Was für ein Projekt! Was für ein Vorhaben! Vier Jahre lang hat Barbara Iweins jedes Ding in Fotos festgehalten, das sie besitzt. Raum für Raum, Schublade für Schublade. Sie hat von der Packung Antidepressiva bis hin zur Flasche mit dem öligen Holzpflegemittel alles Hab und Gut in Bildern abgelichtet. Beim Betrachten der 12.795 Gegenstände fühlt man sich förmlich umzingelt: ein Leben in Konsumgütern.
Doch warum häufen Menschen überhaupt so viele Besitztümer an? Eine Frage, die sich jeder vermutlich bereits gestellt hat, der für einen Umzug packen musste und schier verzweifelte angesichts alter Ladekabel, staubiger Ordner aus Studienzeiten oder nostalgisch gesammelter Bücher. Dabei lautet das Credo der Gegenwart anders: Wer ausmistet, lässt los, sieht klarer, ja findet geradezu ein neues Ich, heißt es. Minimalismus liegt im Zeitgeist. Schon der Psychoanalytiker Erich Fromm warb für "Sein statt Haben" und den Abschied aus dem Konsumhamsterrad, das ohnehin zur Liebesunfähigkeit und Entfremdung verdamme, so Fromm. Marie Kondo bietet Ratsuchenden mit übervollen Schubladen Hilfe und Entscheidungsfindung: Wegwerfen oder behalten?
Warum fällt es uns also so schwer, uns von Besitztümern zu trennen, einen Gegenstand aus längst verflossenen Zeiten ins Altpapier zu verbannen? Ich selbst besitze noch Postkarten aus Abiturzeiten, horte alte Stadtmagazine, in denen Artikel und Rezensionen von mir erschienen sind. Dabei träume ich von der perfekten Ordnung, doch leider tendiere ich offenbar eher zum Messiedasein. Ein ewiges Konfliktthema in meiner letzten Beziehung, in der ich mir vorwerfen lassen musste, ich würde zur "Häufchen-Bildung" neigen. Mein Ex spielte damit auf mein Arbeitszimmer an, in dem er zeitweise im Slalom um Buchstapel und Manuskripte herumnavigierte, während nebenan bei ihm cleaner Purismus eines aufgeräumten Juristen herrschte.
Der Grund, warum es Menschen schwerfällt, sich von einmal erworbenen Gegenständen zu trennen, erklärt die Psychologie so: Mit unseren Besitztümern verhandeln wir zugleich unsere Identität. Wir entwerfen mit unseren Gütern ein Bild von der Person, die wir einmal waren, die wir gegenwärtig sind und die wir in Zukunft gern sein wollen. Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit also in einer vollgestopften Wohnung, die einer Ich-Höhle gleicht. Die Besitzgüter formen ein "erweitertes Selbst", wie ein renommierter Psychologe und Harvard-Professor namens William James es formulierte. Nichts davon darf verlorengehen.
Folglich ist es also bedrohlich, an das Inventar dieses "erweiterten Selbst" zu rühren. So schleppen Menschen wie ich und offenbar Barbara Iweins viel Ballast mit sich herum und viele Erinnerungen. Die Geschichten, die an all den Dingen hängen, sind ein weiterer Grund, warum viele eher bewahren und nicht federleicht lediglich mit 100 Besitztümern durch das Leben spazieren, immer bereit ins Neue aufzubrechen.
Evolutionstheoretiker argumentieren noch aus einer weiteren Richtung. Demnach sei auch ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit an Besitz gebunden. Menschen brauchen generell, so eine Überlegung zur Sammelneigung, sinnstiftende Beziehungen. Mangelt es ihnen durch eine schmerzhafte Trennung oder einen Verlust wie einen Todesfall daran, so beobachten Psychologen nicht selten, dass sie ihre Wohnung mit Dingen zustellen, die die Leere auffüllen sollen.
Barbara Iweins stellte nach Fertigstellung ihres Bilderkataloges eines fest: Sie brauchte lediglich ein Prozent der Gegenstände, die sie besaß. Doch sie räumt gleich ein, dass sie froh sei über den fotografischen Katalog, der entstanden ist. Denn sollte jetzt ein Feuer ausbrechen, sei keine Erinnerung verloren. Ich selbst habe vor einiger Zeit in einem heroischen Akt tatsächlich ausgemistet – und festgestellt, dass das Aussortieren den Blick für das Wesentliche schärft. Und bevor ich heute unsinnigen Kaufimpulsen nachgebe, halte ich neuerdings kurz inne und frage mich, ob dieses neue Objekt wirklich Teil meines "erweiterten Selbst" werden soll, also in den heiligen Ich-Raum einziehen darf.
Denn weniger Dinge bedeuten zugleich auch weniger Stress. Eine Kollegin, die gut ausmisten kann, begründete ihre Haltung dadurch, dass sie auch für weniger Güter und deren Pflege die Verantwortung trage. Und das sei sehr erholsam. Stimmt irgendwie. Weniger Dinge nehmen zudem oftmals die Last einer Entscheidung: der rote oder der blaue Pullover? Die Frage ist obsolet, wenn man aus Prinzip nur blaue Kleidung kauft, wie die Journalistin Meike Winnemuth dies vor Jahren mit dem Projekt "Das blaue Kleid" getan hat.
Ich muss also zugeben, weniger ist oft mehr, schafft Raum, Klarheit. Also versprochen, ich arbeite weiter daran, eine Puristin zu werden!