Sie sind da gewesen, um ihn zu holen, 20 Geheimpolizisten, vorgefahren in sechs Wagen, eben gerade erst, sie haben die Wohnung gestürmt, behauptet, es gebe einen Haftbefehl gegen ihn, er sei in Abwesenheit zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden ...
Wael Abbas, der gerade noch, das Handy am Ohr, in der Halle des Beiruter Flughafens auf und ab gerannt ist, muss sich nach dem Anruf seiner Mutter setzen. Sie hat den Polizisten nicht verraten, dass ihr Sohn im Libanon ist. Doch die Konferenz, zu der er eingeladen war, ist zu Ende. In wenigen Minuten wird seine Maschine zurück nach Kairo starten.
Sein Gesicht ist fahl. Ägyptens einflussreichster Internetpublizist, 35 Jahre alt, Jeans, lange Koteletten, schwarze Armeejacke, fragt sich, ob er ins Flugzeug steigen oder untertauchen soll. Er ist gewarnt. Vor Kurzem hatte eine junge Frau versucht, sich im Internet mit ihm auszutauschen, genauer: ihn auszuhorchen. Doch Abbas durchschaute die Avancen, die junge Frau war eine Spur zu anzüglich - sie war ein Spitzel des Geheimdienstes.
"Vergiss das Gesetz, WIR sind das Gesetz!", ließ man ihn daraufhin wissen. "Hurensohn! Du glaubst, du kannst unser Land retten? Wenn du uns eines Tages in die Hände fällst, wirst du wimmernd um Hilfe betteln!" "Weblogs" zu verfass en, kürzer Blogs, also Tagebücher, Informationen, Beobachtungen, Kommentare in das World Wide Web zu stellen: Es ist in Ländern mit Presse- und Informationsfreiheit zur Selbstverständlichkeit für Abermillionen Menschen geworden. Eine Parallelöffentlichkeit aus Abermillionen privater Ansichten, eine Stimme des Volkes, ein Freiraum, der die Dimension einer Grußkarte haben kann - und die einer stillen Revolution.
Aber dies ist die Geschichte des Bloggers Wael Abbas, und auch er steht für Millionen. Für jene Millionen Menschen, die ein existenzielles Wagnis eingehen, wenn sie öffentlich machen, was sie denken, was sie wissen. Obwohl sie nur wollen, was andernorts so normal ist wie die Luft zum Atmen. Zum Beispiel: Demokratie.
Miserables Rating in Sachen Pressefreiheit
Ägypten. Man könnte, um die Geschichte des Wael Abbas so oder ähnlich zu erzählen, auch China nehmen oder den Iran, auch Vietnam oder Syrien, auch Birma oder Tunesien; es ist eine Geschichte über diese Welt, manchmal nicht weit von uns. Auf der von "Reporter ohne Grenzen" veröffentlichten Rangliste über die Grade der Pressefreiheit, die auch über die Freiheit von Nichtjournalisten, über die allgemeine Meinungsfreiheit Auskunft gibt, rangierte Ägypten 2009 auf Rang 143 - in 32 Ländern stand es noch schlimmer.
Offiziell bewacht die "Nationale Aufsichtsbehörde für Telekommunikation" das Internet in Ägypten. Doch de facto lässt der dem Innenminister Habib el-Adly unterstellte Polizeiapparat Widersacher wie Wael Abbas spüren, wie allgegenwärtig die Kontrolle im Lande ist. Mit 1,5 Millionen Mann inzwischen dreimal so stark wie die Armee, halten el-Adlys Polizisten allen Austausch von Informationen in Schach. Es ist ein Land, in dem die Redakteure der drei größten Tageszeitungen von Ägyptens Staatsoberhaupt Hosni Mubarak persönlich ausgesucht werden. Auch alle Rundfunksender unterstehen ihm, die meisten der über 500 Zeitungen und Magazine im Land. Allein im vergangenen Jahr hat der Staat 14 Nachrichtenmedien die Lizenz entzogen.
Seit Mubarak 1981 Nachfolger des von Fundamentalisten ermordeten Präsidenten Anwar es-Sadat geworden ist, regiert er mithilfe des Ausnahmezustandes; der ausgerufen wurde, um gegen die damaligen Attentäter vorgehen zu können. Doch auch 28 Jahre nach deren Verurteilung findet der 82- jährige Staatschef immer wieder einen Vorwand, um den Notstand zu verlängern. "Statt den Terror zu bekämpfen, terrorisiert der Ausnahmezustand das Land", sagt Wael Abbas. Was kann einer wie er dagegen tun?
Unbequeme Cyber-Dissidenten
Menschen wie er, "Cyber-Dissidenten" genannt, haben begonnen, aus einem virtuellen Raum heraus Widerstand zu leisten. Einen Widerstand, der aus Sicht der Macht schwer beherrschbar ist. Einem Blogger kann man nicht wie einem Reporter damit drohen, seine Redaktion zu schließen. Man könnte ihn vielleicht umbringen, wenigstens jedoch ins Gefängnis werfen. Rund um den Erdball sind darum mehr Blogger in Haft verstummt als Printjournalisten, laut "Reporter ohne Grenzen" mindestens 116, die meisten in China (siehe Kasten auf Seite 122).
Warum ein einzelner Blogger wie Wael Abbas einem Regime gefährlich werden kann, zeigt folgende Episode: In Bulaq al-Dakrur, einem ärmlichen Ort am Rande Kairos unweit der Pyramiden, wird der 21-jährige Minibusfahrer Imad el-Kabir auf einem Parkplatz Zeuge, wie sein Cousin, ein Lastwagenfahrer, in einen Streit mit Polizisten gerät. El-Kabir versucht zu schlichten. Einen Tag später kursiert unter den Busfahrern der Stadt ein Film, über Bluetooth auf ihre Handys versandt. Ein Clip, nur 38 Sekunden kurz, doch lang genug, um zu verstehen, wie el-Kabirs Leben zerstört worden ist.
Zu sehen ist, wie er in einer Polizeiwache ohne Hosen mit den Füßen an einem Seil hängt. Er schreit und windet sich. Neben seinem Kopf auf den Fliesen ein Fleck, der aussieht wie Blut. Um ihn herum ein Kreis schwarzer Schuhe, Männer in Uniform. Einer tritt zu. "Oh, Pascha, vergib mir, Pascha, hab Gnade!", schreit el-Kabir, als verspräche diese devote Anrede aus osmanischer Zeit ihm Schonung.
Einer der Stiefelmänner stößt einen dicken Stock in el-Kabirs Anus. Eine Warnung: Die Busfahrer Kairos sollen sehen, was geschieht, wenn sie sich mit Polizisten anlegen. Die Kamera zoomt auf das Gesicht des schreienden Opfers. Dann ist der Film zu Ende. Doch diesmal geht das Kalkül nicht auf. Der Film findet seinen Weg auf die Festplatte von Wael Abbas - und der lädt ihn auf seine Webseite "Ägyptische Erkenntnis". Nicht zum ersten Mal stellt Abbas Beweise ins Netz, die Folter und sexuelle Übergriffe der Polizei dokumentieren.
Misshandlungen werden öffentlich gemacht
Millionen Ägypter werden so zu Zeugen der Misshandlung, viele erheben im Netz ihre Stimme, wagen die Allmacht der Polizei infrage zu stellen. Eine Welle des Zorns schwemmt über das Land. Die Sender CNN und Al-Jazeera werden aufmerksam. Und es geschieht, was jahrzehntelang undenkbar erschien: 2007 stehen zwei der Folterer vor Gericht. Das Urteil: drei Jahre Gefängnis plus Arbeitslager für die Peiniger von Imad el-Kabir. Auch der wurde verurteilt, zu drei Monaten Gefängnis wegen "Auflehnung gegen die Staatsgewalt".
Die Polizisten wurden vorzeitig entlassen, doch was zählt, ist die Tatsache, dass es diesen Prozess überhaupt gegeben hat. Wael Abbas wird von der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" ausgezeichnet. In Washington verleiht ihm das "International Center for Journalists" den "Knight Award", einen Preis, der nie zuvor an einen Blogger gegangen ist. CNN krönt ihn zur Persönlichkeit des Jahres 2007 im Nahen Osten. Auf internationalen Konferenzen hält er Vorträge über das Recht auf Redefreiheit und die Rebellion aus dem Netz, gibt BBC und ARD Interviews.
Und plötzlich lächeln ihn auf den Straßen Kairos fremde Menschen an, klopfen ihm auf die Schulter. Wael Abbas sitzt in der Maschine zurück nach Kairo. Noch am Flughafen hat er seine Rechtsanwälte angerufen. Er solle nach Hause kommen, haben sie ihm geraten, sie würden Berufung gegen den Haftbefehl einlegen. Nun schweigt er. Das Kinn auf die Hand gestützt, die Rippen an die Wand gedrückt, starrt er aus dem Fenster.
In Beirut hat Abbas für Internetaktivisten aus 19 arabischen Ländern Workshops veranstaltet. Er wird verehrt, merkt er dort, was ihn einzuschüchtern scheint. Wenn er vor einem Auditorium steht, schaut er manchmal unvermittelt zu Boden, errötet.
Das Netz als Vehikel der Demokratie
Seine wahre Bühne ist die virtuelle, das Netz sein Reich der Freiheit. "Dschinni" hat er das Internet einmal genannt, nach einem Geist aus arabischen Volkserzählungen, der sich, aus seiner Flasche befreit, ungehindert durch die Welt bewegt. Und wer seine wüsten Flüche auf Arabisch versteht, gewinnt den Eindruck, Abbas verwandele sich beim Bloggen selbst in ein dämonisches Wesen, das sich in die Ungerechtigkeit des Lebens verbissen hat.
Er erzählt uns von Karim Amer, dem Studenten, der von Kairos berühmter Azhar-Universität flog, weil er sie in seinem Blog als "Schule des Terrors" bezeichnet hatte. Der mitten in der Nacht abgeholt und zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, weil er den Islam "diffamiert" und Ägyptens Präsidenten als "Symbol der Diktatur" bezeichnet hatte. Den sein Vater enterbte und über den der Staatsanwalt wetterte: "Wenn wir solche wie ihn ohne Strafe davonkommen lassen, wird ein Flächenbrand ausbrechen, der alles verschlingt." Und von Ahmed Maher, dem jungen Ingenieur, der 2008 über die Internetplattform Facebook mehr als 70 000 Menschen zur Solidarität mit streikenden Arbeitern im Norden des Landes mobilisierte. Den daraufhin die Geheimpolizei kidnappte - und dessen zahllose Narben und Striemen Abbas auf seinem Blog dokumentierte, nachdem sie den Freund zwölf Stunden lang auf einer Wache verprügelt hatten.
"Sie wollen uns erschrecken", sagt Abbas, "und der Schrecken soll uns umprogrammieren: auf Selbstzensur. Wir sollen ihnen die Arbeit abnehmen. Denn die Schere im Kopf ist effektiver als jeder elektronische Filter im Netz." Vor allem aber: Die Schere im Kopf ist unsichtbar. Wenn sich keiner beschwert, kann man die Ruhe im Land mit Zufriedenheit verwechseln. Niemand im Westen soll sagen könn en, Mubarak bringe das Volk um sein Recht auf Information und Redefreiheit. Die Regierung weist gern darauf hin, wie gut vernetzt das Land sei: 15,4 Prozent der rund 80 Millionen Ägypter nutzen das Internet, heißt es, so viele Menschen wie kaum irgendwo sonst in Afrika. Ein Viertel davon surfe in Cyber-Cafés. Dass man dort Namen und Handynummer hinterlassen muss, habe nichts mit Überwachung zu tun, vielmehr damit, dass man einen Zugangscode per SMS zugeschickt bekomme.
"Das Internet ist eine Requisite geworden, mit der unsere Regierung der Welt Demokratie vorspielt", sagt Abbas. Auch weil Forderungen nach demokratischen Reformen an jene Hilfsgelder gekoppelt seien, die der bankrotte Staat vom Westen bezieht: 558 Millionen Euro aus Europa, allein zwischen 2007 und 2010; rund zwei Milliarden Dollar pro Jahr aus Washington. Ägypten ist nach Israel der größte Empfänger US-amerikanischer Entwicklungshilfe - Mubarak gilt als Stabilisator im Nahen Osten.
Während des Landeanflugs über dem Nildelta beginnt Wael Abbas, die SIM-Karte aus seinem Handy zu friemeln, um sie in ein Ersatzgerät zu stecken, das er für alle Fälle bei sich hat. Dann übergibt er uns das neue Telefon, seine Digitalkamera und bittet uns, beides durch die Kairoer Flughafenkontrollen zu bringen. Ein Notebook besitzt er zurzeit nicht, es wurde konfisziert. Als glaubte die Staatssicherheit, einen Cyber- Dissidenten entwaffnen zu können, indem sie ihm seinen Computer nimmt - Werkzeug, das ein Blogger an jeder Ecke bekommt wie ein Schreiner einen neuen, scharfen Hobel. Wenn, wie an diesem Tag, kein Smog die Sicht vernebelt, sind aus dem Flugzeug die Pyramiden von Giseh zu sehen. Wie schüchterne Überlebende einer untergegangenen Ära stehen sie am Rande eines uferlos erscheinenden urbanen Breis aus Betonbauten, Minaretten, Satellitenschüsseln und mehrspurigen Straßen. 18 Millionen Menschen leben im Großraum Kairo, vielleicht mehr. Weitaus die meisten der inzwischen 200 000 ägyptischen Blogs werden hier ins Netz gestellt - eine der größten "Blogosphären" des arabischen Raums.
Noch bevor die Räder auf die Piste schlagen, hat Abbas sein Handy auf Empfang gestellt. Ohne Unterlass bearbeitet er die Tasten, selbst als er später im Strom der Passagiere durch das Ankunftsterminal treibt. Um ihn herum Hawaiihemden und Sandalen, Sonnenbrillen, Strohhüte. Abbas schickt eine Kurznachricht, er "twittert": Nähere mich der Passkontrolle.
Nachrichten per Twitter
Regel Nummer eins: Halte dein Netzwerk über dein Befinden auf dem Laufenden, selbst wenn du keinen Computer zur Hand hast. Der Informationsdienst Twitter macht es möglich. Eine ins Handy getippte Kurzbotschaft wird in Sekundenschnelle über das Internet verschickt - in Abbas’ Fall geht sie jetzt gleichzeitig an 3400 Menschen in aller Welt; sie haben seine "Microblogs", wie sich die Nachrichten aus bis zu 140 Zeichen nennen, abonniert. Es sind perfekte Alarmglocken. Vor Kurzem erst hatte Abbas mit 40 Botschaften über Twitter die Welt da draußen auf seine Festnahme aufmerksam machen können. Schon am Nachmittag demonstrierten Freunde und Anwälte vor der Polizeiwache für seine Freilassung. Sie haben mir meinen Pass abgenommen, twittert Abbas gegen 14 Uhr aus Terminal 3. Dann: Warte immer noch, seit einer Stunde schon. Alles unklar. Später: Ein Sicherheitsbeamter hat mich diskret aus der Ferne fotografiert.
Keine Ahnung, warum. Schließlich: Auch am Zoll haben sie mich für eine Stunde festgehalten, der Grund: ein Buch über Internetzensur in meinem Koffer. Dann der überraschende Satz: O. K., bin jetzt draußen. War der Informationsfluss zwischen den Sicherheitsabteilungen nicht reibungslos? Was auch immer an diesem Tag dazu geführt hat, dass Ägyptens mächtigster Blogger trotz Haftbefehls schließlich vor dem Flughafenterminal steht, werden wir nie erfahren. Abbas schreibt: Werde die Nacht vorsichtshalber nicht zu Hause verbringen. Lange hatte sich Wael Abbas nichts anderes vorstellen können, als Journalist zu sein. Schon als Anglistikstudent sah er sich Skandale aufdecken. Musste dann lernen, dass man ohne wasta, ohne Beziehungen, in seinem Land nicht viel wird; schon gar nicht beim Aufdecken von Unangenehmem.
Abbas ging ins Internet. Die Zeitungsredaktionen, in denen er Geld zum Leben verdiente, sortierten ihn im vorauseilenden Gehorsam aus. Das Korrespondentenbüro der Deutschen Presseagentur, sagt er, kündigte ihm ebenfalls. Wenn ihn heute jemand fragt, was er beruflich tue, antwortet er: "Mit meiner Mutter Zwiebeln schälen." Die Mutter ist eine kleine, kompakte Frau mit honigfarbenen Augen, verschleiertem Haar und einer Vorliebe für arabische Poesie.
Besuch von der Polizei
Sie ist bereit, mit uns zu sprechen, aber ihren Namen will sie nicht veröffentlicht sehen. Ihre Armreifen klappern, wenn sie lebhaft von jenem Morgen erzählt, an dem die Geheimpolizisten das Wohnzimmer stürmten, ein Zimmer mit samtbespannten Rokokostühlen um ein Marmortischchen und dem gestickten Bildnis eines Pfaus an der Wand. Es war kurz vor elf, im Fernsehen sprach der Finanzminister, als es im Treppenhaus polterte. "Mach auf!", riefen sie. "Wir wollen deinen Sohn abholen." Sie öffnete eine Klappe in der Tür. "Können Sie sich ausweisen?" "Mach endlich auf!" Sie weigerte sich.
"Schrei nicht, mach keinen Skandal. Oder willst du, dass die Nachbarn reden?" Und plötzlich hatten sie hinter ihr gestanden, per Leiter waren sie durchs Fenster gestiegen und hatten sie umzingelt. Seither habe sie, wann immer sie das Wohnzimmer betrete, Angst vor dem eigenen Schatten. Warum der Haftbefehl? Werde morgen Einsicht in die Anklageschrift erhalten, hat Abbas geschrieben. Die Mutter seufzt; es wirkt, als wolle sie kapitulieren. "Es kann nicht so weitergehen", klagt sie. "Mach einen Laden auf, heirate! Finde Arbeit, irgendwas. Du kannst bei uns wohnen, aber bitte hör auf mit dem, was du tust!" Der Sohn sitzt neben ihr, schweigt, starrt auf seine Badelatschen und klimpert mit dem Schlüsselbund.
Und doch sind da Zeichen des stillen Zuspruchs, die ihn bestärken: Wenn die Mutter sich erklären lässt, wie man "ein Profil" im Internet-Netzwerk von Facebook anlegt und Kommentare auf Abbas’ Blog hinterlässt. Wenn ihm der Vater, ein ehemaliger Bankangestellter, eine Wohnung schenkt in jenem Haus am Stadtrand, das die Eltern von ihren Ersparnissen gebaut haben, um sich selbst einmal dorthin zurückzuziehen. Wenn die beiden Geschwister ihm ein Zimmer überlassen, während sie sich eines teilen, damit der Bruder ungestört ins Cyber-Exil fliehen kann.
In der Mitte ein wuchtiger Schreibtisch, darauf ein Computer zwischen verstaubten Boxen. Ein Regal, ein Schrank. Am Fenster ein Bett, an dessen Kopfende Relikte aus Kindertagen kleben: Sticker von Honda, Kawasaki und einem Pandabären. Hier sitzt Abbas im blauen Schimmer seines Monitors, tippt, lädt Nachrichten herunter. "Ägyptens Blogger haben ein Röntgengerät angestellt und die Krankheiten unseres Landes sichtbar gemacht", sagt er. Die Übermacht des Präsidenten, die Gewalt, die Armut, die inoffiziell mehr als 40 Prozent der Bevölkerung dazu zwingt, von weniger als zwei Dollar am Tag zu leben, die alles strangulierende Korruption. "Wer das Land verlassen kann, der geht", sagt Abbas. Was aber hält ihn, dem es ein Leichtes wäre, in Beirut zu bleiben oder in Kopenhagen, sich abzusetzen nach einer der vielen Konferenzen, die er besucht?
"Durchhalten!" heißt die Devise
Die freie Debatte der vielen Menschen im virtuellen Raum des Netzes ist es. Sie bedeutet Hoffnung, dass sich Verhältnisse zum Besseren verändern lassen, wenn man nur durchhält. Durchhält wie einst die osteuropäischen Dissidenten, sagt Abbas, auch sie hätten ja Angst und Verfolgung ertragen und an einer Idee festgehalten: dass der, der einen Mund hat und ein Hirn, auch sprechen darf. Abbas geht durch sein Tagebuch, klickt auf ein Arsenal an Fotos und Filmen. Menschenmassen, geballte Fäuste, Megafone, Sprechchöre, Transparente und Poster: "Kefaya!", genug! Mubarak, genug!
Es war der Herbst 2005. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatten sich die Ägypter in Ungehorsam geübt. Auf Druck der USA hatte Mubarak freie Wahlen versprochen. Doch am Ende klebte der alte Pharao so fest wie eh und je auf seinem Thron, "wiedergewählt" in seine fünfte Amtszeit, nach offiziellen Angaben mit 88,6 Prozent der Stimmen. Abbas führte auf seinem Blog korrupte Wahlhelfer vor, die einander dabei filmten, wie sie lachend im Akkord Kreuze für Mubarak setzten. Eine Handvoll Intellektuelle, Professoren, Oppositionelle hatten schon vor den Wahlen Foren für politische Debatten geschaffen. Ägypter organisierten sich im Netz - während in der realen Welt Versammlungen mit mehr als fünf Personen ohne Genehmigung zerschlagen wurden.
Vor der Welt pries die Regierung den Widerstand als Zeichen einer "gesunden Demokratie". Während sie hinter den Kulissen mit aller Macht versuchte, ihn zu brechen. Hunderte Internetaktivisten wurden festgenommen. "Auf vielen Blogs ist Stille eingekehrt", sagt Abbas. Hitze und Abgase dringen durch das offene Fenster, dazu ein nie verebbendes Hupkonzert, die Gebete des Muezzins, das Husten verbeulter Taxis, das Geschrei der Wasserpfeifenhändler und Imbissbesitzer.
Gefälschte Beweise, gekaufte Zeugen
Aber den Rechtsanwalt Gamal Eid, 46, stört dieser Radau offenbar nicht. Im Gegenteil. Er scheint ihn wach zu halten: Eid lärmt einfach dagegen an. Über seinem Kopf hängt ein Che-Guevara-Poster an der Wand. Wael Abbas hört der polternden Stimme seines Anwaltes zu, wirbelt die Zuckerflöckchen in seinem Teeglas auf. Er trägt ein dunkles T-Shirt mit einem Totenkopf, das etwas von einer Piratenflagge hat. Das Aktenzeichen des Falles Wael Abbas lautet 19478/2009. "Du sollst ein Internetkabel manipuliert haben", ruft Eid. Vor Gericht bringen soll ihn nun ein kaum nacherzählbarer, konstruierter Fall mit den üblichen Zutaten: gefälschten Beweisen, gekauften Zeugen, Lügen. Immerhin: Eine Anklage gegen Abbas liegt vor, es wird einen Prozess geben - keine Selbstverständlichkeit in Zeiten des Notstands.
In über 100 Fällen hat Eids Kanzlei Blogger vertreten, der Rechtsanwalt ist der Schutzengel der Szene. Eid sorgt dafür, dass die Opposition aus dem Internet nicht ganz verschwindet. "Mehr als 10 000 Ägypter sind derzeit in Gewahrsam", sagt er, "viele von ihnen seit Jahren und ohne Gerichtsurteil." Eid selbst hat vier Gefängnisstrafen hinter sich, ist zweimal gefoltert worden, hat im Augenblick sieben Verfahren gegen sich laufen. Trotzdem wird er nicht müde, gegen die Schatten der Resignation anzureden, die sich früher oder später auch über den mutigsten Meinungsmacher im Internet legen. Je lauter ein Cyber-Dissident ist, desto besser ist er geschützt, so Eids paradox anmutende Botschaft. Darauf weist er Menschen wie Abbas immer wieder hin. "Bekanntheit, auch im Ausland, hilft euch!"
Die junge Demokratiebewegung in Ägypten braucht im Augenblick jede mutige Stimme. Denn noch in diesem Jahr soll die Volksversammlung, im kommenden Jahr der Präsident gewählt werden. Eid befürchtet wie viele Ägypter, dass Hosni Mubarak seinen Sohn Gamal als Nachfolger aufbauen könnte. Es heißt, nichts unterscheide den Vater vom Sohn - bis auf drei Jahrzehnte Regierungserfahrung. In den vergangenen Monaten haben sich darum bereits mehr als 240 000 Ägypter auf Facebook organisiert, haben die "Nationalbewegung für den Wandel" gegründet. Sie schreiben sich im Internet die Finger wund, wollen den Friedensnobelpreisträger und ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohamed el-Baradei, als neuen Staatschef Ägyptens sehen.
Am 18. Februar 2010 verlässt Wael Abbas ein Gerichtsgebäude im Norden Kairos. Hunderte Freunde und Aktivisten erwarten ihn. Sie tragen T-Shirts mit seinem Konterfei. Sie jubeln, via Twitter geht die Nachricht um die Welt: Wael Abbas für unschuldig erklärt! Einen Tag später wird es Abbas, wie Tausenden von Ägyptern, gelingen, trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen den aus Wien eintreffenden el-Baradei im Flughafen von Kairo willkommen zu heißen.