Der Wolf gilt als einer der erfolgreichsten Jäger: Als blitzschneller und ausdauernder Läufer kann er seine Beute über weite Strecken verfolgen und schließlich mit seinem kräftigen Kiefer und den spitzen Zähnen in kürzester Zeit in Stücke reißen. Im Rudel nutzt er ausgeklügelte Jagdstrategien, um seine Beute zu umzingeln – und so auch große und starke Tiere zu töten. Eine neue Beobachtung aus Äthiopien lässt den geschickten Jäger nun aber in einem ganz anderen Licht erscheinen: Dort wurde das Raubtier beim Fressen von Blütennektar beobachtet.
Forschende des Äthiopischen Wolfschutzprogramms und der Universität Oxford haben das Verhalten beim Äthiopischen Wolf (Canis simenis) beobachtet, der sich normalerweise von Nagetieren ernährt und als das am stärksten bedrohtes Raubtier Afrikas gilt. In ihrer im Fachmagazin "Ecology" veröffentlichten Studie dokumentieren sie das Verhalten der Tiere im Bale-Mountains-Nationalpark: Mehrere Wölfe aus verschiedenen Rudeln labten sich dort über viele Jahre hinweg immer wieder am Nektar der farbenprächtigen Blüten einer Fackellilie namens Kniphofia foliosa. Manche Tiere suchten während der Blütezeit zwischen Juni und November nacheinander bis zu 30 verschiedene Blüten der Pflanze auf.
Dieses Verhalten scheint völlig neu: Erstmals wurde ein fleischfressendes Raubtier beim Fressen von Nektar beobachtet und vermutlich erstmals die Interaktion zwischen Pflanze und Bestäuber dokumentiert, an der ein großes Raubtier beteiligt ist. Denn beim Fressen des Nektars wird die Schnauze des Wolfes mit Pollen bedeckt, die dann von Blüte zu Blüte übertragen werden. Damit könnte der Wolf eine weitere wichtige Rolle im Ökosystem des äthiopischen Hochlandes spielen.
Bis zu 87 Prozent der blühenden Pflanzen sind bei der Bestäubung auf die Hilfe von Tieren angewiesen, oft sind das Insekten, Vögel oder Fledermäuse. Seit einiger Zeit wird jedoch vermutet, dass die Bestäubung durch flugunfähige Säugetiere weiter verbreitet sein könnte als bisher angenommen. Vor allem kleinere auf Bäumen lebende Säuger wurden bei der Bestäubung von Pflanzen beobachtet, zum Beispiel der Kurzkopfgleitbeutler und die Stuart-Breitfußbeutelmaus in Australien. Dass auch große Fleischfresser eine Rolle bei der Bestäubung von Pflanzen spielen können, ist jedoch neu.
Nektar dient als wichtige Energiequelle wolfdöflic
Nektar könnte den Wölfen im kühlen und nahrungsarmen Hochland Äthiopiens als Energiequelle dienen. Der Nektar der Fackellilie schmeckt angenehm süß – auch Hirtenkinder in der Region lassen sich den Nektar der Blume gerne schmecken. Im Fall des äthiopischen Wolfs gibt es sogar Hinweise darauf, dass das Nektarfressen über soziales Lernen an die nächste Generation weitergegeben wird: Die Forschenden beobachteten, wie erwachsene Wölfe ihre Jungen zu den Blumenfeldern führten.
"Die Ergebnisse zeigen, wie viel wir noch über eines der am stärksten bedrohten Raubtiere der Welt lernen müssen", sagte die Hauptautorin, Sandra Lai von der Universität Oxford, in einer Mitteilung der Universität. "Sie zeigen auch, wie komplex die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Arten sind, die auf dem wunderschönen Dach Afrikas leben. Dieses äußerst einzigartige und artenreiche Ökosystem ist nach wie vor durch den Verlust und die Fragmentierung von Lebensräumen bedroht".
Der Äthiopische Wolf kommt nur im äthiopischen Hochland vor, wo 99 Rudel sechs afroalpine Enklaven durchstreifen. Insgesamt gibt es nur noch weniger als 500 Tiere der Art. Um den Wolf und seinen einzigartigen Lebensraum zu schützen, wurde 1995 das Äthiopische Wolferhaltungsprogramm ins Leben gerufen – das am längsten existierende Naturschutzprogramm des Landes.