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Interview "Wir sollten achtsamer mit Tieren umgehen"

Reh hinter einem Baum
Wir beobachten Tiere - aber sie beobachten uns auch. Auch darauf will Peter Wohlleben mit seinem Buch aufmerksam machen
© mauritius images / nature picture library / Bernard Castelein
Sein Buch über das "Geheime Leben der Bäume" ist ein Bestseller. Jetzt durchleuchtet der Förster Peter Wohlleben "Das Seelenleben der Tiere". Im Interview spricht er über Hahn Friedolin, die Tücken der Wissenschaft und Defizite im Tierschutz

GEO.de: Herr Wohlleben, was gab für Sie den Anstoß, das Buch zu schreiben?

Peter Wohlleben: Ich habe schon als kleines Kind Spinnen beobachtet, Wasserschildkröten im Aquarium gehalten, ein Küken auf einem Heizkissen ausgebrütet. Dabei hat mich immer interessiert, was wohl in Tieren vorgeht. Im Biologie-Unterricht in der Schule wurde ja ein Bild von Tieren vermittelt, als handle es sich um kleine Bio-Roboter. Das fand ich immer schon seltsam. Also habe ich neuere Studien gelesen und mit dem verglichen, was ich selbst draußen erlebt hatte. Da war für mich klar: Das kann nicht stimmen.

Sie berichten über Ihre eigenen Erlebnisse mit Tieren, aber auch über Forschungsergebnisse. Was hat Sie jeweils besonders beeindruckt?

Da ist unser Hahn Friedolin, der seine Hennen belügt: Die Hennen suchen immer das Weite, wenn er sich paarungsbereit nähert. Sei Trick ist, so zu tun, als hätte er etwas besonders Leckeres entdeckt. Hähne sind nämlich sehr zuvorkommend und lassen den Hennen üblicherweise beim Fressen den Vortritt. Er gurrt also, aber wenn die Hennen angerannt kommen, nutzt Hahn Friedolin das sofort aus. Ähnlich ist es bei Elstern: Das Männchen gibt den treuen Ehemann, aber sobald das eigene Weibchen außer Hör- und Sichtweite ist, fängt es an, fremde Weibchen anzubalzen. Da gibt es doch interessante menschliche Parallelen.

Und in der Wissenschaft?

Besonders beeindruckt haben mich Beobachtungen bei Tieren, die uns fern stehen. Forscher haben herausgefunden, dass Fliegen im Schlaf mit den Beinen zappeln, so wie Säugetiere auch. Es ist also möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass Fliegen träumen - Tiere, von denen wir geglaubt haben, sie funktionierten quasi vollautomatisch. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Fliegen ein Bewusstsein haben.

Tierhalter berichten oft von erstaunlichen Fähigkeiten und Gemütsregungen ihrer Lieblinge. Verhaltensforscher beäugen so etwas mit Misstrauen. Warum eigentlich?

Gefühle sind die Sprache der Instinkte. Und wenn wir Tieren Instinkte zugestehen, dann müssen wir ihnen auch Gefühle zugestehen. Klar, wir Menschen unterscheiden uns von Tieren durch unsere Intelligenz. Aber wir haben darüber hinaus offenbar einen starken Wunsch, uns von ihnen abzugrenzen, und zwar seit etwas mehr als 200 Jahren, seit den Zeiten der Aufklärung. Noch heute neigt die Wissenschaft dazu, die emotionalen und kognitiven Fähigkeiten von Tieren zu vorsichtig und zu nüchtern zu beurteilen.

Ein Beispiel?

Nehmen Sie die Evolutionsforschung: Bei Neandertalern hat man ein Zungenbein gefunden. Das ist ein Knochen im Schädel, den wir nur zum Sprechen brauchen. Die Forschung schlussfolgert nun aber nicht, dass der Neandertaler gesprochen hat. Sondern nur, dass er die <i>Fähigkeit</i> besaß, zu sprechen. Genauso gut könnte man sagen, der Neandertaler hatte Augen. Aber ob er damit sehen konnte, wissen wir nicht. Dass die Wissenschaft manchmal etwas zu vorsichtig ist, ist grundsätzlich nicht verwerflich. Aber es verleitet dazu, Dinge, die die Forschung nicht bestätigt, für nicht existent zu halten. Das ist meines Erachtens der entscheidende Fehler. Und der wird genutzt.

Wie? Und von wem?

Die Vorsicht der Wissenschaft erlaubt es uns, uns stärker als nötig von anderen Arten abzugrenzen. Und sie macht es einfacher, Tiere als Rohstoff zu sehen, etwa in der Fleischindustrie. Da wird behauptet, Ferkel verspürten bis zum dritten Lebenstag keinen Schmerz, um ihnen ohne Betäubung die Hoden herauszuschneiden. Da werden Eckzähne herausgebrochen oder bei Kälbern die sehr empfindlichen Hornspitzen weggebrannt - ebenfalls ohne Betäubung.

Inzwischen gibt es auch Studien, die belegen, dass Fische Schmerzen empfinden ...

Man weiß sogar, dass sie auch Angst verspüren können. Diese Fähigkeit hat man ihnen lange abgesprochen. Einfach, weil man im Fisch-Gehirn an der falschen Stelle nach dem Angstzentrum gesucht und es natürlich nicht gefunden hatte.

In einem Experiment, das Sie zitieren, zeigten Wissenschaftler, dass Mäuse Mitgefühl empfinden können - indem man Artgenossen in deren Anwesenheit quälte. Ist eine solche Forschung aus Ihrer Sicht legitim?

Ehrlich gesagt, nein. Diese Forschung wurde doch nur betrieben, weil man schon die Vermutung hatte, dass die Tiere Mitgefühl empfinden können. Und wenn man dieses Mitgefühl erzeugt, indem man andere Wesen leiden lässt, dann finde ich das mehr als grenzwertig. Es ist zwar schön, Gewissheit zu haben, aber im Zweifel lässt man doch lieber ein Geheimnis unentdeckt, als dass man Tiere leiden lässt.

Warum legen wir eigentlich an Tiere so extrem unterschiedliche Maßstäbe an? Hunde behandeln wir wie Familienmitglieder und ähnlich intelligente und soziale Tiere wie Schweine produzieren und schlachten wir massenweise ...

Bei dem Experiment mit den Mäusen kam heraus, dass Mäuse viel stärker für Artgenossen empfinden, die ihnen nahestehen. So ähnlich verhält es sich auch mit Menschen und Tieren. Nahestehend ist für uns nun einmal nicht das Schwein, sondern Hund und Katze. Die würden wir niemals behandeln wie Industrieschweine. Wir haben die Tierhaltung anonymisiert und können damit leben, dass bestimmte Tiere als Rohstoff behandelt werden und nicht wie fühlende Wesen.

Autor und Förster Peter Wohlleben
Förster und Bestseller-Autor: Peter Wohlleben
© Miriam Wohlleben

Das Fazit Ihres Buches könnte lauten: Tiere sind schlauer und menschenähnlicher als wir dachten. Es gibt Forscher und Tierrechtler, die daraus folgern, dass ihnen Grundrechte zustehen. Zum Beispiel Großen Menschenaffen oder Delfinen, die sogar über ein Selbstbewusstsein verfügen ...

Wir Menschen können nicht leben, ohne andere Lebewesen zu nutzen. Da stellt sich schnell die Frage, wo man mit der Rechtevergabe aufhört. Viele Tierrechtler kämpfen ja nur für <i>bestimmte</i> Tierarten. Aber was ist mit den Rechten von Fliegen? Sollen wir ihnen die vorenthalten, nur weil sie mit ihren 200.000 Gehirnzellen ein etwas anderes Leben führen? Wir hätten weiterhin eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Einige Tierarten würden wir aufsteigen lassen. Aber die meisten blieben nach wie vor ausgeschlossen. Das fände ich nicht in Ordnung.

Wofür plädieren Sie stattdessen?

Bestimmte Formen der Massentierhaltung sollten verboten werden, keine Frage. Aber eine Tiernutzung in einem angemessenen Rahmen finde ich in Ordnung. Angemessen ist es allerdings nicht, jeden Tag Fleisch zu essen, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich bin für mehr Tierschutz und für mehr Verständnis für Tiere im Allgemeinen. Wir sollten achtsamer mit ihnen umgehen. In vielen Fällen haben wir doch Wahlmöglichkeiten zugunsten von Tieren und Pflanzen, die nicht einmal mit einem großen Verzicht oder mehr Aufwand verbunden sind. Ein gutes Beispiel ist für mich, dass in Deutschland heute kaum noch Eier aus Käfighaltung auf den Tisch kommen. Einfach, weil die Kennzeichnung uns eine Wahlmöglichkeit gibt. Ich würde mir wünschen, dass so etwas auch für Fleischprodukte eingeführt wird.

Peter Wohlleben
Das Seelenleben der Tiere
Geb., 240 Seiten, 19,99 Euro
Ludwig Verlag 2016

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