Schweden, irgendwo zwischen Malmö und Uppsala: eine betupfte Wiese, ein glasklarer See, in dem sich falunrote Holzhäuschen spiegeln, die weit verstreut auf der anderen Uferseite liegen. Es ist eines dieser vielen Realo-Bullerbüs, das man auf einer Reise durchs Land erblickt. Einer dieser Orte, so schön, dass man aussteigen und bleiben möchte. Bleiben darf.
Denn hier oben, im Norden, ist erlaubt, was in unseren Breiten undenkbar ist: einfach das Zelt auf Bauers Blumenwiese aufschlagen; eine Nacht im Naturschutzgebiet verbringen, ohne fürchten zu müssen, dass nächtens genervte Rangerinnen und Ranger den Reißverschluss vom Zelteingang aufreißen und zum Aufbruch gebieten.
Gewiss, auch in Skandinavien haben Wildcamperinnen und -camper Pflichten. Die oberste: nichts außer den eigenen Fuß- oder Fahrradspuren zu hinterlassen. Doch ebenso selbstverständlich besitzen sie das allemansrätt (in Schweden), das allemannsrett (in Norwegen), das jokamiehenoikeus (in Finnland), welches es jedermann und jederfrau erlaubt, sich in der Natur wie zu Hause zu fühlen, ganz gleich, wem der jeweilige Flecken Land gehört. Auch in Island existiert das almannaréttur; nach dem gewaltigen Touristenansturm vergangener Jahre wurde es 2017 allerdings verschärft.
In Dänemark gibt es zwar kein in Gesetzestext gegossenes allemandsret; doch in rund 40 Wäldern wird es erprobt. Allerorten gestattet das Jedermannsrecht den Besuchenden in der Natur, im Grünen zu zelten, an geeigneten Stellen Feuer zu machen, Blumen zu pflücken, Pilze zu sammeln, Beeren zu naschen, teils sogar zu fischen.
Grenzenlose Freiheit
Das Jedermannsrecht zieht darum seit Jahren Horden von Hikern und Camperinnen gen Norden: Es ist ein Versprechen auf Freiheit, die Garantie auf unmittelbare Naturerlebnisse. Und ein Anlass zu fragen: Warum nur sind die Skandinavierinnen und Skandinavier so gönnerhaft und wir nicht?
In jedem Fall blicken sie auf eine vollkommen andere Geschichte zurück, die sich tief in ihr Natur- und Gesellschaftsbild geschliffen hat. Noch bis ins hohe Mittelalter zogen die Sámi, die nordischen Ureinwohner, in Sippen durch ein Land, in dem keine Zäune existierten, keine Schlagbäume. Besitz und Besitzende gab es nicht in ihrer Welt; Natur, so ihr Verständnis davon, ist für alle da. Jede und jeder nimmt, was zum Überleben nötig ist.
Die Menschen in Mitteleuropa hatten da schon fast ein Jahrtausend Grenzerfahrung hinter sich: Herrscher hatten sich Boden, ganze Reiche gesichert, Land und Menschen zum Eigentum erklärt.
Auch in den nordischen Ländern änderte sich vieles, als dort um 1600 die ersten Königreiche entstanden – aber nicht alles. Denn anders als in vielen anderen Gebieten Europas gelang es den Mächtigen nie ganz, die Nordmänner und -frauen als Leibeigene zu unterjochen. Das Land blieb in Händen der Allgemeinheit, nicht in jenen Einzelner. Zudem war der Norden längst nicht so stark besiedelt wie etwa der deutschsprachige Raum; die Nordmenschen hielten es darum nie für besonders wichtig, ihren Grund und Boden stark abzugrenzen. Er blieb betretbar für andere.
Raus jetzt
Natürlich hat die Gier nach Besitz und Bodenschätzen auch vor Skandinavien nicht haltgemacht. Aber geblieben ist doch diese Grundüberzeugung, dass jeder und jede ein Recht auf den freien Zugang zur Natur hat.
Norwegen hat dies sogar schon 1957 gesetzlich verankert, im lov om friluftslivet, dem Gesetz über das Leben an der frischen Luft, das das Jedermannsrecht einschließt. Frilufsliv, frei übersetzt: Draußensein, Freiluftleben, ist seither die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Norwegerinnen und Norweger, häufiger betrieben als alle anderen Sportarten zusammen. In Schweden fand das allemansrätt 1994 Eingang ins Grundgesetz. Der Inhalt, knapp und bündig: raus mit euch! Genießt die Natur! Lasst bitte nur kein Chaos zurück – und beim Zelten einen Diskretionsabstand zum nächsten Haus. In den anderen Nordländern ist das Recht schwammiger festgeschrieben, aber immerhin: festgeschrieben.
Denn hierzulande steht im Gesetz vor allem, was Menschen in der Natur nicht dürfen: Privatgelände, also auch Wiesen und Felder, durchstreifen, geschweige denn, dort Zelte aufbauen, Wege in Wäldern und Naturschutzgebieten verlassen. Wenigstens gibt es ein Betretungsrecht.
Nun ist nicht alles schlecht daran. Denn – klar! – geht es der Natur in der Regel besser, wenn wir unsere Finger von und die Füße aus ihr lassen. Als sich während der Corona-Sommer Zehntausende in die nahen Naturschutzgebiete flüchteten, häuften sich die Probleme: zurückgelassener Müll, ausgekippte Campingklos. Nächtlicher Lärm verscheuchte seltene Säuger und brütende Vögel.
Auch in Europas Norden suchten viele Einheimische die Weite – wurden dabei aber viel seltener zu Umweltsündern. Vielleicht liegt es schlicht daran, dass sie weniger sind. Vielleicht liegt es aber auch am Jedermannsrecht.
In Skandinavien leben mehr Menschen in Städten als in Deutschland. Trotzdem wachsen junge Schwedinnen, Norweger, Finninnen intensiver in und mit der Natur auf als unsere Kinder, zeigen Studien – weil sie ein Recht darauf haben. In Norwegen gibt es friluftsbarnehager, Freiluftkindergärten, in denen die Kleinen bei jedem Wetter draußen spielen. Familien campen auf Blumenwiesen, lassen sich eine Woche lang über Flüsse treiben. Mädchen und Jungen lernen früh zu fischen oder Feuer zu machen und zugleich, wie man sich in der Natur benimmt. Naturmanieren sind vielen in Skandinavien so vertraut und wichtig wie der Anstand in einem fremden Zuhause. Sollten wir uns daran nicht ein Beispiel nehmen – und ein deutsches Jedermannsrecht einführen?
Schätzen und schützen
Was man schätzt, das schützt man. Bloß – die allermeisten von uns kennen die echte, pure Natur kaum mehr. Haben noch nie einen Bienenschwarm gesehen, waren nie nächtens im Wald, wenn man nur noch hört und fühlt, weil die Augen nichts mehr wahrnehmen können. Viele haben nie beobachtet, wie schnell ein Blatt verrottet und wie langsam dagegen zurückgelassener Plastikmüll. Wir brauchen wieder mehr Wissen über die Natur und mehr Respekt vor ihr. Aber beides entwickelt sich eben am besten draußen, abseits so vorgegebener wie ausgetretener Waldpfade.
Die Menschen in Felder und Wälder zu lassen, bringt der Natur darum oft mehr, als sie pauschal auszusperren; Skandinavien zeigt, wie das geht.
Und wir stellen uns das nur mal vor: irgendwo in der Mitte Deutschlands, eine Pferdekoppel, durch die ein Flüsschen mäandert, so schön, dass man für eine Nacht bleiben möchte. Bleiben darf.
Dieser Artikel erschien zuerst in GEO Saison 09/2022