Zoologisch gesehen ist der Schnabel ein "spitz auslaufendes Mundwerkzeug, das durch die mit Hornscheiden überzogenen Kiefer gebildet wird". Das klingt nicht gerade nach einem raffinierten Körperteil. Doch hinter der nüchternen Beschreibung verbirgt sich eine evolutionäre Errungenschaft, die den Vögeln – neben Federn und Flugfähigkeit – zu ihrem Welterfolg verholfen hat.
Denn der Schnabel – ob bei Reiher, Geier oder Gans – ist ein wahres Multifunktionstool. Man kann damit nach Nahrung schnappen, sich das Gefieder putzen, Nester bauen, Rivalen hinfortpicken. Und vieles, vieles mehr. So ist jeder Schnabel der rund 10.000 Vogelarten anders geformt, auf die speziellen Bedürfnisse seines Trägers optimiert.
Fossilfunde zeigen erstaunliche Evolution
Vor einigen Jahren erst haben Paläontologen anhand aufwendiger Analysen von Fossilfunden entschlüsseln können, wann im Verlauf der Evolutionsgeschichte Vögeln die ersten Schnäbel gewachsen sind. Dies geschah offenbar früher als lange gedacht: vor rund 100 Millionen Jahren. Damals, in der Kreidezeit, flatterte Ichthyornis dispa umher, in einer Welt der Dinosaurier. Der Kopf des Urvogels ähnelte in gewisser Weise dem einer Möwe. Zwar wuchsen ihm noch winzige, stachelspitze Zähne im Mundraum, doch an der Spitze der Kieferknochen ragte ein behornter Schnabel hervor. Der diente als Zange zum Aufpicken von allerlei Urzeitkost.
Während Arme und Hände zu Flügeln wurden, fabrizierte die Natur also mit dem Schnabel eine Art Ersatzhand. Und die nutzen Vögel bis heute in verblüffend vielfältiger Weise.
Greifvögeln dient der gebogene Oberschnabel, der messerscharf über den unteren Part ragt, dazu, ihre Beute in schluckbare Brocken zu filetieren. Gleich einem Präzisionsmeißel gebrauchen Spechte ihr robustes Mundwerkzeug dazu, Bruthöhlen in Baumstämme zu meißeln. Bei Pelikanen ist der Unterschnabel mit einem extrem dehnbaren Kehlsack versehen: Wie mit einem Kescher (Füllvermögen bis zu 13 Liter!) fischen die Seevögel damit in den Fluten. Der Brachvogel wiederum profitiert von einer Art Pinzette: Der lange, dünne und leicht gebogene Schnabel ist hervorragend dazu geeignet, im Schlick punktgenau nach kleinen Leckerbissen zu stochern. Und Papageientaucher dient ihr Gerät zuweilen als Werbetafel: In der Balzzeit schmücken die taubengroßen Vögel ihre klobigen Schnäbel mit prächtig gefärbten Hornwülsten.
Nicht zuletzt hilft das vielseitig einsetzbare Tool auch den ganz Kleinen. Und zwar um das Licht der Welt zu erblicken: Den meisten ungeschlüpften Küken wächst ein spitzer Fortsatz, Eizahn genannt, mit dem sie die Eierschale von innen durchstoßen, um ins Freie zu gelangen.
Der Schnabel kann ein Mordinstrument sein
Bei Honiganzeigern übernimmt der Eizahn noch eine weitere, perfide Funktion: Die unter anderem in Afrika heimischen Vögel sind Brutparasiten (ähnlich wie der Kuckuck) und legen ihre Eier in fremde Nester. Einmal aus dem Ei gelangt, nutzt das Küken den Pickel als Mordwaffe: Rasch hackt es alle anderen Eier auf. Dann prüft der noch blinde Schmarotzer, ob bereits Jungtiere geschlüpft sind. Die tötet er rasch und zerrt sie mit Schnabelkraft zum Ausgang der Bruthöhle. So sichert er sich die alleinige Fürsorge seiner ahnungslosen Pflegeeltern.