GEO WISSEN: Frau Dr. Saimeh, viele Frauen fühlen sich bisweilen – bei der Arbeit oder in der Freizeit – von Männern sexuell bedrängt. Wann spricht man von einer sexuellen Straftat?
DR. NAHLAH SAIMEH: Unser Sexualstrafrecht richtet sich nach der Maxime der sexuellen Selbstbestimmung. Eine entsprechende Straftat liegt dann vor, wenn Sie gegen Ihren Willen zu sexuel- len Handlungen gezwungen werden oder gegen Ihren Willen in sexuelle Handlungen anderer – auf welche Art auch immer – einbezogen werden. Ob eine Person überhaupt einwilligungsfähig ist, hängt auch vom Reifezustand ab, daher sprechen wir bei Kindern von „sexuellem Missbrauch“; und bei anderen nicht einwilligungsfähigen Personen, zum Beispiel Menschen mit fortgeschrittener Demenzerkrankung, von „sexuellem Missbrauch Widerstandsunfähiger“.
Muss der Täter zwangsläufig gewalttätig werden?
Nein. Auch sogenannte„Hands-off-Delikte“, bei denen also der Täter eine andere Person gar nicht berührt, sind mitunter eine Sexualstraftat. Exhibitionismus zum Beispiel. Denn hier zwingt der Täter seinem Opfer auf, gegen dessen Willen etwa sein Genital anzuschauen oder ihm bei einer sexuellen Handlung – zum Beispiel beim Masturbieren – zuzusehen. Naturgemäß sind solche Hands-off-Delikte deutlich gewaltärmer als „Hands-on-Delikte“ wie eine Vergewaltigung.
Gibt es ein überwiegendes Hauptmotiv für sexuelle Gewalt?
Viele Menschen glauben, dass Vergewaltiger von einem übergroßen Sexualtrieb gesteuert werden und sich einfach nicht zusammenreißen können. So rechtfertigen sich ja auch einige Sexualstraftäter – nach dem Motto: Die Frau war sexuell so erregend, da konnte ich mich nicht beherrschen. Tatsächlich aber sind Sexualstraftäter eine ausgesprochen heterogene Gruppe. Es gibt nicht den Vergewaltiger, man hat es mit vielen verschiedenen Tätertypen zu tun.
Da sind zum Beispiel jene Männer, für die der Reiz einer Vergewaltigung vor allem in der Macht- und Dominanzerfahrung liegt und deren Sexualität maßgeblich durch den Wunsch sexueller Gewaltausübung geprägt ist. Es geht darum, der anderen Person im Sexuellen den eigenen Willen aufzuzwingen, zu herrschen. Es gibt in unserer Alltagswelt kaum vergleichbare Erfahrungen von unmittelbarer Mächtigkeit.
Es sei denn, man ist Chef einer Firma.
Auch dann sind Sie eingeschränkt. Da gibt es den Personalrat oder andere Gremien und Institutionen, mit denen Sie sich beraten müssen. Auch als Chef können Sie nicht so richtig sagen, wo es langgeht. Bei einer Vergewaltigung sind Sie dagegen in einer Exklusivsituation, in der es ausschließlich nach Ihrem eigenen Willen geht – so wird es zumindest von den Tätern erlebt.
Welcher Tätertyp ist noch verbreitet?
Neben dem Dominanz-Typ gibt es den Wut- oder Rache-Typ. Das sind Täter, die sexuelle Aggressivität gegenüber Frauen nutzen, um sie pauschal abzustrafen. Es geht ihnen also weniger um ein konkretes Opfer, sondern um Frauen allgemein – um die 50 Prozent der Menschheit, die in ihren Augen verlogen sind, Männer ausnutzen und übervorteilen. Oft projizieren solche Täter das eigene Missgeschick im Leben auf das weibliche Geschlecht, das bestraft werden muss. Die Frau als solche ist quasi Ursache allen Übels.
Und die Sexualität wird dabei gewissermaßen als Waffe eingesetzt.
Ja, als Instrument der bewussten Demütigung. Ich kenne auch Vergewaltigungstäter, die dazu neigen, Partnerinnen zu missbrauchen, wenn diese aus Sicht der Täter die Dreistigkeit besitzen, sich von ihnen zu trennen. Die Männer sagen sich: Wenn hier einer die Beziehung beendet, dann bin ich das. Aber ich lasse mich nicht verlassen. Und wenn es doch geschieht, dann ver- passe ich der Partnerin eine Abreibung. Diese Täter wissen ganz genau, dass die Anwendung sexueller Gewalt für das Opfer besonders demütigend ist.

Es geht also darum, eine Art Brandmarke zu setzen?
Ja. Schließlich ist eine Vergewaltigung immer mit einer besonders schweren Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität verbunden. Darüber funktioniert das Kalkül, jemanden mittels sexueller Gewalt zu sanktionieren.
Zu dem Rache- und Wut-Typ gehören auch etliche jener Vergewaltiger, die immer dann, wenn sie sich sehr geärgert oder eine besondere Frustration im Leben erlitten haben, nachts auf die Pirsch gehen. Und schauen, ob sie nicht irgendeine Frau überfallen können, um den gekränkten Selbstwert auf diese Weise wieder zu stabilisieren. Zumindest kurzfristig.
Wählen diese Täter ihre Opfer zufällig?
Zunächst muss man festhalten, dass die meisten Vergewaltigungsopfer keine fremden Frauen sind. In der Regel kennen sich Täter und Opfer. Dagegen ist der Vergewaltiger, der als Fremder hinter einer dunklen Ecke hervorspringt, eher selten. Doch wenn wir schon von dieser Tätergruppe reden: Da sind die Frauen tatsächlich meist Zufallsopfer. Es geht darum, einfach mal loszugehen und zu schauen, was läuft. Irgendjemand wird sich schon finden.
Einige dieser Täter zeichnen sich durch ein zutiefst „dissoziales“ Wesen aus, wie wir sagen. Sie nehmen sich einfach, was sie gerade möchten. Brauche ich Geld, nehme ich mir das eines anderen. Brauche ich ein Mobiltelefon, nehme ich das eines anderen. Brauche ich ein Auto, nehme ich das eines anderen. Und will ich Sex, dann nehme ich mir die Frau, die zufällig meinen Weg kreuzt. Diese Täter sind häufig auch noch wegen zahlreicher ganz anderer Delikte wie Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Raub vorbestraft.
Welche weiteren Typen von Sexualstraftätern gibt es?
Beispielsweise den ausgeprägten Sadisten, der allerdings glücklicherweise eher selten ist. Das sind Männer, die ihre Taten lange planen, manchmal die Opfer gezielt ausspähen und sie mehr quälen, ängstigen, misshandeln und demütigen, als es für den reinen Geschlechtsverkehr gewissermaßen „nötig“ wäre. Auch hier gibt es Zufallsopfer, und lediglich der Tatablauf ist im Vorfeld in der Fantasie schon sehr ausgestaltet und gut geplant. Der Reiz für den Täter liegt dabei auch in der Überlegenheit, bereits zu wissen, was später mit der Frau geschieht, obwohl die noch nichts ahnt. Bei Vergewaltigern, bei denen das Quälen wesentlicher Bestandteil sexueller Befriedigung ist, handelt es sich um eine Hochrisikogruppe, und es liegt ein echtes „paraphiles Skript“ zugrunde, wie wir sagen.
Das müssen Sie erläutern.
Paraphilie bedeutet, dass eine Störung der sexuellen Präferenz vorliegt, also eine Störung dessen, was sexuell als lustvoll erlebt wird. Sexualmediziner unterscheiden bei der Sexualität drei Dimensionen: Lust, Beziehung und Fortpflanzung. Bei der Paraphilie sind im Grunde die Lust- und die Beziehungsdimension der Sexualität gestört. Der Betreffende ist beispielsweise auf altersmäßig zu junge Personen orientiert, also Kinder oder Heranwachsende, oder er hat eine abweichende Orientierung in Bezug auf Gewalttätigkeit in der Sexualität, also eine Vergewaltigungsdisposition. Lust und Erregung stellen sich bei ihm nur ein, wenn sexuelle Gewalt im Spiel ist.
Lässt sich bei allen Tätertypen ein charakteristischer Wesenszug feststellen?
Man findet unterschiedliche Persönlichkeitszüge. Das sind vor allem dissoziale und narzisstische, aber auch selbstunsichere Menschen. Ganz häu- fig handelt es sich um Männer, deren Selbstwert gering ist. Die vermeintliche Stärke, die der Täter in einer Vergewaltigungssituation zeigt, ist ja letzlich eine charakterliche Schwäche. Vergewaltiger sind keine starken Männer.
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