Den "König von Biebrza" nennen ihn die Leute halb spöttisch, halb neidisch. Wer in dieser Sumpflandschaft die besten Angelplätze sucht, um einen kapitalen Hecht aus dem Wasser zu ziehen, wer auf eine Chance hofft, Wölfe in freier Wildbahn zu beobachten, der bittet Krzysztof Kawenczyński um eine Audienz. Niemand kenne das Feuchtgebiet besser als der Eremit, sagen die Dörfler aus dem nahen Weiler; er wisse, wo die Fischotter ihre Höhlen in die Flussbänke graben, kenne die Wanderwege der Elchkühe mit ihren Kälbern, bestimme jede noch so seltene Vogelart anhand ihres Schreis. Als der Warschauer Fotograf Tomasz Tomaszewksi das erste Mal von ihm hörte, während er über Monate durch die Woiwodschaft Podlachien in Polens Nordosten reiste, glaubte er, der "König" sei bloß eine Legende. Ein paar Wochen später saß er selbst in der vollgepfropften Küche des Einsiedlers mit dem wilden grauen Schopf, einem Sammelsurium blecherner Teekessel und Heiligenbildchen auf roh behauenen Regalbrettern, von Madonnenstatuen und ausdrucksstarken Tiermasken. Kawenczyński hatte sich vor mehr als zwanzig Jahren in diese Einsamkeit zurückgezogen, er hielt das moderne Leben in Warschau nicht länger aus. "Der Mann ist unglaublich", sagt Tomaszewski ehrfürchtig, "er hat ein solch immenses Naturwissen. Und auch einen bemerkenswerten Sinn für naive Kunst." Krzysztofs Holzhütte und ein paar alte Räucherschuppen, die sich mühsam gegen wuchernde Büsche behaupten, bergen eine Art anarchisches Mini-Museum, versteckt vor den Augen der Welt. Im Schilfsaum des nahen Wasserarms zirpen Seggenrohrsänger und Weißflügel-Seeschwalben, im Sommerhimmel fliegen Fischadler auf Patrouille ihre Schleifen.
Menschen wie dieser Eigenbrötler haben es dem Fotografen ebenso angetan wie Podlachiens weite Urlandschaften und ihr Naturreichtum: Erstaunliche 300 Vogel-, 45 Fisch- und 60 Säugetierarten leben in den vier Nationalparks der Region, einer davon sogar Unesco-Welterbe, und in den 93 Naturschutzgebieten. Hunderte urtümlicher Wisente, fast ausgestorbene Europäische Bisons, streifen wieder wild durch den BiałowieŻa-Nationalpark, einen Urwald an der Grenze zu Weißrussland. "Podlasien", kein Wunder, ist das polnische Wort für "unter dem Wald"."Ich bin manchmal eine Stunde wie in einem Tunnel durch dichte Wälder gefahren, ohne einen anderen Menschen zu sehen", erzählt Tomaszewski, "und stieß dann im nächsten Dorf auf Weißrussen, Ukrainer und Litauer, auf altrussische Orthodoxe und muslimische Tataren, eine für Polen einmalige multikulturelle, vielsprachige Mischung. Teils tiefgläubige Menschen, die hier als Minderheiten über Jahrhunderte meist friedlich zusammengelebt haben." Nur die jüdische Bevölkerung fehlt, die früher in einigen Gegenden und Städten Podlachiens die Mehrheit bildete. Sie hat den Terror der Nazis nicht überlebt, wurde im Holocaust ausgelöscht. Einige wenige Synagogen wurden wiedererrichtet, dienen aber mangels Gläubigen heute als Kulturzentren und Museen. Mit seinen Bildern will der Fotograf den eigensinnigen Menschen Podlachiens ein Denkmal setzen.
Leon Tarasewicz zum Beispiel, dem Maler und Kunstprofessor mit weißrussischen Wurzeln, der das Logo der Woiwodschaft schuf: ein Wisent als buntes Mosaik. Jede Farbe soll für eine der vielen Volksgruppen stehen. Neben der Kunst hegt Tarasewicz eine Leidenschaft für Federvieh aus aller Welt, er sammelt Hühner, wie jene seltene javanische Rasse mit schwarzen Federn und schwarzem Fleisch, die er seinem Besucher stolz vorführte. "Ich besuchte ihn an einem kühlen Morgen mit tiefblauem Himmel", erinnert sich Tomaszewski an die Begegnung. Hinter dem Haus des Professors schimmerten zwei Teiche in der Sonne, auf einem paddelten zwei Schwäne. Schwarze Schwäne, wie sie der Gast noch nie gesehen hatte. "Das sind meine Freunde", rief der Vogel-Enthusiast und stieg in Anzug und Schuhen bis zur Brust ins Wasser. Als wäre dies eine Traumszene, schwamm einer der Schwäne herbei und legte seinen Hals um den von Tarasewicz. "Ich war zu perplex, um meine Kamera zu holen", hadert Tomaszewski bis heute und porträtierte den wieder trockenen Künstler mit seinen Hühnern. "Ich mochte die Leute in Podlachien mit jeder Begegnung lieber", sagt der Fotograf. "Sie leben ein anderes Leben als sonst wo im Lande, traditionsbewusster und doch weltoffen." Der Lebensstandard im Vierländereck liegt im Vergleich zu Europa allerdings extrem zurück: Das Pro-Kopf-Einkommen in der Woiwodschaft mit ihren knapp zwei Millionen Einwohnern erreicht gerade ein Drittel des Durchschnitts in Deutschland. Ein wenig Holzwirtschaft, Molkereien, eine Werft für Jachten und ein Traktorenwerk, viel mehr Industrie gibt es nicht. Podlachien war immer Grenzgebiet, heute als Außengrenze der EU zu Weißrussland und der russischen Exklave Kaliningrad.
"Ein Besuch dort ist manchmal wie eine Zeitreise", sagt Tomasz Tomaszewski, "und das nur rund 200 Autokilometer von Warschau entfernt." In den Dörfern tragen Großmütterchen Einmachgläser mit Gemüse über die Straßen mit Katzenkopfpflaster zur Verwandtschaft, vorüber an windschiefen Holzhäusern mit aufwendig geschnitzten Fensterstöcken. Viele Kilometer lang unterbricht kein Zaun, kein Mast die sanft geschwungenen Hänge der eiszeitlichen Endmoränenlandschaft – "so schön wie die Toskana rings um Siena", sagt Tomaszewski über Podlachiens Norden. Am meisten aber staunte der Fotograf über eine Szene in Policzna im Süden der Region: Auf einer Pferdekarre rollten ein kleiner Junge und seine Oma durch das winzige Dorf und unterhielten sich gut gelaunt. Neben ihnen saß eine junge Frau mit nackten Beinen und einem riesigen Pferdekopf. Ein surreales Bild. Doch die Dörfler benahmen sich, als wäre das völlig normal. Der Einzige, der es nicht fassen konnte, war der Gast aus der Großstadt. Die Frau mit dem Papierkopf war eine Schauspielerin des allsommerlichen Wertep-Festivals, die im Dorf für ihr Theaterstück warb. Und anders als bei den schwarzen Schwänen war Tomaszewski dieses Mal geistesgegenwärtig genug, auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken.