Kaffee hat mindestens so viele Facetten wie es Kaffeebohnen gibt. Er ist Wachmacher nach einer kurzen, Wachhalter während einer langen Nacht. Eine Tasse Kaffee steht auf jedem Konferenztisch im Großraumbüro, gehört aber auch zum Nachtisch des Fünf-Gänge-Menüs.
Eine dieser Facetten kommt in der hektischen Arbeitswelt oft zu kurz: Kaffe kann entspannen, uns für eine Viertelstunde aus dem Alltag herausziehen, ihn stummschalten.
Doch wie schafft er das?
Kaum ein Genussmittel ist so gut erforscht wie die Kaffeebohne. Hunderte wissenschaftlicher Studien werden jedes Jahr zum Thema veröffentlicht. Die meisten Erkenntnisse berufen sich auf die stimulierende Wirkung einer einzigen psychoaktiven Substanz: Koffein.
Im Magen und Dünndarm kurbelt das Alkaloid unsere Verdauung an. Im Hirn dockt es an Adenosin-Rezeptoren, ohne diese zu aktivieren - und verhindert so, dass unser Körper signalisiert, dass wir müde sind. Im Herzen stimuliert Koffein die Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin, der Puls steigt, das Herz schlägt schneller.
All das puscht uns eher als zu entspannen, kratzt im Zweifel sogar auf, macht nervös und unruhig. Der Schlüssel zur Entspannung durch Kaffee liegt weniger in seiner biologischen Wirkung und vielmehr in seinen über 800 Aromastoffen, die wir bei jedem Schluck über unsere Geschmacksknospen gleiten lassen. Sie sind es, die Kaffee seinen unverwechselbar bitteren Geschmack verleihen und geeichte Kaffeetrinker die kenianische Aarabica-Bohne von der brasilianischen Robusta unterscheiden lassen.
Dabei ist es nicht nur die Zunge, die Kaffee sinnlich erlebt. Kaffeetrinken fängt mit dem Krachen der Bohnen an, die gemahlen werden. Mit dem Geruch, der sich in der Küche ausbreitet, wenn das schwarze Pulver aufgebrüht wird. Mit dem gemütlichen Sessel und der Zeitung, die man gleich durchblättern wird.
Kaffee ist nicht nur ein Genussmittel, sondern initiiert ein Ritual.
Es war die moderne Konsumgesellschaft, die Kaffee auf Koffein reduziert hat. Als alle Produkte ständig verfügbar waren, wurde vor allem eines knapp: Zeit. Also floss der Kaffee nicht mehr in die besonderen Porzellantassen, sondern in To-Go-Becher aus Pappe. Das Ritual der Entschleunigung wurde ersetzt durch die Funktion des Aufputschmittels.
Bei Kaffee geht es weder um Geschmack noch um Inhaltsstoffe
Als Ursprungsland des Kaffees gilt Äthiopien. Noch heute ist das ostafrikanische Land einer der größten Kaffeeexporteure der Welt. Zugegeben: Auch über die achtspurigen Kreuzungen der Hauptstadt Addis Abeba hetzen die Menschen mit Kaffe in der Hand und nippen an Aluminiumkannen während sie im Taxi oder Bus sitzen.
Doch wer in Äthiopien zu Gast in den vier Wänden einer Familie ist, erfährt, wie es ist, wenn Kaffeetrinken zum Ritual wird. Meistens ist es die Frau des Hauses, die auf einer kleinen Feuerstelle die noch grünen Kaffeebohnen röstet und ihren wohligen Duft verbreitet. Sind sie tiefbraun und hart genug, werden sie mit einem Holzmörser zu feinem Pulver zerstoben. In der Jebana, einem Tonkrug, wird der Kaffee aufgebrüht. Die erste Tasse gebührt entweder dem Gast oder dem Familienoberhaupt - dazu gibt es meist frisches Popkorn.
All das dauert und es ist nicht selten, dass sich eine gemeinsame Tasse Kaffee auf mehrere Stunden ausdehnt. Natürlich geht es dabei auch um die Duftstoffe, die die gerösteten Bohnen in der Luft verbreiten, natürlich auch um den einzigartigen Geschmack, den der winzige Schluck tiefschwarzer Kaffee in sich trägt. Doch entscheidend ist das nicht. Entscheidend ist das verbindende Element, das das Ritual initiiert. Mindestens einmal am Tag bringt es die gesamte Familie zusammen - nicht mal eben im Vorbeigehen oder in der Küche, sondern um zu reden, sich auszutauschen, um nichts zu tun und zu entschleunigen.
So ist die Tasse Kaffee ein Anlass, kein Konsumgut.
Es sind weder die Inhaltsstoffe noch der Geschmack, der die Kaffeekulturen auf der ganzen Welt verbindet. In der Türkei wird er in einer Mokkakanne - Ibrik oder Cezve genannt - erhitzt, dazu wird Lokum, türkische Süßigkeiten, gereicht. In Japan liegt die Cold Drip-Methode im Trend, bei dem kaltes Wasser in einzelnen Tröpfchen aus dem Filter rinnt. Als der Kaffee im 16. Jahrhundert über das Mittelmeer nach Europa kam, gründeten sich in Venedig, Florenz, London und Wien Kaffeehäuser. Das waren keine Orte, an denen Kaffee konsumiert wurde, sondern Orte, an denen sich lange ausschließlich Männer trafen, Geschäfte abschlossen, philosophierten und tratschten. Dazu gab es nebenbei leckeren Kaffee.
Dies ist das Element, das die Kaffeekulturen auf der ganzen Welt verbreitet. Wird das Kaffeetrinken als Ritual verstanden, verbindet es die Menschen, nimmt sie aus dem eng getakteten Ablauf ihres Alltags heraus und zwingt sie, nichts anderes zu tun als sich zu unterhalten, gemeinsam Zeit zu verbringen und einen Kaffee zu genießen.
Auch eine alleine getrunkene Tasse Kaffee kann zum Ritual werden
Die meisten dieser Rituale sind mit anderen Menschen verbunden und werden schnell vergessen, wenn man alleine ist. Wer sich selbst einen Kaffee holt, der trinkt ihn eher im Gehen, während eines Telefonats mit den Kollegen, in der U-Bahn.
Doch auch alleine kann der Mensch Rituale zelebrieren. Wer sich seinen Kaffee selbst in einer Handmühle malt, braucht dafür fünf Minuten. Wer sein Handy und den Flugmodus verfrachtet, kann Gedanken schweifen lassen statt Finger über Bildschirme. Dafür braucht es nicht unbedingt die Gemeinschaft mit anderen. Aber es braucht einige Minuten Zeit und vor allem das Bewusstsein, dass eine Tasse Kaffee nicht entspannt, weil sie besonders schmeckt oder bestimmte Inhaltsstoffe in sich trägt. Sondern nur, wenn sie mit einem Ritual verbunden ist: einer kleinen Auszeit.