Die Bilder gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf: Bei der Tour de France 1998 streiken manche Fahrer, setzen sich auf die Straße und blockieren das Rennen. Weil sie sich ungerecht behandelt fühlen: von der Polizei und den Staatsanwälten. Razzien in Mannschaftshotels hatte es gegeben, wegen Dopingverdachts. Im Mittelpunkt stand das Team "Festina", das schließlich von der Tour ausgeschlossen wurde, die Beweise waren erdrückend. Und es war weder das erste noch das letzte Mal, dass es wegen Betrügereien zu Ermittlungen kam.
Ein Jahr zuvor hatte Jan Ullrich "La Grand Boucle", die große Schleife, wie die Franzosen das Rennen gern nennen, gewonnen. Als erster Deutscher. Was hierzulande einen Radsport-Taumel auslöste. Und auch mich mitriss. Gewissermaßen über Nacht wurde ich zu einem Ullrich-Fanboy. Ein paar Jahre blieb ich bei der Stange. Die Bilder aus dem Festina-Skandal blieben zwar präsent. Aber mir kamen sie auch so surreal vor, dass ich mir lange das Gegenteil einredete. Ich wollte glauben, dass nun alles gut sei – obwohl ich insgeheim wusste, dass das Unsinn ist.
Die Tour lebt von Dramen, wilden Abfahrten, Stürzen
Spätestens seit dem Tod des Engländers Tom Simpson musste eigentlich jedem klar sein, wie weit Fahrer gingen, um vorne mitmischen zu können – und welche Konsequenzen das haben kann. Simpson starb 1967 am Mont Ventoux, lange vor meiner Zeit. Er war gedopt. Ich hatte davon gehört. Und tat es ab als weitere tragische Ausnahme.
Dann der nächste Hammer: Dopingverdacht beim Team Telekom, Suspendierung von Jan Ullrich, kurz vor dem Start der Tour 2006, meines Helden also, der danach seine Verwicklung über Jahre leugnete. Die Spuren führten unter anderem zur Uni Freiburg und nach Spanien, zu dem Arzt Eufemiano Fuentes. Und schon wieder gab es Bilder, die sich mir einbrannten, diesmal: von Blutbeuteln in einem Kühlschrank. Blutbeutel für die Eigenblutspende, was die Konzentration von roten Blutkörperchen und damit die Ausdauer erhöht. Da war für mich Schluss. Ich konnte mit der Tour de France nichts mehr anfangen.
Wobei mein ganz privater Boykott im krassen Widerspruch zu dem stand, was ich so schätzte. Ich bin Hobby-Rennradfahrer und bilde mir ein, ich könnte mir in etwa vorstellen, welche Strapazen die Profis bei dem Rennen wegstecken. Was es bedeutet, mehr als 3000 Kilometer in drei Wochen zu meistern. In Gedanken strampelte ich mit ihnen mit.
Natürlich, ich weiß: Die Tour ist eine Inszenierung, sie lebt von der Überhöhung, von Dramen, wilden Abfahrten, auch von Stürzen und Tragödien. Sie ist auch eine Marketingveranstaltung für den Tourismus. Aber ich liebe auch den Wettkampf, das Mitfiebern, die Spannung. Und ich bewundere ganz grundsätzlich und zutiefst, was Spitzensportler und Topathletinnen leisten.
Ich blieb am Bildschirm kleben, bangte mit ihm
Meine Urlaube, auch mit der Familie, verbringe ich gern in Frankreich. Die Tour de France lässt mich virtuell durch das Land reisen, entlang der Côte d’Azur, vorbei am Genfer See oder über die Rhone, quer durch die Pyrenäen, durch die Alpen, hinauf auf legendäre Berganstiege wie die zum Galibier oder dem Tourmalet. Es mag kitschig klingen, aber für mich sind das Freilicht-Arenen. Vielleicht ist diese Mischung auch ein Grund, warum die Tour-Skandale bislang abschütteln konnte, als wäre fast nichts gewesen.
Nun geschah mir Ähnliches: Irgendwann konnte ich die Doping-Bilder verdrängen. Eher zufällig schaute ich mir die zwölfte Etappe der Tour im Sommer 2022 an. Ich sah den jungen Briten Tom Pidcock eine Abfahrt herunterrasen, in windschnittigster Haltung, als säße er in einem Formel-I-Boliden. Hinter ihm die Verfolger, dahinter die Meute des Pelotons. Dann fuhr er einen legendären Anstieg bis zum Ziel hinauf – über die Serpentinen einer Bergstraße bis in den Skiort L'Alpe d'Huez. Vor ihm teilte sich die Menge der Zuschauenden wie ein Meer. Leute brüllten ihn voller Ekstase an, rannten neben ihm her. Pidcock hatte noch nie eine Etappe gewonnen. Ich blieb am Bildschirm kleben, bangte mit ihm, kalkulierte seinen Vorsprung. Und er holte sich den Tagessieg. Seitdem bin ich wieder dabei.
Wer sich das Tempo der Fahrer anschaut, muss zweifeln
Und das, obwohl ich in Habacht-Stellung verharre. Denn natürlich weiß ich um die jüngsten Verdachtsfälle. Etwa den, dass Favoriten um den Toursieg mit Kohlenmonoxid eine Leistungssteigerung erreicht haben sollen – mithilfe einer unter Umständen lebensgefährlichen Methode.
Und wer sich das Durchschnittstempo der Gesamtsieger bei der Tour anschaut, muss sowieso zweifeln. Die Grafik dazu ähnelt einer gezackten Fieberkurve voller fallender Temperaturen und neuer Anstiege, aber der Trend dabei kennt nur eine Richtung: Das Rennen wird immer schneller – von der ersten Tour-Ausgabe von 1903 bis heute ist die Geschwindigkeit enorm gestiegen. Bisheriger Höhepunkt: 42.03 Kilometer in der Stunde, ausgerechnet 2022, in dem Jahr, in dem ich wieder einstieg. Diese Zunahme ist vermutlich nicht nur mit aerodynamischen Trikots und optimierten Energydrinks zu erklären – um es mal zurückhaltend zu formulieren.

Zu meiner eigenen Verblüffung habe ich mich damit für den Moment arrangiert. Es ist, als hätte sich mein Hirn zweigeteilt. Als würden meine beiden Gehirnhälften unterschiedlich funktionieren, und die mit der emotionalen Ausrichtung bestimmte nun meinen Sportkonsum. Das ist natürlich völlig unbiologisch, aber egal: Die rationale Gehirnhälfte, die alle drastischen Bilder abgespeichert hat und alle Fakten zum Thema Doping ausspucken könnte, kann ich herunterfahren. Auch weil die Ereignisse, die meinen Boykott ausgelöst haben, schon länger zurückliegen.
Ich kann mich jetzt voll auf meine emotionalen Momente des Radsports fokussieren und lasse mich von dem Sog mitziehen, den die Tour de France bei mir erzeugt. Ich habe mich selber sediert. Das ist inkonsequent. Aber ich lasse es geschehen.
Also werde ich mir Etappen von der 112. Tour de France anschauen und freue mich auch auf die nächsten Ausgaben. Bis wieder etwas passiert und meine rationale Hirnhälfte das Kommando übernimmt.