Spurensuche am Südpol Rätselhafte Radiopulse: Aus dem Eis der Antarktis dringen unerklärliche Signale

Während der Messungen schwebt ANITA nicht am Kran, sondern an einem Ballon. Ihre Instrumente fangen Radiowellen ein, die entstehen, wenn kosmische Strahlung die Erde trifft  Foto: Stephanie Wissel / Penn State. Creative Commons
Während der Messungen schwebt ANITA nicht am Kran, sondern an einem Ballon. Ihre Instrumente fangen Radiowellen ein, die entstehen, wenn kosmische Strahlung die Erde trifft
Foto: Stephanie Wissel / Penn State. Creative Commons
Ein fliegender Detektor fahndete am Südpol nach Neutrinos – und maß dabei Radiopulse, die von keinem bekannten Partikel stammen können. Eine neue Analyse vertieft das Rätsel

Eigentlich misst ANITA Neutrinos aus dem All. Von einem Heliumballon getragen, driftet die "Antarctic Impulsive Transient Antenna" in bis zu 39 Kilometer Höhe dahin. Sie horcht nach Radiosignalen, die entstehen, wenn die leichtesten aller Partikel mit der Atmosphäre oder dem ewigen Eis wechselwirken. Doch auf zwei von vier bisherigen Flügen über die Antarktis maß sie Signale, über die sich nur eines mit Sicherheit sagen lässt: Von Neutrinos stammten sie nicht.

Die Geisterteilchen sind omnipräsent. Bis zu 70 Milliarden strömen sekündlich durch unseren Körper. Die meisten davon stammen aus energiereichen Prozessen im All. Sie entstehen etwa bei Supernovae oder bei der Kernfusion im Innern von Sternen. Einige schwirren seit dem Urknall durch den Kosmos. Da Neutrinos jedoch nur in den seltensten Fällen mit Materie interagieren, spüren wir nichts von ihrem Dauerbombardement. 

ANITA nutzt einen Trick, um ihnen auf die Schliche zu kommen. Kosmische Neutrinos können sowohl in der Atmosphäre als auch im Innern des Eisschilds Zerfallskaskaden anstoßen. Dabei entstehen weitere subatomare Partikel sowie Radiostrahlung, die ANITAs Instrumente einfangen. Mathematische Modelle verraten anschließend etwas über Flugrichtung und Eigenschaften der Neutrinos – und damit über ihre Entstehungsgeschichte. 

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Forschung Rätselhafte Geisterteilchen: Die Jagd der Wissenschaft nach den Neutrinos

Sie durchqueren meist ungehindert ganze Galaxien, das Innere von Sonnen, den Körper des Menschen. Und senden uns Botschaften aus den entlegensten Winkeln des Kosmos. Seit Jahrzehnten schon versuchen Forscherinnen und Forscher den Neutrinos auf die Spur zu kommen – riesige Teilchen-Fallen sollen ihnen jetzt ihre Geheimnisse entlocken

Doch zwischen 2006 und 2016 empfing ANITA zwei höchst ungewöhnliche Signale. Sie waren rund 200-mal energiereicher als üblich und schienen aus dem Erdinnern zu stammen. "Die Radiowellen, die wir entdeckt haben, kamen aus einem sehr steilen Winkel, etwa 30 Grad unter der Eisoberfläche", sagt Stephanie Wissel, Physikerin und Astronomin der Pennsylvania State University in den USA. Theoretisch hätten die verantwortlichen Partikel Tausende Kilometer Fels durchqueren müssen, um den Detektor zu erreichen. Doch das ist unmöglich: Kein der Physik bekanntes Teilchen könnte bei solch hohen Energien die gesamte Erde passieren, ohne vom Gestein abgefangen zu werden – nicht einmal die ultraleichten Neutrinos.

Bis heute rätseln Physiker und Physikerinnen, was ANITA da gemessen haben könnte. Forschende suchen in den Daten weiterer Detektoren nach ähnlichen Ereignissen. Einer davon, das IceCube Neutrino Observatory, steht ebenfalls in der Antarktis. In der eisigen Abgeschiedenheit ist das Risiko von Störsignalen extrem gering. 

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Der aktuellste Abgleich geschah mit Daten des Pierre Auger Observatory in Argentinien, das Zerfallskaskaden hochenergetischer kosmischer Strahlung misst. Insgesamt analysierte ein internationales Forschungsteam 7,6 Millionen Teilchensignale des Observatoriums. Keines ähnelte den ANITA-Messungen. "Das ist ein interessantes Problem, denn wir haben immer noch keine Erklärung für diese Anomalien", sagt Stephanie Wissel. "Aber wir wissen, dass sie höchstwahrscheinlich keine Neutrinos darstellen." 

Ein neuer Detektor soll zum Jahresende aufsteigen

Für die Physik ist das erst einmal eine gute Nachricht. Lassen sich Messungen nicht mit bestehenden Modellen und Theorien erklären, bietet sich eine Chance auf echten Erkenntnisgewinn. Manche Forschende wittern die Existenz bislang unbekannter Partikel oder einen Hinweis auf die mysteriöse Dunkle Materie, deren Schwerkraft ganze Galaxien zusammenhält. "Meine Vermutung ist, dass unter dem Eis oder am Horizont ein Prozess stattfindet, den wir bisher nicht verstehen", sagt Wissel. "Allerdings haben wir mehrere Kandidaten dafür schon untersucht und bisher nichts finden können."

Die Physikerin setzt auf einen neuen Detektor namens PUEO, kurz für "Payload for Ultrahigh Energy Observations". Genau wie ANITA soll er an einem Heliumballon hoch über der Antarktis schweben und besonders energiereiche Signale von Neutrinos und kosmischer Strahlung einfangen. Momentan ist der erste Flug für Dezember 2025 vorgesehen. Die empfindlicheren Instrumente von PUEO könnten weitere Anomalien einfangen – und so die Chancen auf eine Erklärung des mysteriösen Phänomens steigern.