Es muss nicht immer die Alpenüberquerung sein, manchmal reicht für ein Abenteuer schon eine Wanderung bis ans Ende eines Flusses. Das sagt zumindest Alastair Humphreys. Und der muss es wissen. Schließlich ist Humphreys so etwas wie der Papst der kleinen Alltagsfluchten. Vor einigen Jahren erfand der Brite das Konzept der Mikroabenteuer, seine Bücher wurden Verkaufsschlager bei Outdoor-Einsteigern. Humphreys wollte mit der Idee zeigen, dass Abenteuer nicht nur was für Waghalsige sind, sondern auch für absolute Durchschnittstypen. Unsportlichkeit, sagt er, sei kein Hindernis, sondern die beste Voraussetzung für unvergessliche Stunden in der Natur.
Aber ist das unvergessliche Naturerlebnis wirklich so leicht zu finden? Wo endet ein stinknormaler Spaziergang und wo beginnt ein Mikroabenteuer? Das möchte ich heute herausfinden und habe mir dafür Kalle, meinen besten Kumpel aus Kindheitstagen, geschnappt. Die Idee, inspiriert von Humphreys: Wir wollen herausfinden, wo die Brucht, der Fluss unserer Kindheit, entspringt, indem wir ihr von unserem Heimatort bis zur Quelle folgen.

Die Pferde zu unserer Rechten interessieren sich wenig für dieses Vorhaben. Gemütlich grasen sie zu Füßen des Vördener Schlosses, dessen Park wir als Ausgangspunkt der Tour gewählt haben. Der kleine Nebenfluss schlängelt sich durch den Norden des Kreises Höxter bis er nach 22 Kilometern in die Nethe mündet. Hier im Schlosspark ist er Teil einer Kulisse, die man mit sechs und dann wieder mit 36 Jahren beeindruckend findet, während man ihren Zauber in der Zeit dazwischen kaum wahrgenommen hat. Im Schatten des barocken Herrenhauses durchzieht die Brucht eine saftige Weide, die in unserer Kindheit noch Wiese war – ohne Elektrozaun und ohne die beiden zwar entspannten, aber doch respekteinflößenden Rosse, die uns daran hindern, näher an das Wasser zu gelangen.
Keine Fotos dokumentieren die Ausflüge aus Kindertagen
"Mir ist aufgefallen, dass es überhaupt keine Bilder aus der Zeit, als wir hier gespielt haben, gibt", sagt Kalle nach den ersten Metern unserer Wanderung. Und leider muss ich zustimmen. Denn während wir selbst als Väter heute fast jedes "Playdate" unserer Kleinen festhalten, hatten unsere Eltern natürlich kein Smartphone dabei. Und ohnehin waren wir an den Orten, die wir heute abgehen wollen, bestenfalls ohne Mama und Papa im Schlepptau unterwegs. Also müssen wir auf die Mediathek unserer Erinnerungen zurückgreifen. Die Bilder, die wir dort finden, erzählen von Staudämmen und von Mutproben, von Geheimverstecken unter Brücken und dort bestaunten Fledermäusen, von gefangenen Kaulquappen und ersten Zigaretten, von den Freuden der Kindheit und den Dramen der Pubertät.
Noch während wir im Erinnerungsalbum blättern, haben wir den Park auch schon verlassen und begeben uns auf einen so gar nicht mikroabenteuerigen Routenabschnitt, der uns mitten durch das Dorf vorbei an einem Friedhof und einem Schweinestall über einen großen Parkplatz und dann erst zurück in die Natur führt.
Wir passieren zwei hölzerne Brücken bis sich die Brucht zu einem See staut. Er ist kleiner als ein Fußballfeld, sein schlammiges, braunes Wasser ist nicht zum Schwimmen geeignet, Zu- und Ablauf machen das Schlittschuhlaufen allenfalls in einem "Jahrhundertwinter" möglich. Und doch: Nah genug am Dorf gelegen, um ihn zu Fuß zu erreichen und weit genug entfernt, um den Augen mahnender Erwachsenen zu entfliehen, ist er Schauplatz unzähliger Kindheitsabenteuer von jenen, die hier aufgewachsen sind.

Von einer Brücke am Ende des Stauweihers, wo der See wieder zum Fluss wird, blicken wir auf eine Insel. Sie ist bewachsen mit einem Dutzend windschiefer Bäume, bewohnt von einer Entenfamilie mit eigenem Haus. Ein Fleckchen Erde, so breit wie zwei SUVs, in einem schlammigen See in der ostwestfälischen Provinz. Und: ein Sehnsuchtsort für Kinder. Nur fünf Meter vom Ufer entfernt liegt sie greifbar nah und zugleich unendlich weit weg. Denn zu erobern, war sie nur für jene Kinder, die das Glück hatten, eine Folge eiskalter Wintertage zu erleben, die eine tragende Eisdecke hervorbringt. Und den Mut besaßen, diese auch zu überqueren.
Es beginnt der landschaftlich schönste Abschnitt unserer Wanderung – und der erste, der den Namen Naturerlebnis verdient. Zumindest dann, wenn man eines daraus macht. Wir verlassen den geschotterten Pfad, durchqueren Brennnesseln und Buschwerk, um für eine Zeit direkt am Wasser zu gehen. Oder besser gesagt im Wasser. Mühelos lässt es sich von Stein zu Stein, von Kieselhaufen zu Kieselhaufen balancieren. Der trockene Sommer hat den Fluss in einen Bach verwandelt.
Als die Brucht hinaus aus dem Wald aufs freie, zumeist aber umzäunte, Feld führt, entschließen wir uns dem offiziellen Weg zu folgen. Auch wenn dies bedeutet, einige hundert Meter vom Wasser entfernt weiterzuziehen. Die Gegend ist uns bekannt genug, um zu wissen, dass wir spätestens im nächsten Dorf wieder direkt auf den Fluss stoßen werden. Die Frage ist: was dann? Denn weiter als dort war noch niemand von uns der Brucht gefolgt.
Enttäuschendes Ziel und die Essenz des Mikroabenteuers
Zunächst aber beschert der Umweg abseits des Wassers eine willkommene Erfrischung. Ob wir es noch schaffen, bis nach oben zu den saftigen Äpfeln zu klettern? Nein, lautet das Ergebnis nicht allzu langen Überlegens. Mit einem mannshohen Stock gelingt es ebenso gut, die Früchte aus der Krone zu klauben.
Der selbstgepflückte Proviant ist gerade verzehrt, da sind wir auch schon am Eingang des nächsten Dörfleins angelangt. Das Finale unseres Mikroabenteuers beginnt. Und wäre es ein Film, man würde dieses Ende wohl als unvorhersehbar und doch enttäuschend bewerten.

Mit dem Ortsschild verschwindet die Brucht über ein Betonrohr ins Unterirdische. Unterfließt Straßen, Häuser und einen Spielplatz, um dann am Ortsende wieder aufzutauchen. Jetzt bald, das hat uns ein Blick auf die Karte verraten, müsste der große Moment gekommen sein. Wir lassen die Häuser hinter uns und folgen der Brucht im Stroboskop der Windräder, die rhythmisch ihre Schatten über die Felder werfen. Das Letzte was wir von ihr sehen ist ein oberschenkeldickes Rohr, das aus der Erde zeigt. Und das soll unsere Quelle sein? Ein rotbraunes Plastikteil aus dem ein Rinnsal plätschert? Wir wollen es nicht glauben, suchen weiter. Aber egal wie weit wir uns durch die Büsche schlagen, es bleibt: trocken.
Das Abenteuer ist vorbei. Doch verdient es diesen Namen überhaupt? Legt man den Nervenkitzel zu Grunde, dann sicher nicht. Aber ist das die richtige Maßeinheit für Mikroabenteuer? "Viele Menschen denken: Ich will etwas erleben, aber kann es nicht, weil einfach zu viel los ist. Die Wahrheit ist: Es wird immer zu viel los sein in deinem Leben", sagt Alastair Humpreys. "Deswegen ist die beste Zeit, um etwas zu unternehmen, ganz einfach: jetzt." Recht hat er. Denn eigentlich ist es ein Wunder, dass diese Wanderung zwischen Vollzeitjob und Vaterschaft überhaupt zustande kam. Einfach so mal treffen? Tagsüber? Grundlos durch die Gegend laufen? Ohne Kinder? Ja, das geht. Und wahrscheinlich ist das der wahre Wert des Mikroabenteuers.