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Spuren der Vergangenheit
Matsu Taira ist 99. Sie lebt allein in ihrem kleinen Holzhaus in Ogimi, einem Dorf an der Westküste Okinawas, der größten Insel im gleichnamigen südjapanischen Archipel. Neben ihr, auf der Terrasse unterm Vordach, hat es sich Ushi Okushima bequem gemacht. Sie ist 103 und wohnt mit ihrer 77-jährigen Tochter gleich um die Ecke. Regen fällt wie Puder, Dunstwärme steigt auf und Erdgeruch. Kinderzart ruhen die beiden alten Frauen in ihren Bambussesseln, körperlich und geistig wohlauf nach einem Jahrhundert Leben. Zwei Frauen mit der fast unverschämten Gelassenheit von Greisinnen, die wissen, dass ihnen nichts und niemand mehr etwas anhaben kann.
Spuren der Vergangenheit
Woher kommst du? Deutschland - guter Fußball, stimmt's? Knittermundlächeln. Wie lange bist du geflogen, um zu uns zu kommen? 15 Stunden - nur um zu erfahren, wie man so alt wird wie wir? Sie nicken einander vielsagend zu. Matsu Taira und Ushi Okushima sind Freundinnen. Beide sind Fischerfrauen und Bäuerinnen, beide mehrfache Urgroßmütter. Geboren noch in Zeiten, in denen japanische Kaiser Götter waren und Bauern die Erbärmlichsten unter den Menschen. Die Ehemänner im Zweiten Weltkrieg verloren, dessen letzte, mit mehr als 200 000 Toten ungeheuer verlustreiche Schlacht auf Okinawa tobte. Tausende amerikanischer Soldaten halten bis heute in Militärbasen die Stellung auf der besiegten Insel, die erst 1972 an Japan zurückfiel und Matsu und Ushi wieder der Regierung in Tokio unterstellte. Sie selbst haben ihre subtropische Heimat niemals verlassen; warum auch, sagen sie, wo hier das Leben doch besonders gut gedeiht, und: Wirklich japanisch sind wir nicht. Wir freuen uns zum Beispiel über Fremde und schlagen die Augen nicht nieder.
Respekt vor dem Alter
Wenn sie überhaupt nach ihren Wurzeln suchen, dann fühlen sie sich eher als Abkömmlinge des mittelalterlichen Insel-Königreichs Ryukyu und seiner eigenständigen Kultur - eines exotischen Schmelztiegels und Handelsplatzes mit Einflüssen aus Polynesien, China, der Mongolei und Korea. Erst 1879 ist Okinawa überhaupt zu einer japanischen Präfektur geworden, einer der ärmsten. Doch bis heute kennt auf dem tief im Süden gelegenen Archipel kaum einer die japanischen Volkssagen, in denen von verarmten Dörflern erzählt wird, die nutzlos gewordene Greise auf unwegsame Berge schleppen, wo sie auf den Hungertod warten müssen. In Okinawa dagegen herrscht in den Köpfen noch immer Konfuzius, der Respekt vor dem Alter fordert, die Gnade und Gabe der späteren Jahre.
Japan hat die höchste Lebenserwartung
In keinem Land der Welt gibt es prozentual mehr Hundertjährige als in Japan. Seine Bürger besitzen die höchste durchschnittliche Lebenserwartung aller Nationen - Männer 79, Frauen 86 Jahre. Und 18 von 100000 Einwohnern werden 100 und mehr Jahre alt, in Deutschland sind es etwa zehn. Doch Okinawa wiederum schlägt selbst die japanischen Hauptinseln um Längen: Rund 600 Einwohner (zu 85 Prozent Frauen) bei einer Bevölkerung von 1,3 Millionen erreichen die magische Schwelle von 100, mehr als 45 sind das pro 100000 Menschen. Und das 3500-Seelen-Dorf Ogimi im ländlichen Norden der Insel setzt allem noch die Krone auf: 430 Menschen sind hier älter als 80, und zwölf haben die 100 überschritten.
Diabetes ist ein Fremdwort
Was ist es, das diese Uralten auszeichnet? Was lässt ihr Blut durch so saubere Adern fließen, dass sie den Begriff Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch nie gehört haben? Was hält Tumoren derart in Schach, dass die Menschen niemanden persönlich kennen, der an Krebs leidet? Was lässt das Feuerwerk in ihren Gehirnen so unermüdlich sprühen? Wieso ist Diabetes für sie nur ein fremdes Wort? Mancher Arzt blickt nach der Untersuchung fast entgeistert auf die medizinischen Daten: Nach hundertjährigem Gebrauch ist nichts kaputt in diesen Körpern, ein biologisches Wunder. "Pin pin" nennt man die Alten hier - so gesund, dass sie wie Bälle springen.
Ein kleines Paradies
Jeden Morgen schieben knorrige Hände Türen, Fenster und Wachspapierwände zur Seite, damit Luft und Licht in die Häuser gelangen. Tagsüber triffst du sie draußen, die alten Damen und Herren in bequemen Hosen und weiten Hemden, wie sie beim Blumengießen mit Nachbarn plauschen, mit Einkaufstaschen die schmalen Straßen hinunterspazieren, ihre Fahrräder an Gartenzäune lehnen, am Strand sitzen. Türkisfarben die Luft, körperwarm das Meer. Nie Kälte, immer währende Erntezeit. Ein kleines Paradies - und ein Dorado der Wissenschaft, allen voran der Alternsforschung, die hier ihre wichtigsten Kronzeugen ausgemacht hat, eine Art Methusalem-Komplott zum erhofften Wohl der gesamten Menschheit.
Die Alten als begehrte ForschungsobjekteMit allen medizintechnischen Finessen, westlichen Sehnsüchten und aufgeklärtem Optimismus ausgestattet, fallen Wissenschaftler auf der Insel der Seligen ein. Sie kommen vor allem nach Ogimi, um das "Okinawa-Phänomen" zu ergründen, wie es selbst in nüchternen Schriften heißt. Sie messen Pulsschläge an wulstigen Adern, sammeln Speisereste von gebrauchten Tellern, nehmen Proben der roten Erde der Felder. In ihren Laboratorien trennen sie Körpersäfte per Zentrifugen in ihre Bestandteile auf, lassen Erbsubstanz in Reagenzgläsern auferstehen, züchten Zellen für Testreihen in Hospitälern, zerlegen schließlich trotz allem dann doch Verstorbene auf den kalten Tischen der Pathologie.
Gesund alt werden
Aber längst nicht nur der Traum von der ewigen Jugend, von dem der Westen besessen ist, treibt sie hierher, sondern ebenso der rapide demographische Wandel in ihren Ländern. Auch dort erreichen mehr und mehr Menschen ein biblisches Alter, doch meistens "multimorbid": von unzähligen Erkrankungen geplagt, von Medikamenten abhängig, und das über viele Jahre hinweg. Wie viel segensreicher für das Individuum und für das Gemeinwohl wäre es, das produktive mittlere Lebensalter möglichst lange hinauszögern, die Phase des Leidens dagegen so weit es irgend geht verkürzen zu können. Und dann auch noch steinalt zu werden.
Hinter aller Suche steht wie eine unausgesprochene Beschwörungsformel an die Alten von Okinawa: Gebt es endlich preis, jenes Geheimnis, mit dem ihr das Ticken der Lebensuhr in euren Zellen zurückgestellt habt. Lasst uns Teil haben an eurer segensreichen Robustheit, an der grandiosen Chance, gesund zu sterben.
In den Genen suchen die Forscher vergebens
Die Jungen wissen eines mittlerweile genau: In den Genen ist das Geheimnis der Alten nicht zu finden. Zumindest sind sie nicht entscheidend. Bei Auswanderern aus Okinawa, etwa in Brasilien, die ihre traditionelle Lebensführung aufgegeben haben, ist die Lebenserwartung dramatisch gesunken. Und selbst im amerikanisierten Süden der Insel hat man die untergeordnete Rolle der Vererbung buchstäblich vor Augen. Der Ernährungsstil zwischen Hamburgern und Pommes frites hat die jüngere Generation zur dicksten in ganz Japan gemacht - mit allen Risiken für ein leidvolles Altern und einen früheren Tod.
Wo aber, wenn nicht in den Genen, sind sie dann zu finden, die Ingredienzen der Langlebigkeit? Für Ushi und Matsu ist die Antwort klar: Pass auf, was du jeden Tag in deinen Körper eindringen lässt, sagen sie.
Die Kraft der Erde und des Meeres
Die Nahrung, die du jeden Tag in deinen Körper aufnimmst, sollte die Kraft der Erde und des Meeres in sich haben, meint Matsu. Wissenschaftler übersetzen ihre Poesie prosaisch in Isoflavone, in Ballaststoffe, Vitamine, Omega-3-Fettsäuren, Spurenelemente und Antioxidantien. Auch sie haben längst die segensreichen Wirkungen der Meeresalgen erkannt - hier Seegras genannt. Sie haben ausgerechnet, dass die Menschen auf Okinawa fünfmal mehr davon essen als die übrigen Japaner.
Löffelweise Chili, Ingwer und Kurkuma
Doch Seegras allein ist es nicht. Die grandiose Vielfalt der Geschmäcker und Aromen des Essens auf der Insel ist von Zuwanderern über Jahrhunderte verfeinert worden. Fische und Meeresfrüchte jeglicher Art, ob roh als japanische Sushi, gebraten nach koreanischer Art oder gekocht und wie spanische Tapas serviert. Violette Süßkartoffeln aus China gleichwertig nebenReis.Dazu jeden Tag"champuru": Tofu, leicht gebraten mit Karotten, Rettich, Spinat und allem erdenklichen Gemüse dieser Welt. Kannenweise Tee. Wenig Salz, kein Brot und keine Milchprodukte. Und Gewürze und Kräuter, löffelvoll: Chili, Ingwer, Kurkuma.
Prämiertes Gemüse
Selbst Schweinefleisch, einst aus China eingeführt, erweitert vor allem bei Festen die Vielfalt der berühmt gewordenen "Okinawa-Diät" - durch langes Kochen sorgfältig vom Fett befreit. Über dem Land liegt die schwere Frische der Limonenbäume, der selbst die Meeresbrise nichts anhaben kann. Für die grünen Zitrusfrüchte aus Okinawa geben Gesundheitsbewusste in Tokio ein Vermögen aus. Auch das kulinarische Wahrzeichen der Insel, die wulstige Bittergurke "goya", würde bei jedem Vitamin-Wettbewerb prämiert werden.
Pflanzen sind Medizin, sagt Matsu. Sie hockt auf den Fersen und wühlt im Grüngewirr eines Kürbisfelds. Sie reißt männliche Blüten aus, entblößt deren Pollenstände und streicht sie eine nach der anderen über die Stempel lichtgelber weiblicher Blüten. Schon ihr ganzes Leben lang befruchtet Matsu ihr Gemüse auf diese Weise selbst und führt mit den Samen die Linie fort. Pflanzen gebührt unser Respekt, sagt sie und legt ihre Hand auf ein sonnenwarmes Elefantenohrblatt.
Die 80-Prozent-Regel
Das bunte Essen ist also das Geheimnis der langlebigen Menschen von Okinawa? Nicht nur; noch wichtiger als Vielfalt sei der Verzicht, belehrt Ushi ihre 77-jährige Tochter. Wenn du auch so alt werden willst wie ich, musst du weniger essen. Stopf dich niemals voll. Hör auf mich, "hara hachi bu". Es klingt wie eine Zauberformel, ein Mantra der Selbstkontrolle. "Hara hachi bu" heißt so viel wie: "den Magen nur zu 80 Prozent füllen". Die Tochter, eine hübsche Frau, die kaum älter als 50 wirkt, gießt dampfenden Tee in Porzellanschalen und verdreht dezent die Augen. Wie oft mag sie das wohl schon gehört haben? Wo ihr doch anzusehen ist, dass sie diese Regel personifiziert. Eine Regel, die mittlerweile unzählige Experimente in aller Welt bestätigt haben: Kalorienreduktion führt zu einer gesunden Verlängerung des Lebens.
Mäßigung als Schlüssel zum erfolgreichen Altern
Für viele die wichtigste Ursache des Okinawa-Phänomens: Hier gelten Verzicht und Mäßigung gleichsam als kulturelle Werte. Die Verdauungsorgane nie überlasten. Nach dem Essen für Stunden nichts zu sich nehmen, um ihnen Ruhe zu gewähren. Dafür andere Arten von Aktivität zur Routine werden lassen: das Gehen etwa. Die Alten hier tun doppelt so viele Schritte wie junge Leute in Naha, der Hauptstadt des Archipels, Schrittmesser an den Füßen haben es belegt.
Viele betreiben Kampfsportarten - Okinawa ist die Heimat des Karate. Mehrmals in der Woche spielen sie mit ihren Freunden "Torball", eine Art Krocket. Und sie singen und tanzen. "Sanshin", die traditionelle Volksmusik, schallt aus jedem Radio, erfüllt jedes Haus. Ushi und ihre Tochter, Mitglieder des Tanzclubs mit einem 94-jährigen ehemaligen Beamten als Direktor, haben die Melodien offenbar in ihre Körper sinken lassen. Wie auf einen inneren Befehl hin vibrieren sie schon beim ersten Ton und lassen, wenn sie tanzen, Hände und Arme hin- und herschwingen wie Seegras in der Brandung.
Doch die Formel des langen Lebens ist auch mit solchen Faktoren noch nicht komplett. "Yuimaru" gehört unbedingt noch dazu. Kreis oder Verbindung bedeutet das, oder so etwas wie "enges soziales Geflecht". Noch gebraucht werden, nützlich sein, dazugehören, so erklären es die Alten.
Hundertjährige als Attraktion
Matsu verkauft Gemüse an ihre Freundin Emiko Kinjo. Die 57-jährige Restaurantbesitzerin nimmt der alten Dame regelmäßig deren kleine Ernte ab, um ihr jenes Gefühl zu geben, das sie jeden Tag gern aufstehen lässt. Matsus Freundin Ushi füllt Tüten mit Goya-Gurken im Lebensmittelladen eines 76-jährigen Bekannten, der sich zum Ziel gesetzt hat, so sagt er, "seine weißhaarige Angestellte auf 120 Jahre zu bringen". Überall hier, auch in den Städten, stehen Uralte hinter Marktständen, kehren Plätze, sortieren Früchte. Ein Wort für Ruhestand kennt die Inselsprache nicht. Mittlerweile ist es sogar äußerst lukrativ geworden, Hundertjährige als Kundenmagnet in den Läden zu beschäftigen.
Nachbarschaft wird groß geschrieben
Die "Hilf-deinem-Nachbarn-Ethik" ist seit jeher eine Strategie des Überlebens und wie eine Charaktereigenschaft ins Gemüt der alten Menschen von Okinawa übergegangen. Sie stehen zusammen. Denn ohne ihre Kinder, die zu Ausbildung und Arbeit fortgehen mussten, da Land und Jobs auf der Insel Mangelware sind, leben die meisten Alten etwa im Dorf Ogimi allein. Ein betagter Mensch braucht nicht nur Familie, sondern vor allem Freunde, sagen sie. Wenn Emiko in aller Frühe die Flügeltüren ihres Restaurants öffnet, schaut sie als Erstes die Straße hinunter. Falls Matsus Haustür nicht schon offen steht, läuft sie hin, um nachzusehen, ob noch alles in Ordnung ist.