleichnis, uns selbst verdoppelt“ und damit zugleich ein „Bild des Unendlichen“ erblickten.
In der Liebe spiegelte sich für Romantiker nicht nur die eigene Individualität, sondern auch die ganze Welt. Diese Vorstellung lebt bis heute weiter. Die Liebe ist mehr als nur Biochemie. Die Suche nach dem anderen ist immer auch eine Suche nach Lebenssinn.
Eine Suche nach uns selbst.