In der Øvre Holmegate sieht es aus, als sei ein Tuschkasten explodiert: Die Hauswände an der Straße leuchten in knalligem Blau, Dachfirste in Pink, Fensterläden in schreiendem Grün. Dazu Rosa, Orange, Neongelb – was so gar nicht die üblichen Töne einer skandinavischen Holz-Altstadt trifft. Die kommt meist dezent, Weiß in Weiß, daher. So wie der Rest von Stavangers altem Stadtkern, in dessen Gassen sich hell getünchte Holzhäuschen hinter weißen Lattenzäunen reihen und allen falls Blumenampeln Farbkleckse setzen. In der Øvre Holmegate aber ist jedes Haus eine Villa Kunterbunt, schrill und vergnügt. „Das war dringend notwendig“, sagt Craig Flannagan, während wir am kurzen Tresen der Wohnzimmerkneipe „Bøker og børst“ („Bücher und Schnaps“) Craft-Biere aus der lokalen Brauerei trinken. Der grauhaarige Konzeptkünstler hat den exzentrischen Look der Straße mitkreiert. „Bis vor zehn Jahren war das hier eine völlig unscheinbare Gasse“, erzählt er.
Sehr zum Unmut seines Freundes Tom Kjørsvik, der hier einen Friseursalon betreibt. Über Jahre lag er der Stadtverwaltung in den Ohren mit seiner Idee, aber die hatte panische Angst vor Farben, „eine richtige Chromophobie!“. Schließlich wandte sich der Coiffeur an den Künstler, der ein Farbkonzept entwickelte, das die Stadt überzeugte: 50 Farbtöne, wie Akkorde aufeinander abgestimmt, jeder Fensterrahmen, jeder Sims, jeder Giebel bekam eine individuelle Note. Plötzlich bevölkerten zu allen Tageszeiten Menschen die Gasse. Die kleinen Läden – allen voran Tom Kjørsviks Friseursalon – machten wilde Umsatzsprünge. Dann nisteten sich die ersten Bars und Cafés ein. Heute ist die Øvre Holmegate der Treffpunkt für Einheimische wie Touristen. Und damit wohl das beste Symbol für den Wandel Stavangers vom biederen Fischerei- und Verwaltungszentrum zu einer lebensfrohen, weltoffenen Stadt am Fjord.
Begonnen hatte diese Verwandlung 1972, als Stavanger nach dem Fund gewaltiger Ölvorkommen vor der norwegischen Küste zum Sitz der neuen halbstaatlichen Ölgesellschaft Statoil auserkoren wurde – und damit zur Ölhauptstadt des Landes. Auf einmal mischten sich Bohrinsel-Arbeiter und Geschäftsleute aus aller Welt ins beschauliche Stadtbild. Flannagan kam als Zwölfjähriger. „Ich bin ein typisches Ölkind“, erzählt der Schotte beim Bier. Sein Vater hatte einen Job auf der ersten Bohrinsel, ein echter Pionier. Seit 1999 ist dieser Generation das größte Museum der Stadt gewidmet: das Norwegische Ölmuseum. Als stilisierte Bohrinsel ragt es in das moderne Hafenbecken, dokumentiert die Geschichte der Ölförderung in Nordsee und Nordatlantik auf anschaulichste Art.
Staunend schreite ich eine Reihe kühlschrankgroßer Bohrmeißel ab, die wie Tiefseemonster aus Stahl aussehen, die Mäuler besetzt mit Zähnen aus Diamant. Stehe vor dickglasigen Taucherglocken wie aus einem Jules-Verne-Film und Modellen von Bohrinseln, die in der Realität höher sind als der Eiffelturm. Technische Höchstleistungen, in denen sich auch das Bild einer rohen und mächtigen Natur spiegelt. Die Ausstellung zeigt Mensch und Maschine im Kampf gegen Wellen und Wind, gegen Wasserdruck in der Tiefsee und Öldruck im unterseeischen Gestein. Ein Ringen mit grausigen Niederlagen. Eines der beeindruckendsten Exponate ist der verbogene, geborstene Teil eines gigantischen Stahlträgers. Er gehörte zur Bohrinsel „Alexander Kielland“, die 1980 in rauer See kenterte und 123 Mann in den Tod riss.

Kreativer Kleinstadturlaub für die Street-Art-Szene
In „Gamle Stavanger“, der Altstadt oberhalb des Hafens, finde ich die alten Zeiten auf fast schon museale Weise bewahrt: In den verwinkelten Kopfsteinpflastergassen reihen sich vormals armselig-graue, heute hell gestrichene und modern ausgebaute Holzhäuser. Schiefe Giebel, Vorgärten mit Stockrosen – ein Idyll wie aus dem Norwegen-Katalog, fast ein bisschen zu perfekt. Zwar gibt es auch hier einige Schlote, aber sie sind mehr als 100 Jahre alt, aus Backstein, und qualmen nur, wenn im Norwegischen Konservenmuseum Räuchertag ist. Die ehemalige Konservenfabrik zeigt, wie hier früher, in den Zeiten vor dem Erdöl, Geld verdient wurde: mit Ölsardinen. In den Produktionsräumen glimmen ein paar altmodische Glühlampen, ein leichter Räucherduft hat sich auf die Sammlung von Apparaturen aus Gusseisen und Holz gelegt. Diese Maschinen, konstruiert zwei Generationen vor dem Ölboom, bereiteten Stavangers Weg in die weite Welt; nicht nur die Konserven, zuweilen auch die Konservenmaschinen wurden bis nach Russland und Amerika verkauft.
Seit einigen Jahren durchlebt die Stadt eine weitere Metamorphose: Seltsame Wesen bevölkern die Wände. Traurige Monster mit großen Babyaugen, Comicmännchen, die sich in Häuserecken ducken. Von einem Holzhaus blickt ein riesiger, stoppelbärtiger Alter mit Knollnase und Unterhemd trübselig auf die Straße. Es sind die Spuren des Street-Art-Festivals „Nuart“, das jeden Spätsommer GraffitiKünstler aus aller Welt herführt. Für die Stadt ein international beachtetes Event, für die Stars der globalen Sprayer-Szene eine Art kreativer Kleinstadturlaub abseits des rauen Wettbewerbs in New York, Rio oder London.
Inzwischen gibt es kaum eine Straße, die nicht besprayt wäre. Manches springt einen an wie die riesigen roten Buchstaben, die das Wort „Error“ formen und die Fassade eines leerstehenden Hauses einnehmen. Anderes dagegen muss man entdecken, wie die winzigen Schlipsträger-Skulpturen des Künstlers Isaac Cordal, die Simse und Erker eines Hauses am Hafen bevölkern. Stavangers Bewohner haben diese Kunst nie als Schmierereien wahrgenommen. Im Gegenteil. Viele bieten den Künstlern ihre Fassaden an. So wie der ältere Herr aus der A.B.C. Gata, der entsetzt feststellte, dass der portugiesische Starkünstler Vhils seine Hauswand mit einem Bohrmeißel bearbeitete, scheinbar planlos den Putz abhackte. Doch als der alte Herr am Ende vor sein Haus trat, traute er seinen Augen nicht: Das Muster im durchlöcherten, wieder versiegelten Putz fügte sich zu den vertrauten Gesichtszügen eines alten Seemanns. Er kannte ihn von den Etiketten der Ölsardinen-Konserven, hergestellt in der Fabrik, in der er gearbeitet hatte. Seine Tätigkeit so veredelt zu sehen, rührte ihn zu Tränen.
Mir macht das Motiv des Meißel-Graffito vor allem Appetit. Ich spaziere hinab zum Vågen, dem alten Hafenbecken. Im Glaspavillon des Restaurants „Fisketorget“ an der Mole brummt es schon mittags. Künstler, Geschäftsleute und Touristen drängen sich an den Tischen mit Hafenblick. Auf den Teller kommt, was die Fjorde vor den Toren der Stadt so hergeben an frischem Krebsgetier und Fisch. Ganz regional, versteht sich, dazu eine Karte mit Weinen aus der ganzen Welt. So viel Internationalität muss schon sein in Stavanger, der Dorfmetropole.
Die schönsten Hotels in Stavanger
Bed, Books & Breakfast
Schlafen, schmökern, frühstücken im oberen Stockwerk eines klassischen Holzhauses. Die Bibliothek umfasst 700 Bücher, die man auch tauschen oder kaufen kann. Byfoget, Christensensgt. 12, Tel. 0047-51 52 50 50 und 0047-93 26 92 35; www.fjordnorway.com , DZ/F 81 €
Comfort Hotel Square
Von den vielen großen Hotelkästen der mit Abstand entspannteste, mit Street-Art in den Zimmern und Street-View von der Dachterrasse. Løkkeveien 41, Tel. 0047-51 56 80 00, www.nordicchoicehotels.com , DZ ab 125 €
Sola Strand Hotel
Für Stadtflüchtige: Knapp 15 Minuten außerhalb, mitten in den Dünen einer lang gezogenen Strandsichel gelegen. 1928 eröffnet, außen ganz in Weiß und mit wunderbarer Holzdeck-Terrasse, innen maritime Kaminfeuer-Gediegenheit. Axel Lunds Veg 27, Tel. 0047-51 94 30 00, http://en.sola-strandhotel.no , DZ ab 175 €
Die besten Restaurants in Stavanger
Renaa Matbaren
Als Bistro versteht Chefkoch Sven Erik Re- naa den relaxten Ableger seines Gourmet-Restaurants, den er nach Stationen in New York und Oslo im alten Stadtzentrum eröffnete. Internationale Küche mit lokalen Zutaten, vom Seeigel bis zum Craft-Burger – aber nichts toppt Renaas Heilbutt mit Dill, Estragon und grünen Bohnen! Steinkargata 10, Tel. 0047-51 55 11 11, www.restaurantrenaa.no/matbaren/en
Fisketorget
Catch of the Day mit Ausblick: Das lebhafte Lokal bietet frische Meeresfrüchte und fangfrischen Fisch zum Blick über das alte Hafenbecken, den Vågen. Besonders köstlich ist das Meeresfrüchte-Risotto. Auch mit- tags oft schon voll, deshalb besser reservieren! Strandkaien 37, Tel. 0047-51 52 73 50, www.sketorget-stavanger.no
Kitchen & Table
Marcus Samuelsson, Eigner der „Kitchen & Table“-Kette, lässt in seine Dependance in Stavanger lokales Seafood auf multikulturelle Re- zepte treffen. Der äthiopisch- schwedische Koch lebt in Man- hattan und hat schon Barack Obama bewirtet (und dabei Kräu- ter aus dem Garten des Weißen Hauses verwendet). Arne Rettedals Gate 14, Tel. 0047-51 50 25 00, www.kitchenandtable.se/stavanger
Omakase
Frisch mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet: die Sushi-Kreationen des philip- pinischen Meisters Roger Asakil Joya, die kleinen, abstrakten Skulpturen gleichen. Winziges Lokal mit nur zehn Sitzplätzen, der Meister serviert selbst. Pedersgata 38, Tel. 0047-92 54 37 81, www.omakase.no
Bøker & Børst
Die erste Kneipe, die 2006 in der „Colour Street“ eröffnete. Tagsüber entspanntes Wohnzimmer-Café mit Regalen voller Gesellschaftsspiele und Bücher, abends der Craft-Beer-Hotspot. 17 Sorten vom Fass und bis zu 250 aus der Flasche kredenzt der junge Biersommelier Asic Brekke bis spät in die Nacht, darunter die wagemutigen Kreationen der lokalen „Lervig Aktiebryggerie“. Øvre Holmegate 32, www.bokerogborst.no
Tipps und Sehenswürdigkeiten
Nuart Street Tours
David Choe, DotDotDot, Ella & Pitr, Faith 47 – in kaum einer anderen Stadt der Welt gibt es eine der- artige Dichte an hochkarätiger, internationaler Street-Art. Bei der Walking-Tour (www.streetarttours.no) entdecken die Teilnehmer die schönsten, witzigsten (und gut versteckten) Werke und bekommen eine Einführung in Gestaltungstechniken und ins Nuart Festival (31.8.–2.9.2017, www.nuartfestival.no ).
Bob Stylister
Der Friseur Tom Kjørsvik hat Stadtgeschichte geschrieben: Er mochte sich nicht mit dem tristen Erscheinungsbild seiner Straße abfinden und kämpfte dafür, dass die Øvre Holmegate bunt gestrichen wurde. Wer sich mit einer tristen Frisur nicht abfinden mag, der ist bei ihm gut aufgehoben. Øvre Holmegate 24 B, Tel. 0047- 51548300
Norwegisches Ölmuseum
Einmal in der Kommandozentrale einer Bohrinsel an allen Knöpfen drehen? Sich in eine Taucherglocke zwängen? In ein Sicherheitsnetz springen? Geht alles. Wer noch mehr Bewegungsdrang verspürt: Vor dem Museum liegt der „Geopark“, ein preisgekrönter Spielplatz mit Geräten aus recycelten Materialien der Ölindustrie. Kjeringholmen 1 A, Tel. 0047-51 93 93 00, www.norskolje.museum.no/de
Konservenmuseum
Wer mag, legt im Akkord Ölsardinen in Konservenbüchsen ein oder bedient die Sprotten-Köpf-Ma- schine, in der zum Glück nur Gummifische liegen. Alle ande- ren lassen sich vom Museums- leiter Piers Crocker erzählen, wie die kleinen Büchsenfische aus Stavanger die große weite Welt eroberten – und mal als „Hinden- burg-Sardinen“ (in Deutschland), mal als „Viking Sardines“ (in Amerika) vermarktet wurden. Ovre Strandgate 88, www.norskhermetikkmuseum.no
Kunst auf dem Kessel
Ein Ort, vor dem die Leute Angst hatten, sei die verlassene Brauerei am Stadtrand von Stavanger früher gewesen, meint Espen Yung Svendsen, der Booker des Musikclubs Tou Scene. Bis Künstler und Musiker das Gemäuer Raum für Raum in Besitz nahmen und zum aufregendsten Ort für Konzerte und Ausstellungen ausbauten. Etwas Rohes, Ungehobeltes hat sich in den alten Maschinen- und Kesselhallen bis heute gehalten. www.touscene.com
Wandern, Tourenvorschläge, Übernachtungstipps: www.visitnorway.de , http://de.fjordnorway.com