Neue Temperaturrekorde sorgen kaum noch für Aufsehen, sie gehören mittlerweile zum Sommer wie Schwimmbäder oder Schokoeis. Doch was Forschende aktuell weltweit beobachten, weicht so weit von der bisherigen Normalität ab, dass manche Menschen bereits fürchten, das Klima kippe jetzt. Im Fokus stehen dabei vor allem zwei Orte, die auf der Erde weit auseinander liegen: die Antarktis und der Nordatlantik.
Auf der Südhalbkugel herrscht Winter, weswegen die Antarktis dieser Tage große Flächen an Eis hinzugewinnen sollte. Zwar geschieht das auch in diesem Jahr, aber weitaus langsamer als sonst. Wie langsam, offenbart eine Grafik von Eliot Jacobson, ehemals Professor an der Ohio University.
Blaue Linien stehen in der Grafik jeweils für ein Jahr zwischen 1991 und 2022. Sie geben an, wie sehr im Jahresverlauf die Eisfläche vom dreißigjährigen Durchschnitt abwich. Die rote Linie bricht aus dieser Gruppe aus: Das Jahr 2023 unterbietet bei Weitem, was bislang zu dieser Jahreszeit beobachtet wurde. Die Fläche an Eis ist also drastisch kleiner als zu erwarten ist. Einzig 2016 gab es am Ende des Jahres (rechts) eine ähnliche Abweichung, als der damalige El Niño für extreme Hitze sorgte.
Ähnlich eindrücklich sind die Temperaturen der Meeresoberfläche im Nordatlantik.
Ein Wust an blauen Linien zeigt, wie in den Jahren 1982 bis 2022 im Jahresverlauf die Temperaturen in der Meeresoberfläche vom mehrjährigen Durchschnitt abwichen. Zwischen dem kältesten und dem wärmsten Jahr lagen nur ein bis anderthalb Grad Celsius. Der Nordatlantik hat somit eine recht stabile Temperatur, schließlich ist das Gebiet riesig, entsprechend auch die Wassermengen, weswegen es enorme Mengen an Wärme bedarf, um den Nordatlantik auch nur minimal aufzuheizen.
Aber genau das geschieht in diesem Jahr. In der Grafik steigt aus dem Meer blauer Linien die rote Linie für dieses Jahr in bislang unerreichte Höhen. Die Oberflächentemperatur liegt 1,1 Grad Celsius über dem Durchschnitt und ist damit fast doppelt so hoch wie der bisherige Rekord. Das Ungewöhnliche ist also nicht einmal, dass ein neuer Rekord erreicht wurde, sondern wie extrem dieser den bisherigen Rekord überbietet.
Heißer Wind aus Südost
Weltweit ist es zurzeit überdurchschnittlich heiß. Neben der Klimaerwärmung sorgt dafür auch der beginnende El Niño, ein Wetterphänomen, das alle paar Jahre im Pazifik stattfindet und für mehrere Monate bis Jahre für hohe Temperaturen sowie Wetterextreme sorgt. In den vergangenen Jahren sorgte sein Counterpart, der La Niña, für eher gemäßigte Temperaturen, doch die Hinweise verdichten sich, dass bis zum Ende dieses Jahres ein El Niño anrückt, der auch in die nächsten Jahre hinein für extreme Temperaturen sorgen könnte. Doch der El Niño baut sich erst auf, sein Einfluss ist noch schwach.
"Die extremen Ausreißer, die wir aktuell im Nordatlantik beobachten, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit natürliche Schwankungen, die auf den Trend der Klimaerwärmung und auf El Niño obendrauf kommen", sagt Helge Gößling. Der Klimaphysiker erforscht am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven unter anderem Extremwetterereignisse in Europa, aber auch, wie sich die Fläche an Meereis vorhersagen lässt. "Vor allem anomale atmosphärische Zirkulationen können die ungewöhnlichen Temperaturen erklären – und auch die Plötzlichkeit des Rückgangs der Eisflächen in der Antarktis." Gößling sieht daher nicht, dass das Klima einen Kipppunkt erreicht habe.
Im Gegenteil sei für Forschende überraschend gewesen, wie lange das Eis in der Antarktis stabil geblieben sei, ja zuzunehmen schien, obwohl sich das Klima weltweit erwärmt. Erst seit 2017 schmilzt das Meereis. "Insofern findet in der Antarktis eine überfällige Entwicklung statt", sagt Gößling.
Kühlender Saharasand fehlt
Die ungewöhnlichen atmosphärischen Zirkulationen zeigten sich im Nordatlantik beispielsweise vor der Küste Nordafrikas. Dort, wo normalerweise Passatwinde kühle Luft aus Nordosten bringen, wehten die Winde aus Südwesten: Sie trugen viel Wärme in die Region. Hinzu käme seit einigen Wochen ein ungewöhnliches Hoch über Europa, das bis nach Island reicht. Dort herrschen meist Tiefdruckgebiete, weswegen sich das Meer südlich von Island und Grönland über Jahrzehnte kaum erwärmte. Nun strömt aber warme Luft aus Südosten in das Gebiet und heizt den Atlantik auf.
Eine weitere Erklärung, die mit den ungewöhnlichen Winden zusammenhängt, liefert der US-amerikanische Klimatologe Michael E. Mann. Die sonst üblichen Nordostwinde tragen Saharasand über den Atlantik und kühlen dadurch das Meer, da der Staub Sonneneinstrahlung blockiert. Durch die Südwestwinde fehle aktuell jedoch der Sand in den Luftschichten und damit auch die Kühlung.
Für viel Aufsehen sorgte ein weiterer Versuch, die Anomalien zu erklären. Ursache sei demnach der Beschluss der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, ab 2020 in Schiffskraftstoffen den erlaubten Anteil an Schwefel zu senken, denn Schwefel lässt unter anderem das Meer versauern. Allerdings haben Schwefelaerosole in der Atmosphäre einen ähnlichen Effekt wie Sand: Sie blockieren die Sonneneinstrahlung und senken damit die Temperatur. Laut der Hypothese sorgten die gesunkenen Schwefelemissionen des Schiffsverkehrs dafür, dass der Atlantik nicht mehr so gekühlt werde wie früher. Der Eingriff zum Schutz der Umwelt hätte demnach schwerwiegende Folgen für das Klima.
Schiffsemissionen wohl doch nicht Schuld
Doch Michael E. Mann, der selbst zum Einfluss der Schwefelaerosole auf die Oberflächentemperatur im Nordatlantik geforscht hat, schließt aus, dass dies ein wesentlicher Treiber sei: Die seit 2020 weltweit sinkenden Emissionen könnten nicht einen solch saisonalen Effekt erklären, der zudem vor allem im östlichen Nordatlantik auftrete.
Auch Gößling glaubt nicht an diese Erklärung: "Die Besonderheiten, die wir in der atmosphärischen Zirkulation in den vergangenen Wochen und Monaten beobachten haben, passen gut, um die heftigen Temperatur-Ausreißer zu erklären. Da brauchen wir nicht diesen zusätzlichen Erklärungsansatz."
Michael E. Mann prognostiziert, dass sich die Meeresoberflächentemperaturen im Nordatlantik wieder normalisieren, wenn sich in den kommenden Wochen die Winde drehen und wenn dann auch wieder mehr Staub über den Ozean gefegt wird. "Dennoch werden die Folgen in Europa auch in den kommenden Monaten spürbar bleiben", sagt Gößling. Die enorme Menge an Wärme, die zurzeit im Nordatlantik und auch im westlichen Mittelmeer gespeichert ist, könne noch über längere Zeit unser Wetter beeinflussen. "An der West- und Südküste Frankreichs sind die Temperaturen vier, fünf Grad höher als normal. Entsprechend wärmere und feuchtere Winde aus dem Atlantik und Mittelmeer könnten dann auch bei uns für einen heißen Sommer im Juli und August sorgen, möglicherweise verbunden mit starken Gewittern."
Die plötzlich beobachteten Anomalien sind also wohl eher ein Zusammenspiel ungewöhnlicher natürlicher Schwankungen und keine direkte Folge des Klimawandels. Gößling sieht auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Kipppunkt erreicht sei. Und doch mache erst die Klimaerwärmung solch krasse Temperaturextreme wahrscheinlich. "Mit unseren Klimamodellen versuchen wir zu prognostizieren, wie stark das Klima auf die erhöhten Treibhausgase reagieren wird. Da gibt es verbleibende Unsicherheiten", erklärt Gößling, der selbst mit solchen Modellen forscht. "Manche Modelle sagen, dass die Erwärmung nicht ganz so stark ausfällt. Doch jedes neue Jahr mit solch starker Erwärmung macht diese optimistischeren Prognosen weniger wahrscheinlich. Die Anomalien passen dann eher zu Berechnungen, die starke Veränderungen des Klimas prognostizieren."