Das "Dorf der Millionäre"
An einem Tag wie diesem müssen sie vorsichtig sein. An einem Tag wie diesem kann der See für die drei Männer zur Falle werden. Wenn der Frost nicht streng genug ist, wenn eine stumpfe Wolkenschicht die Sonne verschluckt und der Schnee mit dem Himmel verschmilzt, dann sind die Spalten in der Eisschicht besonders tückisch und kaum zu erkennen. Dann kann es geschehen, dass einer durch das splitternde Eis bricht – oder schlimmer noch: dass ein Kamel, das den Schlitten zieht, im See versinkt, zusammen mit dem rohen Holzgestell, auf dem die Netze liegen und der Fang eines Tages.
Die endlosen Uferbereiche des Aralsees
Uferloses Weiß umfängt die drei Fischer und schließt sich weich hinter ihren Schritten. Behutsam prüfen sie Schneehaufen, mit denen sie beim letzten Ausflug Risse im Eis markiert haben. Wie oft sind sie eingebrochen in den endlosen Uferbereichen des Aralsees, wie oft haben sie bei Minusgraden bis zu den Schultern im Wasser gestrampelt, bevor die anderen zu Hilfe kamen. Und sie werden einbrechen an diesem Tag. Vier Stunden zuvor, im Morgengrauen, sind Kadirbai Ibragiew, Jakslik Kischimbajew und Ertaz Akoschkarow im kasachischen Ort Tastubek losmarschiert, und gerade erst haben sie das Ufer hinter sich gelassen. Weit ist der Weg zum Wasser geworden. Mehr als 17 Kilometer ist der einstige Küstenort nun vom Aralsee entfernt, der mit einer Fläche von 66.000 Quadratkilometern einmal das viertgrößte Binnengewässer der Erde war und in den vergangenen Jahrzehnten auf ein Fünftel seiner ursprünglichen Wassermenge geschrumpft ist. Ertaz, der keine Kamele besitzt, schiebt sein Motorrad über das glatte Weiß. Im Beiwagen liegen Netze. Stoisch schaukeln die Kamele voran, Reif im Fell, Eis in den langen Wimpern. Ungerührt setzen sie ihre breiten Ballen in den knirschenden Schnee. Die Tiere sind das Wichtigste, was den Männern geblieben ist. Und zugleich ein Symbol des Abstiegs. Jaksliks Vater kommandierte einen Fischdampfer auf dem Aralsee, sein Sohn treibt ein Trampeltier zu Eislöchern hinaus.
Das "Dorf der Millionäre"
Es gab eine Zeit, da die Heimat der Männer eine Berühmtheit war. Das "Dorf der Millionäre" wurde Tastubek genannt; in den 1950er Jahren, als Trawler Tausende Tonnen Fisch im Hafen löschten, als die Kapitäne die Planvorgaben der kommunistischen Regierung übererfüllten und der Tastubeker Kaviar aus den Stören des Aralsees selbst in Moskau hoch geschätzt wurde. Bis der Aralsee schrumpfte, schleichend zuerst gegen Ende der 1950er Jahre, dann immer schneller, als hätte jemand auf dem Seegrund einen Stöpsel gezogen; und schließlich 1967 im Tastubeker Hafen nur noch Staub blieb, in dem die Schiffe auf die Seite sanken - Mahnmale eines ökologischen Desasters. Als das Wasser versickerte, liefen auch die Bewohner davon. Mehr als 100.000 Menschen flohen im Laufe der Jahrzehnte aus einer einst fruchtbaren Region, die sich in ein mit chemischen Rückständen belastetes Ödland verwandelte, vergiftet von Pestiziden, die etwa auf den riesigen Baumwollplantagen in Unmengen versprüht wurden.
Stürme verteilten nun jedes Jahr schätzungsweise 200.000 Tonnen Sand und toxischen Puder über dem Land, der Kehlkopf- und Speiseröhrenkrebs auslöste; der Augenentzündungen verursachte und Missbildungen bei Säuglingen. In manchen Regionen starb jedes zehnte Kind schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Sowjetische Planer hatten die Zuflüsse des Aralsees auf Baumwoll- und Reisfelder umgeleitet und eine Agrosteppe von der Größe Schottlands geschaffen. So versiegten die Ströme Syrdarja im heutigen Kasachstan und Amudarja im südlich gelegenen Usbekistan, ehe das Wasser, aus den Gebirgen Tien-Schan und Pamir kommend, den See erreichte. Die einst blühenden Uferbereiche des Aralsees wurden zur Wüste. Und auch die künstlich beregneten Anbauflächen in den trockenen Weiten Zentralasiens verödeten: Mehr und mehr versalzten die Böden, blies im Sommer der heiße Wind Staub vor sich her, wo einst Baumwollflocken schaukelten.
Wer viele Kamele besitzt, ist ein bedeutender Mann
In Tastubek, am nördlichen Ende des Aralsees, harren nur noch 17 Familien aus. Sie hausen in den wenigen Gebäuden, die der salzige Wüstenwind noch nicht zu Staub zermahlen hat, dort, wo einmal weiße Häuschen mit adretten Fensterläden in prächtigen Gärten standen. Und nun können auch die wenigen verbliebenen Fischer nur noch dank ihrer Kamele Fischer sein. Nach einem halben Jahrhundert der Technisierung und des industriellem Überschwangs sind die Menschen von Tastubek wieder zur Lebensweise von Steppenbewohnern zurückgekehrt. Schiffskapitäne sind Viehzüchter geworden. Wer viele Kamele besitzt, wie Jakslik, ist ein bedeutender Mann. Sie liefern ihm Fleisch für Mahlzeiten an Festtagen, Milch für die Kinder, Wolle. Wer über eine Herde verfügt, muss nicht an Flucht denken, er kann darauf hoffen, mit seiner Familie in der baumlosen Einöde zu überleben.
In 15 Minuten den Wasserinhalt einer Badewanne saufen
Die zweihöckrigen Trampeltiere gehören zu den anspruchslosesten Säugetieren der Erde. Sie ertragen die Hitze in der staubigen Wüste des kasachischen Sommers ebenso wie 40 Grad Celsius unter null. Sie verwerten die Salzkräuter, die auf dem ehemaligen Seeboden wachsen, und trinken das brackige Wasser an den zurückgewichenen Ufern, ohne daran zu erkranken. Kamele kommen zwei Wochen lang ohne Flüssigkeit aus, können dann aber innerhalb von 15 Minuten den Wasserinhalt einer Badewanne saufen. Ihre beiden Höcker enthalten nach einer Sommermast mit den kleinen Blütenkräutern der Steppe bis zu 2,7 Millionen Kilojoule in Form von Fett - eine Energiemenge, die gut 800 menschlichen Mahlzeiten entspricht und die Tiere einen Winter lang ernähren kann. Jaksliks Hände sind dunkelrot, als er mit einer langen Stange ein Loch in die gefrorene Kruste des Sees hackt. Er ist ein gedrungener, kräftiger Mann. Kadirbai, der Hagere mit dem scharf geschnittenen Gesicht, hilft ihm. Sie keuchen vor Anstrengung und schlagen mühsam ein zweites Loch frei, dann einige weitere jeweils im Abstand von etwa zehn Schritten.
Mit den Händen ins Eiswasser
Nach dem ersten harten Frost, als das frische Eis über dem Restsee noch klar war wie Glas, haben die Fischer ihre bis zu einen Kilometer langen Fangstrecken vorbereitet: Dazu haben sie eine hohle, schwimmende Lanze unter der transparenten Hülle des Sees hindurchkatapultiert. Wo der Speer zum Halt kam, haben sie ein Loch gehackt und dem Gerät neuen Schwung gegeben. Auf diese Weise spannten sie eine dünne Leine unter dem Eis und befestigten daran mit einem dicken Zugseil ein Netz. Nun können es die drei Männer wie einen Vorhang unter dem Eis zusammenziehen, um es dann durch ein Loch nach oben zu hieven und ihren Fang zu ernten. Mit bloßen Händen tastet Jakslik im Eiswasser nach den Schwimmern des Netzes. "Handschuhe brauchen wir nicht", sagt er, "die frieren bloß am Arm fest".
An guten Tagen sammeln die drei 200 Kilo Plattfische. Sie bringen ihnen gemeinsam bis zu 7000 Tenge ein, umgerechnet 40 Euro. Um die Ausbeute zu erhöhen, sind die Maschen klein, enger, als es das Gesetz erlaubt, aber wer merkt das hier schon? Und wenn die staatlichen Inspekteure doch einmal kommen, dann spendieren die Männer ihnen Schnaps. Jakslik hat aus dem bereiften Garn eine frische Flunder geklaubt und hält sie seinem Kamel hin. Wie selbstverständlich zermalmt das Tier den Fischzwischen den Kiefern. Wenn es kein Steppengras gibt, frisst ein Kamel eben Plattfisch. 24 Fischarten lebten im Aral, als er noch ein Süßwassersee war. Nach und nach verschwanden sie: die kapitalen Karpfen, die schlanken Störe. Im zur Salzlake gewandelten See gediehen dann nur noch Flundern. Sowjetische Forscher hatten sie versuchsweise in den 1970er Jahren ausgesetzt. Kadirbai und Jakslik verachteten die braunschwarzen Wesen mit den Glotzaugen. Niemand mochte sie essen, niemand sie kaufen. Erst Mitarbeiter der dänischen Hilfsorganisation "Lebendige See" überzeugten die Tastubeker davon, dass Flundern einen Handelswert haben, und lehrten die Kamelbesitzer das Handwerk der Ostseefischer. Mittlerweile steht die kasachische Organisation "Aral Tenizi", Aralsee, den Dorfbewohnern zur Seite. Zehn Stunden am Tag sind die drei Männer im Winter hier draußen, ohne eine Mahlzeit, bei oft 20, 30 Grad Celsius unter null. Aber sie sind selbstständig und verdienen ein Einkommen mit ihrer Hände Arbeit, das ist es, was für sie zählt. So viele andere sind arbeitslos und ertränken ihre Tage in Schnaps.
Abgeschnitten von der Außenwelt
Jakslik, Kadirbai und Ertaz klagen nicht. Gewiss, der Stromanschluss könnte endlich wiederkommen, der ihnen vom kasachischen Präsidenten schon vor Jahren versprochen wurde. Sicher, etwas mehr könnte man in den Dörfern am Aralsee investieren von den Gewinnen aus dem Ölgeschäft des Landes. Und eine winterfeste Straße zum zurückgewichenen Ufer wäre gut, eine Piste, wenigstens eine Schotterspur. Im Winter ist der Ort so gut wie abgeschnitten von der Außenwelt, nur dann und wann wird in der 75 Kilometer entfernten Bezirkshauptstadt Aralsk ein Konvoi zusammengestellt, der sich zu den ehemaligen Ufergemeinden durchschlägt. In Tastubek, in einem niedrigen Haus, lässt Kadirbais alte Mutter kleine Steine gegeneinanderklirren. Sabira Ibragiewa ist blind, aber ihre mit glitzernden Ringen geschmückten Finger sind flink wie die eines Mädchens, als sie die cremefarbenen Kiesel auf ein Papier wirft. Sie glaubt, sie könne mihilfe der Steine in die Zukunft schauen, könne vorhersehen, ob die Männer heil und mit reichem Fang zurückkehren werden. Denn an diesem weiteren Tag, an dem die Fischer ausgezogen sind, hat ein Schneetreiben eingesetzt.
Der Wasserspiegel steigt wieder
Auf der Brust der alten Frau baumelt ein filigranes Medaillon. Ein Schmuckstück aus der Zarenzeit, ihre Hände haben es stets geputzt. Sie trug es schon, als sie über die Tanzfläche flog, als Wodka und Tränen flossen bei den Kolchosfesten im "Dorf der Millionäre". Tastend rücken ihre alten Hände das Medaillon zurecht. Ziseliertes Silber, fein und facettenreich, das Symbol einer untergegangenen Epoche, ehe alles trostlos wurde, bevor das Wasser fortblieb und die Menschen gingen. Aber die Stimmen im Fernsehen haben gesagt, dass es einen neuen Damm gibt und damit neue Hoffnung. Einen Damm, der das wenige Wasser aus dem Fluss Syrdaja, das noch im Norden im See ankommt, vor dem Verdunsten bewahrt. Der Damm steht dort, wo sich das Binnenmeer beim Austrocknen geteilt hat, in den nördlichen "Kleinen Aralsee", an dem Tastubek und Aralsk liegen, und einen größeren, südlichen Teil.
Der Wasserspiegel steigt wieder
Zwei Mal bereits hatten Planierraupen einen Wall zwischen den beiden Gewässern gezogen, die einmal eins waren. Beide Male spülte ein kurzes Hochwasser den Sand wieder fort. Doch 2005 hat die Weltbank mit 64,5 Millionen Dollar einen soliden Damm finanziert. Und das Bauwerk scheint zu halten. Um mehrere Meter ist der Wasserspiegel des nördlichen Teils wieder gestiegen, um ein Drittel hat seine Fläche wieder zugenommen; sogar Störe sollen hinter dem Staudamm eines Tages wieder siedeln – und damit die Kaviarernte ermöglichen. Jahrzehnte hat Sabira gewartet. Hat an der Hoffnung festgehalten. Vielleicht nicht vergebens, wie es ihr jetzt erscheint. Auf dem See verliert sich Kadirbais Blick im Nebel, der die schwer atmenden Männer umgibt. Die gerötete Haut ihrer Gesichter ist von so vielen Fältchen durchzogen, als wären die drei schon Greise und nicht erst in ihren Dreißigern. Es beginnt nun heftiger zu schneien. Der frische Schnee macht den Untergrund tückisch. Knisternd schmelzen die Flocken auf dem heißen Auspuff von Ertaz' Motorrad. Vielleicht, fantasiert Jakslik, bereitet seine Frau für die Rückkehr der Männer schon den "Beschparmak" zu, das kasachische Nationalgericht, einen kalorienreichen Eintopf aus Nudelteig, Fleisch und Fett, den man mit den Fingern isst.
Fischleiber erstarren zu unansehnlichen grauschwarzen Blöcken
Die Fischer verkaufen ihren Fang an "Kommersanty", fliegende Händler, die durch die Dörfer fahren und den Fang auf die Pritschen ihrer alten Sowjet-Lastwagen verfrachten. Im Herbst zahlen sie für ein Kilo Flundern 35 Tenge, rund 20 Euro-Cent, im Frühjahr manchmal nur fünf Tenge. Da die Händler im Winter selten kommen können, müsste es Kühlhäuser für die Zwischenlagerung der Fische geben. So aber erstarren die Fischleiber im Freien zu unansehnlichen grauschwarzen Blöcken. Wenig Geld bleibt im Dorf, es reicht gerade für ein bisschen Diesel, um den Generator laufen zu lassen und mit dem Strom ein unscharfes, verschneites Fernsehbild empfangen zu können. Immerhin plant nun die Hilfsorganisation Aral Tenizi eine Fischfabrik nach europäischen Hygienestandards, mit Spenden finanziert. Lange hat das dafür vorgesehene Gebäude verwaist gelegen, ausgeweidet von den verzweifelten Bewohnern. Inzwischen bewachen Frauen die Halle, damit nicht noch mehr gestohlen wird.
Und dann passiert es. Das Eis zerbricht unter Ertaz. Das Vorderrad seines Motorrads taucht ab, und mit ihm der um sich schlagende Ertaz. Nur Hinterreifen und Auspuff der Maschine schauen noch aus dem Wasser. Während Kadirbai die Kamele hält, wirft sich Jakslik auf den Bauch, um seinen Cousin zu sich an den Eisrand ziehen zu können. "Nein, nein, das Motorrad! Hilf mir beim Motorrad!", schreit Ertaz. Er rudert durch das sofort wieder gefrierende Wasser. Mit aller Kraft, die sie aufbringen können, reißen die anderen am Hinterreifen. Sie fluchen. Die Maschine ist schwer, und es schneit nun noch heftiger. Erst zu Jahresbeginn 2007, das wissen sie, hat ein Sturm draußen auf dem See ein gewaltiges Stück Eis abgerissen und 38 Fischer darauf nach Osten abgetrieben. Der Winter ist zu mild gewesen, die Wasseroberfläche war nicht so fest wie sonst gefroren. Nur mithilfe von Hubschraubern konnten die Männer gerettet werden. Aber ihre Netze, ihre Motorräder, auch ein paar Autos waren verloren.
Erst spät in der Nacht kehren Kadirbai, Jakslik und Ertaz heim. Es hat Stunden gedauert, die Maschine zu bergen. Sie sind nass und von einer härter werdenden Reifschicht überzogen. Aber sie leben. Kadirbais Frau schürt den Herd und wirft ein Stück Fleisch in den Suppentopf. Jakslik holt eine Flasche Wodka aus dem Schuppen. Die alte Sabira berührt hin und wieder das Medaillon auf ihrer Brust. Sie hat nicht vergebens gewartet. Sie tätschelt den Arm ihres Sohnes Kadirbai, der es widerwillig hinnimmt. In der Wiege hustet der Säugling. Sabira lauscht den Geräuschen. Schon bald werden die Kinder wieder das Wasser sehen, hofft sie, das große kasachische Meer, den Segen ihrer Heimat. Der neue Damm wird halten. Vielleicht wird ihr Enkel einmal die Fischfabrik leiten? Vielleicht wird er Kapitän? Die Männer verziehen sich zum Trinken nach nebenan, die Frauen tragen das Geschirr ab. Der Fernsehapparat ist eingeschaltet. Aber zu sehen ist nur, was auch der Blick aus dem Fenster zeigen würde: Schneegestöber.