Katlego Poshoko, geboren im Jahr 1996 in Südafrika, hat zwei Menschen in seinem Leben als Feinde ausgemacht: seine Tante, mit der er ein Zimmer teilt, und Nelson Mandela. Poshoko wohnt in Alexandra, einer Township von Johannesburg. Die zwölf Quadratmeter, die das Einraumhaus misst, lassen ihm und seiner Tante wenig Platz für Freiheit, aber genug, um einander zu bekämpfen. Und wütend zu sein. Mit Freunden und Nachbarn sitzt Poshoko vor dem Haus. Sie trinken Bier, reden. Dann fällt der Name Mandela, und Poshoko holt zu einer Ansprache aus. „Mandela hat uns verraten“, ruft er in die Runde. Er trägt die Basecap nach hinten gedreht, dazu ein T-Shirt und Sonnenbrille. Warum sonst gehört immer noch das meiste Land in Südafrika den Weißen?, fragt er. Warum existieren noch Townships wie diese, wo Schwarze in Verschlägen hausen? Und er gibt sich selbst die Antwort: Weil Nelson Mandela zwar die politischen Geschäfte übernommen, aber die Wirtschaft in der Hand der Weißen gelassen hatte.
Katlego Poshoko predigt vor Gleichgesinnten. Die meisten seiner Freunde sind wie er Mitglieder der Economic Freedom Fighters (EFF), einer linken, radikalen Partei. Und alle sind jung, wie er. Keiner ist älter als 27. Sie waren noch nicht geboren oder trugen noch Windeln, als Nelson Mandela 1994 die ersten freien Wahlen im Land gewann und das Ende der Apartheid besiegelte. Mandela, erster schwarzer Präsident Südafrikas, setzte den Traum von der „Regenbogennation“ in die Welt. Er hat jene Freiheit mit erkämpft, nach der die Generation von Katlego Poshoko benannt wurde: „Born Free“, die frei Geborenen.
Zu ihnen zählt fast die Hälfte des Volkes. Nahezu jeder zweite Südafrikaner ist jünger als 25 Jahre. Viele von ihnen sind besorgt oder, wie Poshoko, erzürnt darüber, was aus Mandelas Erbe geworden ist: aus dem Versprechen von Gleichheit und Wohlstand. Sie fragen sich, wie sie leben wollen – und können. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt rund 50 Prozent. Etwa die Hälfte der mehr als 56 Millionen Südafrikaner müssen mit weniger als zwei Euro am Tag über die Runden kommen. Unter Präsident Jacob Zuma, der das Land ab 2009 regierte, bluteten die Staatsbetriebe aus. Er steht im Verdacht, für sich und seine Clique Milliarden abgezweigt zu haben. Zwar trat er im Jahr 2018 zurück, aber da hatte er die Reputation seiner Partei, Mandelas Befreiungsbewegung African National Congress (ANC), bereits schwer beschädigt. Als Nachfolger ist nun der Multimillionär und einstige Gewerkschaftsführer Cyril Ramaphosa im Amt, ebenfalls vom ANC.
Doch wovon träumen die Born Frees? Womit haben sie zu kämpfen? Auch jene, die nach der Apartheid auf die Welt kamen, leben noch immer in einem Land, dessen Bruchlinien entlang der Rassengesetze von 1950 verlaufen: Danach sind Menschen entweder „weiß“ oder „schwarz“, oder sie sind coloured, so das Etikett für alle, die weder das eine noch das andere sind. Schwarze wie Poshoko, der sich um seinen Sieg betrogen fühlt und der Regierung den Kampf ansagt; Coloureds, die sich als Verlierer betrachten und sich zu Hause vor der Zukunft verkriechen; Weiße, die als Aussteiger aufs Land ziehen: Hoffen sie noch auf die Realisierung von Mandelas Traum einer Regenbogengesellschaft, in der Menschen jeglicher Herkunft friedlich zusammenleben?
Katlego Poshoko: Kampf und Kompromiss
Immer mehr Menschen ziehen nach Alexandra, in die Township, in der auch Poshoko wohnt. Die alten Einfamilienhäuser mit soliden Walmdächern werden umwuchert von Häuschen, Hütten und Verschlägen, die manchmal nur mit Wellblechplatten und Autoreifen gedeckt sind. Mehr als 180000 Menschen leben dort auf knapp sieben Quadratkilometern. „Aber alle wollen weg“, sagt Poshoko. Für ihn gilt das umso mehr wegen seiner Tante. Seit ihn der Tod der Mutter zum Vollwaisen gemacht hat, ist sie seine nächste Verwandte. Die beiden teilen das Haus der Familie und eine tiefe gegenseitige Abneigung.
„Sie lästert über mich bei den Nachbarn“, schimpft Poshoko. „Sie ist der unmöglichste Mensch. Sie, sie “ Er kramt in Formulierungen, findet aber nichts, was seine Wut über die Tante richtig beschreibt. Wer erlebt, wie ihn die Tante anfaucht, wie er zurückbellt, wie sein Zeigefinger in der Luft zittert, versteht. Nur ein Vorhang trennt das Bett seiner Tante von der Küche, in der Poshoko auf der Couch schläft. Auch für einen EFF-Aktivisten gibt es Dinge, die ihn noch wütender machen als das System.

Ihn zieht es nach draußen. Obwohl es schon dämmert, lassen sich in den Straßen von Alexandra noch überall Menschen blicken, während die Bürger in anderen Teilen der Stadt ihr Grundstück jetzt nur noch im Auto verlassen. Poshoko und seine Nachbarn sitzen auf den zerbröselten Resten des Bürgersteigs und rauchen, kaufen knusprige Hühnerfüße bei dem Mann am Grill, den Kohlefeuer in Rauchschwaden hüllen, oder stehen um Lautsprecher, aus denen meist südafrikanischer Rap tönt. Man hört Gesprächsfetzen auf Xhosa, Sepedi, Zulu und in anderen afrikanischen Sprachen. Nur selten Englisch. Zwar ist Englisch auch eine der elf offiziellen Landessprachen. Aber wer in „Alex“, wie die Bewohner ihre Siedlung nennen, zu viel Englisch spricht, gilt als Kokosnuss: außen schwarz, innen weiß.
Poshoko trägt das rote Filzbarett, das ihn als Mitglied der EFF ausweist; sein Freund Anam Khewana, ein 20-Jähriger mit stets nachdenklichem Gesicht, hat sich ein rotes T-Shirt des „EFF Student Command“ übergestreift. Manch einer reckt die Faust, wenn sie vorbeigehen, und ruft: „Amandla!“ – „Die Macht!“ Antwort: „Awethu!“ – „Dem Volk!“ Ein Schlachtruf aus dem Kampf gegen die Apartheid. Einem Kampf, der offiziell vor 25 Jahren zu Ende gegangen ist.
Die EFF sind beliebt in „Alex“; 2013 gegründet vom geschassten ANC-Jugendführer Julius Malema als aggressive Opposition von links. Die EFF schreiben es sich auf die Fahnen, dass durch ihre Aktionen der ehemalige Präsident Jacob Zuma seine Macht nicht an seine Exfrau vererben konnte und nun wegen Korruption vor Gericht muss. Und auch, dass der ANC unter dem neuen Präsidenten Ramaphosa die Frage nach einer Landreform wieder stellt, habe mit den EFF zu tun, die sie früher, lauter und radikaler gestellt haben. Bei den letzten Wahlen zogen die EFF mit mehr als sechs Prozent ins Parlament ein. Für die Nationalwahlen im Mai sagen Umfragen sogar neun Prozent voraus. Etwa die Hälfte der Stimmen der EFF kommen von den jungen Wählern.
Das liegt auch daran, dass die EFF an Orten wie Alex zig Aktivisten mobilisieren können. Poshoko ist Chef des lokalen „Youth Command“, Khewana ist für die Studenten zuständig. Sie kümmern sich um die, die gerade ihren Schulabschluss gemacht haben, helfen bei Bewerbungen und Stipendien. „Die meisten können sich nicht vorstellen, dass jemand aus Alex zur Uni gehen kann“, sagt Poshoko. „Unsere Generation wird dieses Land beherrschen. Da können wir keine Ungebildeten gebrauchen“, sagt Khewana. „Wir müssen kämpfen!“
Kämpfen, das heißt für die beiden: sich kümmern. Kämpfen, das heißt hin und wieder aber auch: kämpfen. Als Poshoko und Khewana im „Revolution House“ vorbeischauen, das eigentlich die Wohnküche des örtlichen EFF-Führers ist, sitzt dieser mit bandagiertem Bein vorm Fernsehgerät auf dem Boden. „Du weißt ja, wie die Weißen sind – sorry, ist nicht böse gemeint –: Bin angeschossen worden.“ Bei einer Aktion der EFF. Allerdings weigert er sich auf Nachfrage, zu erzählen, was genau da passiert ist.
Poshoko und Khewana sind noch in kein Feuergefecht geraten. Aber als im Januar 2018 durch die sozialen Netzwerke geisterte, dass der Modekonzern H&M mit einem schwarzen Jungen für einen Pullover wirbt, der die Aufschrift trägt „Coolster Affe im Dschungel“, da waren sie mittendrin im Mob, der die Filialen stürmte, Spiegel zertrümmerte, plünderte. „Den Laden haben wir so richtig zerstört“, sagt Khewana. „Man wird doch sonst nicht gehört. Gewalt ist ein Mittel zur Kommunikation.“
Gewalt ist jedenfalls eine Sprache, die man in Alex leicht auf der Straße lernt. Die Nacht zuvor waren sie auf dem Heimweg um zwei Uhr früh überfallen worden. „Sie waren zu sechst, wir drei Jungs und ein Mädchen“, erzählt Khewana. Poshokos Portemonnaie und Khewanas Mobiltelefon haben die Angreifer erbeutet. „Aber wir haben uns gewehrt“, sagt Poshoko. Er hebt seine Sonnenbrille: Das linke Augenlid ist blau und so geschwollen, dass es ein Drittel des Auges überdeckt. Hat er nun Angst, wieder durch die Straßen zu ziehen? „Manchmal hast du keine Wahl“, sagt Poshoko. „Wir leben ja hier.“
Einmal hat Poshoko es schon geschafft, Alexandra zu verlassen. Da hatte er einen Job, mit Dienstwohnung im selben Gebäude. Die Wohnung lag in Sandton, einer Gegend, in der sich Gärten hinter Mauern mit Starkstromzäunen verstecken. Wo Menschen nicht Hühnerkrallen für einen Rand (sechs Eurocent) direkt auf der Straße kaufen, sondern in der Shoppingmall ihren Hunden Futter für 39 Rand spendieren: Slow cooked mit Zucchini und Huhn.
Doch dann verlor sein Arbeitgeber das Gebäude und Poshoko seinen Job. Zurück in Alex, schwor er sich: „Ich will nicht morgens aufwachen und jemanden um Brot fragen müssen.“ Und erst recht nicht seine Tante. Also muss er Kompromisse machen. An einem Dienstagmorgen kurz nach acht Uhr trägt Poshoko weder Barett noch Basecap. Dafür aber ein blau-weiß kariertes Hemd, eine frisch gewaschene Jeans und einen anderen Namen: Katlego Poshoko heißt nun Cedric Poshoko, sein Zweitname. „Das ist einfacher auszusprechen für Weiße.”
Poshoko arbeitet jetzt in einem Büro, das so groß ist wie sein Haus, an einem Schreibtisch neben Zimmerpflanze und Wasserspender. Ihm gegenüber hängen Schwarz-Weiß-Fotografien mit Szenen aus dem Leben Mandelas. Es ist der Empfangsbereich einer Praxis, die einige weiße Psychologen und Sozialarbeiter betreiben. Poshoko ist ihr Sekretär, Rezeptionist, persönlicher Assistent.
„Wir sind sehr zufrieden mit Cedric“, sagt eine Therapeutin um die 50, mit Pferdeschwanz und Brille. „Und wir wollen, dass er etwas aus sich macht.“ Daher haben sie zusammengelegt, um ihm ein Fernstudium der Elektrotechnik zu bezahlen. Wenn er gerade keine Termine planen oder Kunden empfangen muss, soll er während der Arbeitszeit studieren. „Du willst ja nicht dein ganzes Leben lang Rezeptionist bleiben“, sagt sie, ohne Fragezeichen. Dass Poshoko anstelle von Rezeptionist oder Ingenieur vielleicht Berufspolitiker der EFF wird, wissen sie hier nicht. „Ich trage meine politischen Ansichten nicht zur Arbeit. Die Leute haben doch oft eine falsche Vorstellung von den EFF“, sagt er. Und dann: „Ich weiß ja, dass es die Weißen sind, die uns Jobs geben.“

Sheri Nortje: Im Niemandsland zwischen Schwarz und Weiß
In der Diamantengräberstadt Kimberley wohnt Sheri Nortje, mehr als 400 Kilometer von Poshoko und Johannesburg entfernt. Dort teilt sie sich eine Dreizimmerwohnung mit ihrer Familie und ein Bett und eine Decke mit ihrer Mutter. Aber das treibt sie nicht auf die Straße. Nur um neun Uhr aus dem Bett. „Länger darf ich nicht schlafen“, sagt sie mit Blick auf ihre Mutter. Obwohl es ja nicht viel zu tun gibt. Die 22-Jährige hat sich auf ein paar Jobs beworben. Als Kellnerin etwa. Ohne Erfolg. „Hat ja sowieso keinen Sinn. Wir haben den falschen Nachnamen“, sagt die Mutter. „Wir haben den falschen Nachnamen“, wiederholt Sheri Nortje.
Was wäre der richtige Name? „Ein schwarzer“, sagt die Mutter. Einer, der nach Afrika klingt und nicht nach Europa. Mbeki, Zuma, Ramaphosa, aber nicht „Nortje“. Das klingt so sehr nach Niederlande wie das Afrikaans, das ihre Muttersprache ist. Es ist gut möglich, dass einige ihrer Vorfahren mal einen schwarzen Namen hatten. Dass sie Xhosa, Zulu oder Sesotho gesprochen haben. Aber das wissen weder Nortje noch ihre Mutter. Denn so lange sie zurückdenken können, hat ihre Familie in Afrika gelebt, hatte einen weißen Namen und braune Haut. Nortje und ihre Mutter gehören zu denen, die man in Südafrika Coloureds nennt, eine eigene Bevölkerungsgruppe, die 5,1 Millionen Menschen umfasst und somit annähernd neun Prozent der Südafrikaner ausmacht.

Das Apartheid-Regime zimmerte auch den Coloureds eine Schublade. Sie bekamen ihr eigenes Kästchen auf den amtlichen Formularen und wurden im Alltag einmal eher wie Schwarze, einmal eher wie Weiße behandelt. Im Gegensatz zu den Schwarzen war es Coloureds erlaubt, in jede Stadt des Landes zu ziehen. Aber auch sie durften Wohnungen und Häuser nur in extra ausgewiesenen Vierteln beziehen. Die Schulen der Coloureds bekamen mehr Geld als jene der Schwarzen, aber nicht so viel wie die der Weißen. Und wenn irgendwo die Linie gezogen wurde zwischen Blankes und Nie-Blankes, wie bei Parkbänken, öffentlichen Eingängen oder auch am Strand, dann saßen, standen und lagen die Coloureds bei den Schwarzen. Denn für alles andere waren sie nicht weiß genug. „Und heute sind wir eben nicht schwarz genug“, sagt Nortjes Mutter. „Genau“, bestätigt Nortje. Woran macht ihr das fest? „Ach, das spürt man überall. Zum Beispiel daran, dass es so schwierig ist, Jobs zu bekommen“, sagt die Mutter.
Als Mandela Präsident wurde, hatte sie gedacht, dass sich die Farben jetzt mischen. Nortjes Mutter war damals Polizistin. Auf einmal wurden sie, ganz im Geist der Regenbogennation, in gemischten Teams auf Streife geschickt. Tatsächlich zogen Menschen in Viertel, die vorher tabu waren. Bloß: Die anderen zogen dann meist weg. Und schon bald tauschten die Polizisten die Streifendienste untereinander. „Wir haben uns wohler gefühlt in unseren Gruppen“, sagt die Mutter.
Nortje und ihre Freunde sagen, dass es „kein Problem“ sei, wenn man mit Schwarzen oder Weißen befreundet ist. Aber wenn sie eine Party gibt, dann ist da unter dem guten Dutzend Gästen nur ein schwarzes Mädchen, alle anderen sind Coloureds. Und wenn ihre Clique wie an diesem Freitagabend in den Stadtpark „Oppenheimer Gardens“ zieht, dann ist der überschwemmt mit jungen Menschen: Studenten, Minenarbeiter, Arbeitslose, Schüler. Aber kaum einer, der nicht coloured ist. Dabei machen die Coloureds weniger als 30 Prozent der rund 250000 Einwohner in Kimberley und der umgebenden Gemeinde aus, gut 60 Prozent sind Schwarze.
Für Nortje und ihre Freunde sind die „Gardens“ ein Höhepunkt der Woche. Sie sitzen auf dem Rasen und auf den Waschbetonplatten am Brunnen, trinken Wodka und Limonade, rauchen Wasserpfeifen. Und wie so häufig dreht sich das Gespräch bald um die Zukunft. Nortje findet, dass die düster ist: keine Arbeit, keine Hoffnung. „Der ANC hat uns verkauft.“ Nicht Mandela, sondern die Präsidenten der vergangenen Jahre. Einer aus der Clique erinnert daran, wie Zuma sein Anwesen mit 23 Millionen Dollar Staatsgeldern renoviert hat. Inklusive eines Pools, den er als „Löschwasserteich“ deklarierte. „Dabei kann er nicht mal schwimmen!“
Dass die EFF Zulauf bekommen, findet Nortje verständlich. „Was die ansprechen, ist wichtig für unsere Generation: freie Bildung, mehr Jobs. Aber ich könnte Malema niemals wählen. Der ist ein Rassist.“ Wenn Malema zum Beispiel sagt, „wir rufen nicht dazu auf, die Weißen abzuschlachten – zumindest nicht jetzt“, dann fragen sich viele Coloureds: Bin ich schwarz genug, um nicht gemeint zu sein? Schon bald haben die anderen keine Lust mehr, über Politik zu reden, und die Party geht weiter. Aus den Autos, die mit offenen Türen neben dem Rasen stehen, pumpt der Sound.
Vor allem J. Cole ist beliebt bei Nortje und ihren Freunden. Der amerikanische Rapper, Sohn einer Weißen und eines Schwarzen, schreibt Zeilen wie „Some things you can’t escape / Death, taxes, and a racist society“ – „Manchen Dingen kannst du nicht entkommen / dem Tod, der Steuer und einer rassistischen Gesellschaft“. In Amerika gilt J. Cole als Schwarzer. In Südafrikas feinmaschigem Netz der Diskriminierung sieht man ihn nicht als coloured, sondern als „gemischtrassig“. Orientierungslosigkeit und die Unterstellung einer Komplizenschaft mit den Weißen sind Probleme, denen sich Coloureds ausgesetzt sehen. Hinzu tritt etwas, das der Politikanalyst Eusebius McKaiser in der „New York Times“ ein „nachhaltiges, lähmendes Gefühl des Opferseins“ nannte.
Mindestens drei typische Motive aus J. Coles Liedern treffen hier einen Nerv: Respekt, Geld, Status. Respekt: „Wir haben ein zu großes Ego“, sagt einer. Das sei ein Grund für die Gewalt: „Ich stech dich ab. Und weshalb? Weil du Kack erzählt hast über mich!“ Aber mit Respekt hat es ebenso zu tun, dass Nortje während ihrer Party in der Küche verschwindet, um Huhn in Soße zu kochen, extra für die ausländischen Gäste. Geld: „Ich möchte Geld verdienen, um meine Mutter bei der Miete zu unterstützen“, sagt Nortje. „Ich brauche Geld, damit ich nicht mehr zurück nach Kapstadt muss. Denn da lande ich früher oder später in einer Gang“, sagt ein anderer. „Geld verdienen“ gilt als akzeptable Antwort auf die Frage: Was sind deine Pläne? Status: Wer kein Auto oder keine Freunde mit Auto hat, leiht sich für den Abend in den „Gardens“ eines bei der Autovermietung.
Die goldenen Schneide- und Eckzähne, die sie hier fast alle haben? Kein Zahnersatz, sondern Mode; Gold zum Angeben. Sheri Nortjes Bruder träumt davon, den ganzen Mund voller Goldzähne zu haben. Sie selbst sagt, sie bereue ihren Goldzahn. Sie bereut, ihre Freitagabende in den „Gardens“ zu vertrinken. Sie bereut, einen schlechten Schulabschluss gemacht zu haben, weil sie „ungezogen und dumm“ gewesen sei, sie bereut, dass sie ihr Elektrotechnikstudium abgebrochen hat, obwohl sie nach einem Examen viel Geld hätte verdienen können.
Deswegen will sie auch das Studium wieder aufnehmen. Nicht morgen. Aber bald. „Ich kann ja nicht den ganzen Tag zu Hause rumsitzen“, sagt sie, und es klingt, als spräche ihre Mutter.
Zoey Botha: Farming auf der weißen Insel
Zoey Botha hatte die Wahl, wie sie leben möchte. Sie spricht nicht nur Afrikaans, sondern auch fließend Englisch, hätte nach Amerika auswandern können. Ihre Eltern hätten ihr ein Studium finanzieren können. Stattdessen hat sie sich entschieden, eine Farm zu gründen. Allein, mit 21 Jahren und am Rande der Halbwüste Karoo. „Das ist der einzige Ort in Südafrika, an dem man das als Frau allein machen kann“, sagt Botha. Und meint damit nicht die Halbwüste, sondern das Dorf, zu dem ihre Farm gehört.
Orania ist ein leiser Ort mit 1600 Einwohnern, mit breiten, gefegten Straßen und viel Grün, das leuchten kann, weil keine Mauern die Vorgärten umgeben. Fremde wie Einheimische grüßt man mit Handzeichen, viele schlafen nachts bei unverschlossener Tür. Selbst das Hotel bietet an, das Apartment für den Check-in am Abend einfach offen zu lassen, eine starke Geste in einem Land, das mit täglich 56 Morden (Deutschland hat weniger als sieben) zu den gefährlichsten der Welt gehört. Für Botha aber ist Orania mehr als grün und sicher. Es ist der Ort, an dem Menschen ihr Schicksal teilen. Nämlich von den niederländischen, deutschen oder französischen Siedlern abzustammen, die ab Mitte des 17. Jahrhunderts am Kap landeten, Afrika zu ihrer Heimat und sich selbst zu Afrikaandern erklärten. Weiße, die Ahnen in Europa haben, aber Wurzeln in Afrika. Und deren Vorfahren die Apartheid erfanden und zur Staatsideologie machten.

Orania ist eine Enklave dieser Weißen. Gegründet 1991, als das Ende der Apartheid absehbar war. Es ist eine Antwort auf die Frage: Wie lebt man als Minderheit in einem Land, das man eben noch beherrscht hat? Zu dieser Antwort gehörte, sich ein karges Stück Land zu suchen, auf das niemand historische Ansprüche erhebt. Und dazu gehört auch, mit einem fundamentalen Prinzip der vergangenen 350 Jahre zu brechen: der Ausbeutung schwarzer Arbeitskraft. In Orania muss alle Arbeit von den Oraniern erledigt werden. Und das ist ein Anblick, der in Südafrika noch seltener ist als offene Vorgärten: weiße Müllmänner, weiße Bauarbeiter und auf den Feldern weiße Landarbeiter.
Seit 1994 ist die Anzahl der weißen Südafrikaner von 5,1 auf 4,5 Millionen gesunken, viele von ihnen sind ausgewandert. Auch Bothas Eltern gehörten dazu: Sie gingen 1994 nach Amerika. Aber zwei Jahre später kehrten sie zurück. Ihre Kinder sollten nicht ohne Afrikaans aufwachsen, nicht ohne ihre Kultur, nicht ohne ihre Wurzeln. Orania könnte der Boden für diese Wurzeln sein, dachten Bothas Eltern und kauften Land. Aber sie kamen mit dem Klima nicht zurecht. Es war ihnen zu heiß, zu trocken. Sie zogen ans Meer. Auch Zoey Botha mag die Hitze nicht, doch sie hat beschlossen, den Traum der Eltern zu erfüllen. Im Jahr 2013 kam sie nach Orania, um auf dem Land der Familie den Beruf ihres Großvaters fortzuführen, der so eng verbunden ist mit dem Afrikaandersein, dass die Afrikaander häufig nur „Buren“ – Bauern –genannt werden.
Zoey Botha steht um 5.30 Uhr auf, auch wenn sie kein Morgenmensch ist. Sie züchtet Schafe, auch wenn sie davon zu Anfang nicht die geringste Ahnung hatte und ihr nur Bücher, Google und die Nachbarn halfen. Sie arbeitet das ganze Jahr über und kann ihre Farm nicht lange allein lassen, selbst wenn ihre liebste Erinnerung die Zeit ist, als sie mit einem Rucksack durch Europa reiste. Sie erträgt die Wüste, den Staub, auch wenn sie die anderthalb Jahre sehr vermisst, als sie auf einer Yacht jobbte und den Atlantik überquerte. Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen, Botha ist 26, und ihre Schafherde ist auf 100 Tiere angewachsen, sie baut Mais und Weizen an, und ihr Betrieb wirft Gewinn ab. Sie arbeitet auch nicht mehr allein, sondern zusammen mit ihrem Lebenspartner Stefan Smith, einem Afrikaander und Farmersohn. Ihre Wünsche für die Zukunft? Eine Herde von 1000 Schafen, ein Heiratsantrag von Smith und vier Kinder, die auf der Farm aufwachsen.
Carel Boshoff, 55, ist der Sohn des Orania-Gründers und heute Präsident der Orania-Bewegung. Der Historiker empfängt in einem kleinen Arbeitszimmer voller Bücher und nimmt sich Zeit, die Sicht der Oranier zu erklären. Dialog sei ein Teil ihrer Überlebensstrategie. Wenn Kritiker zum Sturm gegen Orania reiten, dann mache Orania die Tore weit. Als der heutige EFF-Führer Julius Malema, der gern alle anderen als Rassisten bezeichnet, einmal zu Besuch in Orania war, sagte er später gegenüber den Vertretern der Presse, er hätte damit gerechnet, dass ihn schwer bewaffnete Afrikaander daran hindern würden, die Stadt zu betreten. Stattdessen hätten sie ihn zum Gespräch eingeladen. Es sei schön, zu sehen, wie die Oranier Hand in Hand arbeiteten. „Wir kümmern uns um uns selbst“, sagt Zoey Botha. „Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll.“
Nicholas Gey van Pittius & Karis Topkin: Die nächste Generation
Auch Nicholas Gey van Pittius ist ein Born Free. Aber mit Aszendent Regenbogen. Seine Kindheit und Jugend hat er in Bloemfontein verbracht. Als einziges Kind einer weißen Mutter, die alleinerziehend und berufstätig war, blieb Gey van Pittius oft bei einer Familie in der Nachbarschaft, die aus Nigeria kam. Deren Söhne und Töchter wurden gute Freunde. „Eher: Geschwister.“ In manchen Schulen seiner Kindheit waren nur Weiße wie er, in anderen war alles gemischt: Inder, Schwarze, Chinesen, Coloureds. „Ich habe nie gelernt, auf die Hautfarbe zu achten.“ Deswegen hat er sich auch nicht viel dabei gedacht, als er sich in Karis verliebte, die hübsche Coloured, die er immer häufiger beim Tanzen traf.
Karis Topkin, heute 26, war 22 Jahre alt, als sie Gey van Pittius kennenlernte. Zum ersten Mal sahen sie sich in einem Club in Bloemfontein, wo beide studierten. Sie tanzte mit ihrer Clique. Gey van Pittius wollte auch tanzen, war aber mit weißen jungen Männer da, die sich nur an ihrem Bier festhielten. Irgendwann stand er bei Topkin: „Darf ich neben dir tanzen?“ „Zu Hause hieß es immer: Charakter vor Farbe“, sagt sie. Es gibt keine verschiedenen Hautfarben, erklärte ihr der Vater, nur verschiedene Schattierungen von Braun. Er erzählte ihr manchmal auch die Geschichten aus der Zeit, als er studierte und einer von neun Coloureds unter 10000 weißen Studenten war. Wie er damals mit einem weißen Mädchen ausging. Eine Zeit lang lief alles gut. Eines Abends nach einem Konzert verprügelte ihn eine Gruppe weißer Jungen. Nur ein blaues Auge, blaue Flecken, aber trotzdem war etwas zerbrochen. „Irgendwann haben wir es aufgegeben“, sagt er. Für Topkin waren das Geschichten aus einer vergangenen Ära. Ihr erster Freund war ein Chinese, später war sie mit einem Griechen zusammen.

Als Gey van Pittius und sie ein Paar wurden und sie es ihrem Vater erzählte, sagte er: „Okay, und wie reagieren die Leute darauf?“ Er wusste ja, wie viele denken. Gey van Pittius’ Mutter sagte: „Glücklicherweise ist sie nicht schwarz.“ Aber das sei ihr eher rausgerutscht, sagt er. Eigentlich sei es „keine große Sache“ für sie gewesen. „Bei unserem ersten Treffen hat sie sich viel Mühe gegeben“, sagt Topkin.
Dann wurde sie schwanger. Und all die Leute, die vorher über das gemischte Pärchen gelächelt hatten, schwiegen nicht mehr länger. „Armer Nicholas“, zischten sie im Vorbeigehen. „Welches Kästchen werdet ihr ankreuzen nach der Geburt? Weiß oder “, fragte eine Arbeitskollegin. „Geht dich nichts an“, antwortete Topkin. Aber ihr war klar: „Alle hier wollen das wissen.“ Und auch Gey van Pittius’ Mutter lächelte nicht mehr. „Sie muss das Kind abtreiben“, sagte sie zu ihrem Sohn. Sie habe sich vor allem Sorgen gemacht, dass er mit 22 schon Vater werde, meint dieser. Vor allem. Aber nicht nur.
Bislang war die Beziehung der beiden aus Sicht der Mutter wohl nur eine Phase gewesen. Etwas, das man im neuen Südafrika als Weiße nicht ablehnen konnte. Zumindest nicht öffentlich. Bei der Babyparty zwei Monate vor der Geburt steht Karis Topkin neben Gey van Pittius’ Mutter in der Küche. Eine Freundin von ihr ist auch dabei. „Freuen Sie sich auf das Baby?“, fragt sie die Mutter. „Ach, nicht wirklich.“ Topkin geht wortlos aus dem Raum. „Meine Mutter ist einer Zeit aufgewachsen, die es ihr schwer macht, sich vorzustellen, dass da nun eine andere Rasse Teil ihrer weißen Familie wird“, sagt Gey van Pittius. „Wir waren damals alle so indoktriniert“, sagt Topkins Vater. Er werfe es niemandem aus der Generation der Alten vor, wenn sie das nicht so leicht abschütteln können. „Aber ich werfe es der Generation von Karis und Nicholas vor, wenn sie nicht ihre Schlüsse daraus ziehen.“
In ihrem Alltag gibt es so gut wie nichts, das Topkin und Gey van Pittius nicht durchdacht hätten: Sie meditieren am Morgen, üben Yoga und trinken jeden Mittag einen Smoothie, in dem sie manchmal die Bananen durch Zucchini ersetzen, um den Zucker zu reduzieren. Topkin hat ihren Sohn bei einer Wassergeburt zur Welt gebracht, und Gey van Pittius hat sich in den Handel mit Kryptowährung reingefuchst, um dem Paar irgendwann den Traum von der Vierstundenwoche zu erfüllen. Nur wenig, was ihr Leben ausmacht, stammt aus der Welt der Eltern. Wieso sollten sie ausgerechnet den Rassismus übernehmen? Sich mit den Altlasten der Väter und Vorväter abplagen?
Aber, sagt Gey van Pittius, oft sei einem der Blick nicht bewusst, den man geerbt habe. Manches Wort, das ihm geschmeidig über die Lippen geht, hat für Topkin scharfe Kanten. Etwa einen erwachsenen Gärtner „Boy“ zu nennen oder eine Haushaltshilfe „Maid“. „Vieles habe ich erst verstanden, als ich Teil von Karis’ Familie wurde“, sagt er. Und auch seine Mutter verstehe inzwischen mehr, sagen Gey van Pittius und Topkin. Weil sie ihren Enkel Noah kennengelernt hat, der eben coloured ist. Weil Gey van Pittius und Topkin nicht aufgeben und ihr beharrlich widersprechen, wo es nötig ist. Und auch weil sich längst gezeigt hat, dass sie ihr Leben mit dem Kind nicht zerstört hat. Im Gegenteil. Die beiden sind jetzt verlobt, sie betreiben einen Internethandel mit Bioprodukten für junge Mütter. Und sie haben sich entschieden, ein weiteres Kind zu bekommen.
Am 7. Dezember 2018 wird Mateo Raphael Gey van Pittius geboren. Sohn einer Südafrikanerin und eines Südafrikaners. Und einer großen Idee. „Ein neuer Born Free“, sagt Topkin.