Wo können sich Pflanzen und Tiere in Deutschland ungestört entwickeln, wo finden bedrohte Arten Schutz, wie groß ist das Gebiet, in dem der Mensch keinerlei Einfluss auf Flora und Fauna hat? Kurz gesagt: Wo gibt es in Deutschland noch echte Wildnis – und wie viel gibt es davon? Als Antwort auf diese Fragen gab es lange Zeit nur grobe Schätzungen. Nun aber haben sich die Heinz Sielmann Stiftung, die Naturstiftung David und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt auf die Suche nach der Wildnis in Deutschland gemacht und die Ergebnisse in der ersten bundesweiten Wildnisbilanz vorgestellt.
Gefunden haben sie rund 220.000 Hektar weitgehend unberührte Natur, das sind etwa 0,62 Prozent der Landesfläche. Rechnet man die bereits geplanten Schutzgebiete hinzu, steigt die Zahl auf 0,73 Prozent. Doch auch damit bleibt Deutschland weit hinter den selbst gesteckten Wildniszielen zurück: Eigentlich hatte sich die Bundesregierung 2007 mit der Nationalen Biodiversitätsstrategie das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 zwei Prozent der Fläche als Wildnisgebiete auszuweisen.
Zwei-Prozent-Ziel ließe sich sogar übertreffen
Die nun vorgestellte Bilanz zeigt aber auch: Deutschland könnte trotz seiner teilweise dichten Besiedlung noch viel wilder sein, es gibt große ungenutzte Potenziale. "Unsere Hochrechnungen zeigen, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen und damit das Zwei-Prozent-Ziel sogar übertroffen werden könnte", sagt Heiko Schumacher, Leiter des Bereichs Biodiversität bei der Heinz Sielmann Stiftung. Berücksichtigt wurden dabei nur Flächen, die sich in öffentlicher Hand befinden, also realistisch in Wildnis verwandelt werden könnten, und die größer als 1000 Hektar sind – beziehungsweise 500 Hektar bei Auen, Mooren, Seen und Küsten –, damit keine Störungen durch den Menschen auftreten. Aber auch bestehende Nationalparks und Kernzonen von Biosphärenreservaten, die dauerhaft rechtlich geschützt sind und in denen weder gejagt noch gefischt wird, werden in der Studie berücksichtigt.
"Wildnis ist eine Schatzkammer der biologischen Vielfalt. Der Erhalt der Biodiversität in Deutschland ist ein wichtiges Thema, das mindestens gleichrangig mit dem Klimaschutz ist – der aber häufig mehr Aufmerksamkeit bekommt", sagt Schumacher. "Wenn wir beim Schutz der tropischen Regenwälder mit dem Finger auf andere Länder zeigen können, muss es doch auch möglich sein, in Deutschland zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete zu verwandeln." Wildnis ist vor allem ein wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen, aber auch für den Klima- und Hochwasserschutz sind Gebiete, in denen sich die Natur frei entfalten kann, wichtig.

Die größten Wildnisflächen gibt es der Studie zufolge derzeit in Mecklenburg-Vorpommern: Die Natur darf sich hier auf knapp 38.000 Hektar frei entfalten, in den kommenden Jahren sollen an Rügens Ostseeküste weitere 1000 Hektar hinzukommen. Mit 1,63 Prozent seiner Fläche kommt das Bundesland den Wildniszielen bereits am nächsten, auch 1,14 Prozent der Landesfläche Brandenburgs sind bereits Wildnis. "In diesen Bundesländern gibt es noch viele große, unzerschnittene Flächen", sagt Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David. In absoluten Zahlen – vor allem dank der großen Nationalparks Berchtesgaden und Bayerischer Wald – verfügt zwar auch Bayern über große Wildnisflächen, setzt man sie ins Verhältnis zu der großen Landesfläche sind es allerdings nur 0,52 Prozent.
Der politische Wille lässt nach
Das Schlusslicht ist Baden-Württemberg mit nur 0,21 Prozent. Zuletzt habe hier der politische Wille gefehlt, und es habe Gegenwind beim Ausbau des Nationalparks Schwarzwald gegeben, sagt Schumacher: "Da ist noch Luft nach oben." Gleichzeitig, so Johst, sei Baden-Württemberg im Gegensatz zu den Ländern im Norden viel kleinteiliger; Niedersachsen mit seinen Moorflächen habe es etwa einfacher, große Schutzgebiete auszuweisen. Doch selbst im besonders dicht besiedelten und zerschnittenen Nordrhein-Westfalen ließen sich den Prognosen zufolge zwei Prozent der Landesfläche in Wildnis verwandeln – wenngleich darunter viele Landeswaldflächen fallen würden.
Auch GEO schafft Wildnis
Nicht nur die großen Nationalparks und Wildnisgebiete in Deutschland sind wichtig, es braucht auch kleinere Gebiete, in denen sich die Natur ungestört entwickeln darf: Sie vernetzen größere Naturschutzgebiete miteinander und dienen als Wildnis-Oasen, in die sich Tiere zurückziehen können. Der Verein GEO schafft Wildnis e.V. will solche Wildnisgebiete schaffen: Mit Spendengeldern kaufen wir Waldgebiete auf und überlassen sie dann ganz sich selbst, damit sich Pflanzen und Tiere ungestört entwickeln können. Mehr dazu unter geo.de/wildnis.
Neben der Herausforderung, in Deutschland große, unzerschnittene Flächen zu finden, gibt es auch Nutzungsinteressen von Forstwirtschaft und Privatpersonen. Und die Unterstützung für den Wildnisschutz lasse nach, beklagen die Naturschutzorganisationen. "Es braucht weiterhin politischen Rückenwind", sagt Johst. "Der lässt momentan aber ein wenig nach oder dreht sich sogar und bläst uns entgegen." War jahrelang allgemein anerkannt, dass Wildnisschutz zwar schwierig, aber grundsätzlich wichtig und richtig sei, käme es inzwischen zu Gegenbewegungen, selbst bestehende Wildnisgebiete würden teils hinterfragt. Um Kommunen und Privatpersonen zu entschädigen, die Land besitzen und dem Wildnisschutz zuliebe auf die Nutzung ihrer Flächen verzichten, gibt es deshalb seit 2019 den Wildnisfonds, dessen Mittel zuletzt voll ausgeschöpft wurden. Das kürzlich eingeführte Förderprogramm KlimaWildnis unterstützt auch kleinere Wildnisprojekte.
Die nationale Biodiversitätsstrategie wird aktuell überarbeitet, 2030 soll die Zwei-Prozent-Marke dann endlich geknackt werden. Doch dafür braucht der Bund die Länder, private Akteure, Stiftungen und Verbände, sagt Adrian Johst – der Bund selbst habe nicht genügend Flächen zur Erreichung der Ziele. Neben klassischen Waldgebieten sieht er viel Potenzial in früheren Bergbaulandschaften, ehemaligen Militärgebieten und im Hochgebirge, wo sich relativ konfliktfrei große Flächen als Wildnisgebiete ausweisen ließen.