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Kenia Löwen waren seine Feinde – jetzt widmet Jeneria Lekilelei sein Leben ihrem Schutz

Techno-Krieger: Ihre Vorfahren verfolgten Löwen mit Speeren – Jeneria Lekilelei (l.) und sein Freund Letoiye setzen ihnen mit einer Antenne nach. Ein klickender Laut verrät: Eine besenderte Raub­katze ist in der Nähe. Verlässt sie das Schutzgebiet, warnt Jeneria die Hirten
Techno-Krieger: Ihre Vorfahren verfolgten Löwen mit Speeren – Jeneria Lekilelei (l.) und sein Freund Letoiye setzen ihnen mit einer Antenne nach. Ein klickender Laut verrät: Eine besenderte Raub­katze ist in der Nähe. Verlässt sie das Schutzgebiet, warnt Jeneria die Hirten
© David Chancellor
Der Löwe ist der Gegner: Er reißt das Vieh, manchmal tötet er auch Menschen. So denken die Hirten vom Volk der Samburu in Kenia seit altersher, so hat Jeneria Lekilelei es gelernt. Dann hat er die Seiten gewechselt – heute ist der Schutz der Tiere sein Lebensinhalt. Die Geschichte einer Verwandlung

Weit ist der Morgen, als Jeneria Lekilelei auf Löwenjagd geht. Er fährt wie der Teufel, über Geröllpisten, Sandwege, durch Flussbetten. Die Umrisse des Mount Kenya lösen sich aus der Dunkelheit, als er in das Samburu National Reserve, mit­ten in Kenia gelegen, hineinfährt. Sanft fällt erstes Licht auf eine Uferlandschaft, auf Flussakazien, Palmen und lianenumschlungene Sträucher. An Zweigen hängen Vogelnester, sie gleichen Mobiles, die im Windhauch erzittern. Stare fliegen blau schimmernd auf. Eine Elefantenherde zieht vorbei. Im Gras ruht eine Giraffe, die Beine gei­sha­gleich unter den Leib gebogen.

Jeneria, 30, schmal die Schultern, geschoren der Kopf, drosselt die Geschwindigkeit. Sieht sich um. Prüft. Nimmt Schatten wahr, Gerüche. Sucht nach Abdrücken von Löwentatzen im Sand. Er kennt den Busch, er weiß ihn zu lesen wie ein Mathematiker komplizierte Zahlenreihen. Denn Jeneria ist ein "Moran", so nennt das halb­nomadische Hirtenvolk der Samburu seine Krieger, und als solcher ist Jeneria prachtvoll gekleidet: Er trägt Kopf- und Halsschmuck, Armbänder, eine Kette, an der – Schönheit verneigt sich vor Prak­tikabilität – ein Nagelknipser hängt.

Der Löwe: Feind oder Freund?

Irgendwo im Umfeld von 200 Quadratmetern muss der Löwe sein, das hat eine App verraten. Sie zeichnet die Bewegung des Tieres auf, ein Sender um dessen Hals überträgt die GPS-­Daten. Der Mensch jagt seit jeher Löwen, schießt dessen Beutetiere, beschneidet seine Reviere.  Vor 50 Jahren lebten schätzungsweise 100000 Löwen in Afrika. Inzwischen sind es, Wissenschaftler sind sich nicht ganz einig, 20000 bis 35000. Kenia, Heimat von nicht einmal 2000 Löwen, verliert etwa 100 im Jahr.

Der Löwe: Er ist dein Feind. So hat Jeneria es gelernt. Gehasst hat er die großen Katzen. Verabscheut, wie alle Hirten es tun. Denn nehmen die Raubtiere ihnen nicht das Kostbarste: ihre Rinder, Schafe, Ziegen? Können sie nicht sogar Menschen töten? Heißt es im Zweifelsfall nicht: der Löwe – oder wir?

Löwenschützer: Er trägt die Tracht der Väter, doch er ist kein Hirte mehr: Mit seinem Projekt "Warrior Watch" verbindet der Krieger Jeneria Lekilelei die Tradition seines Volkes mit dem Schutz der Löwen
Löwenschützer: Er trägt die Tracht der Väter, doch er ist kein Hirte mehr: Mit seinem Projekt "Warrior Watch" verbindet der Krieger Jeneria Lekilelei die Tradition seines Volkes mit dem Schutz der Löwen
© David Chancellor

Wenn Jeneria heute über die Raubkatzen spricht, dann klingt es, als erzähle er Geschichten von guten Freun­den oder Verwandten. Denn der Krieger hat die Seiten gewechselt – er ist zum Beschützer der Löwen geworden. Bei der NGO Ewaso Lions leitet er das Projekt "Warrior Watch". Er selbst hat es 2010 ins Leben gerufen. Trainierte 22 Krieger, denn wer wäre geeigneter, den Löwen zu folgen?

Der Moran ist das freieste Mitglied seiner Gemeinschaft, er kommt und geht, er ist oft auf Wanderschaft, um Vieh zu hüten. "Die Krieger können Spuren lesen, sie müssen ihr Leben nicht ändern, wenn sie bei uns mitarbeiten", sagt Jeneria. Er rüs­tete sie mit GPS-Trackern aus. Verlässt ein Löwe das Schutzgebiet, warnen sie die Hirten, wenn er ihren Tieren zu nahe zu kommen droht.

Der Schutz der Löwen hat Jeneria zu seiner Lebensaufgabe gemacht

Jeneria trägt immer ein Heft mit sich. Einen Stammbaum hat er hineingemalt, hat die Eigenar­ten verschiedener Löwen festgehalten: die Form der Ohren mit Kerben und Narben. Die Nasen und Schnurrhaare. Die Zeichnungen, mit schnellen Strichen gemalt, sind Dokumente der Zärtlichkeit. Seinen Geburtstag hat Jeneria nie genau gewusst, die Geburtstage seiner Kälber sofort vergessen. Die seiner Löwen notiert er säuberlich in das Heft. Der Schutz der Löwen ist sein Leben.

Ein Anruf, Jeneria drückt sich das Mobiltelefon ans Ohr, der Geländewagen ist sein Büro. Schwer nachzuvollziehen, wie ein Mensch es schafft, gleichzeitig zu telefonieren, Nachrichten zu schreiben, über schlaglöchrige Wege zu brettern und dabei Fährten und Tiere zu entdecken. Da hinten im Busch? Ein Leopard, er hat sich mit seiner Beute versteckt. Der Schatten in der Ferne? Eine Hyäne.

Und dort, im Sand: frische Löwenspuren. Er muss in der Nähe sein! Und plötzlich liegt da ein Löwe, nur einen halben Meter entfernt, vor seinen Pranken ein Kudu, zur Hälfte zerfleischt. Rund ist der Bauch der Katze, mächtig sind ihre Tatzen – und doch verrät das hängende Maul ihr fortgeschrittenes Alter. Der Löwe kommt langsam auf uns zu. Blickt aus bernsteinfarbenen Augen.

Die Rückkehr des Königs ohne Reich

Vor uns steht Lguret: der gefallene Herrscher, der König ohne Reich. Jeneria erzählt uns dessen Leben – ein Stoff, aus dem große Dramen sind, Shakespeare, Aufstieg und Fall mächtiger Dynastien. Einst gebot Lguret über ein Territorium, das sich über mehr als zwei Reservate erstreckte. Es war bevölkert von einem Harem mit 28 Löwinnen, die in drei Rudeln lebten und mit denen der König Generationen von Nachfahren zeugte.

Im vergangenen Jahr aber kamen vier Brüder, sie vertrieben Lguret aus seinem Reich. Heimlich ist er jetzt zurückgekehrt, doch wenn die Brüder ihn entdecken, werden sie ihn wieder verscheuchen. Lguret ist zwölf Jahre alt, seine Mähne ist ausgedünnt, seine Kiefer, seine Pranken haben nicht mehr die Kraft von einst. Löwen können 25 Jahre alt werden, erzählt Jeneria.

Fette Beute Löwen haben ein Zebra erlegt, im Samburu National Reserve der Lauf der Natur. Die Katzen aber haben riesige Reviere. Verlassen sie die Schutzgebiete, können sie zu einer Gefahr ­werden – und sind gefährdet
Fette Beute Löwen haben ein Zebra erlegt, im Samburu National Reserve der Lauf der Natur. Die Katzen aber haben riesige Reviere. Verlassen sie die Schutzgebiete, können sie zu einer Gefahr ­werden – und sind gefährdet
© David Chancellor

Doch da die Bedingun­gen im Samburu-Schutzgebiet so harsch seien, erreichten sie hier nur ein Alter von 16, 17 Jahren. Noch hat der alte König Glück: Auch sein Sohn wurde von seinem Rudel vertrieben, weil er begonnen hatte, Mutter und Schwestern zu bespringen – die Löwinnen wollen Inzucht vermeiden. Doch der Junge wird seinen Vater bald verlassen, um sein eigenes Reich zu gründen. "Der Alte hat Angst, dass ihm der Sohn wegläuft", sagt Jeneria. "Man sieht es an der Fährte: Der Junge hat das Kudu erlegt. Lguret ist hinter ihm hergetrottet. Wenn er allein ist, wird er schreckliche Pro­bleme bekommen."

Einsam, alt, die Zähne zu stumpf zum Jagen, von Hunger geplagt, könnte er sich nach leichter Beute umsehen. Weiches Menschenfleisch, für Löwen mit Zahnschmerzen ist das so etwas wie Kartoffelbrei in einem Altenheim. Löwen jagen Menschen für gewöhnlich nicht; dennoch starben in Kenia in den letzten fünf Jahren zehn Menschen bei Löwenangriffen.

Deshalb muss Jeneria Lguret beobachten, dessen Wege kennen, muss wissen, wann er beginnt, Hunger zu leiden – und ob er für Menschen gefährlich werden kann. Dann wird Jeneria eine Ent­schei­dung treffen und die Jäger des Kenia Wildlife Service benachrichtigen, damit sie Lguret erschießen. Denn Jeneria muss nicht nur die Löwen vor den Menschen schützen. Sondern auch die Menschen vor den Löwen.

Menschenland bedeutet Lebensgefahr für die Löwen

Das Territorium, in dem Jeneria ar­bei­tet, ist gewaltig. Es erstreckt sich über 4000 Quadratkilometer, darunter drei nationale Reservate und sechs von Gemeinden ver­wal­tete Naturschutzgebiete, in denen Menschen leben. Tagelang ziehen wir mit ihm durch das Land, besteigen einen Berg, überblicken die unendliche Weite. In der Ferne hütet ein Mädchen Schafe, eine Windhose tanzt über die Savanne.

Wer mit Jeneria Löwen sucht, der lernt ein wenig, die Welt aus Löwenaugen zu sehen. Begreift, wie sie sich bewegen. Jeneria zeigt uns die Korridore, die sie auf ihren Wanderungen durchschreiten, Stellen, an denen sie rasten und trinken.

Und langsam versteht man: Die Welt der Löwen ist eine viel weitere als jene, die ihnen die Menschen zugestehen. Ein dominantes Männchen durchstreift ein Revier von bis zu 250 Quadratkilo­metern. Das Samburu National Reserve erstreckt sich über 164 Quadratkilometer. Wenn sich ein Löwe bewegt, wie es sich für einen Löwen gehört, wird er das Reservat verlassen und dorthin wandern, wo Menschen leben: Hirten, denen ihr Vieh unendlich wichtig ist. Und die die Löwen als Bedrohung begreifen.

Karge Heimat: Vieh ist der wertvollste Besitz der Samburu. Abends treiben sie die Tiere zum Schutz in die dornenumkränzten Pferche des Dorfes Sasaab. Hier ist Jeneria Lekilelei auf­gewachsen
Karge Heimat: Vieh ist der wertvollste Besitz der Samburu. Abends treiben sie die Tiere zum Schutz in die dornenumkränzten Pferche des Dorfes Sasaab. Hier ist Jeneria Lekilelei auf­gewachsen
© David Chancellor

Als die Zoologin Shivani Bhalla in der Samburu-­Region forschte, stellte sie fest, dass zwischen 2002 und 2004 bis auf elf Tiere fast alle Löwen verschwunden waren. Die Erklärung: Sobald die Raubtiere im Menschenland unterwegs sind, sind sie in Lebensgefahr, weil Viehhirten sie erschießen. Shivani Bhalla erkannte: Wollte sie Löwen schüt­­zen, musste sie mit der Bevölkerung zusammenarbeiten. 2007 gründete sie Ewaso Lions. Und sie brauchte Verbündete.

Die Karawane nach Hause

Die Sonne geht unter, Staubkörner tanzen im letzten Licht. Es ist die Stunde, in der die Hirten ihre Tiere zurück ins Dorf Sasaab treiben. Karawanen von Schafen, Rindern, Ziegen traben von allen Sei­ten heran, Kamele wiegen sich in leichtem Schritt. In Sasaab ist Jeneria aufgewachsen.

Eine Schot­ter­­straße, gesäumt von ein paar Hütten, hier leben etwa 150 bis 200 Menschen. Eine Schule, eine Krankenstation. Kein Geschäft, noch nicht mal ein Kiosk. Die Hütten sind niedrig, aus Zweigen, Wellblech und Karton gebaut, eine jede liegt in einem Hof, der von einem Zaun aus Dornen umkränzt ist. Dort hinein treiben die Familien das Vieh. Sie leben mit und von den Tieren, trinken ihr Blut und ihre Milch, essen ihr Fleisch. Schafe, Rinder, Ziegen sind Nahrung, Versicherung und Kapital, sie spenden dem, der viele von ihnen hat, Prestige.

Sasaab ist eine Welt, die sehr traditionell ist, auch wenn einige dort ein Mobiltelefon besitzen. Und es ist eine Welt, in der die Kindheit eines Jungen mit der Beschneidung endet.

Löwen zu schützen gilt als eine verrückte Idee in Sasaab

"Ich wuchs mit dem Gedanken auf, dass ich für dieses Ritual einen Löwen zu töten habe", erzählt Jeneria. "Denn bei der Beschneidung muss man ein Stück Löwenhaut bei sich tragen." Doch weil mit Jeneria 43 andere Jungen beschnitten ­wurden und das den Tod von 43 Löwen bedeutet hätte, schenkte der Wildlife Service jedem ein Stück ­Löwenhaut für die Zeremonie.

Jeneria war 19 und mit der Schule fertig, als er erfuhr, dass die Forscherin Shivani Bhalla Leute suchte, die ihr beim Erfassen von Daten halfen. Jeneria konnte Löwen zwar nicht ausstehen, doch er suchte einen Job – eine große Auswahl gab es in seiner Heimat nicht. "Im ersten Jahr hasste er seine Arbeit", erinnert sich Bhalla, "weil er nur einer festgelegten Route folgte, Daten sammelte und kaum Tiere zu Gesicht bekam. Und er verabscheute die grüne Uniform."

Schulbank: Jede Woche versammeln sich die Löwenkrieger zum Unterricht: Sie erlernen den Umgang mit GPS und bekommen Nachhilfe in Englisch, Suaheli und Mathematik
Schulbank: Jede Woche versammeln sich die Löwenkrieger zum Unterricht: Sie erlernen den Umgang mit GPS und bekommen Nachhilfe in Englisch, Suaheli und Mathematik
© David Chancellor

Eines Tages aber brauchte sie jemanden, der sie auf Löwensuche begleitete. Jeneria meldete sich. "Auf dieser Tour lernte ich einen völlig anderen Menschen kennen", erzählt Bhalla. "Es war, als ob er plötzlich zum Leben erwacht wäre." Als sie zurückkamen, sagte sie ihm: "Du warst auf der falschen Position!" Und Jeneria antwortete: "Ja, ich will draußen sein und nach Löwen Ausschau halten." Die Erkundungstour war sein Erweckungserlebnis. Im Dorf schüttelten sie anfangs die Köpfe: "Was machst du mit dieser verrückten Frau?" "Löwen schützen – was ist das für eine verrückte Idee?" "Viel zu gefährlich!", beschied der Vater.

Jeneria's Bestimmung und Botschaft: Menschen und Raubkatzen können zusammen in einer Welt leben

Jeneria aber hatte seine Bestimmung gefunden. Und je mehr er über die Löwen lernte, desto wichtiger wurden sie ihm. Es ist ein Paradox: Weil er ein Krieger ist, kann er seinen Job so gut erledigen, gleichzeitig muss er genau dafür die Rolle des Kriegers verändern. Jeneria ist zum Vermittler geworden: zwischen wilden Tieren und Menschen, zwischen Naturschutz und Tradition der Hirten.

Seine Botschaft ist eigentlich einfach: Mensch und Raubkatze können zusammen in einer Welt leben. Davon muss er seine Gemeinschaft überzeugen, muss Wütende besänftigen, Ängstliche beruhigen, Zweifelnde gewinnen. Eine unendlich heikle Aufgabe: Denn wie wird aus Hass Wohlwollen? Wie überzeugt man Hirten davon, Löwen zu schonen, auch wenn sie Rinder und Schafe reißen?

Ausblick: In welche Richtung ziehen die Viehherden? Warrior Letoiye muss nicht nur die Wege der Raubkatzen kennen, sondern auch jene der Hirten. Im Land der Samburu ist Platz für Men­schen und wilde Tiere – davon sind die Löwenkrieger überzeugt
Ausblick: In welche Richtung ziehen die Viehherden? Warrior Letoiye muss nicht nur die Wege der Raubkatzen kennen, sondern auch jene der Hirten. Im Land der Samburu ist Platz für Men­schen und wilde Tiere – davon sind die Löwenkrieger überzeugt
© David Chancellor

Unermüdlich werben Jeneria und Shivani für ihre Idee. Sie arbeiten mit den Dorfbewohnern, veranstalten Seminare zum Löwenschutz, starten Umfragen, um die Stimmung in den Gemeinden einschätzen zu können: Wie viele Nutztiere sind die Hirten bereit zu opfern? Sie geben den Hirten Licht- und Tonanlagen, denn Helligkeit und Menschenstimmen können Löwen nicht ausstehen.

In dem Gebiet leben Samburu und Massai, Turkana, Borana und Somali; wie viele Menschen das sind, darüber gibt es keine öffentlichen Statistiken. Ewaso Lions wendet sich an alle: junge und alte Männer und Frauen, Dorfchefs, Kinder. Der Schutz der Löwen, der Wildtiere, soll ein Anliegen aller werden, das wünscht sich Jeneria. "Es geht nicht um Geld, nicht darum, dass Touristen zu uns kommen, weil sie hier Löwen sehen können. Die gehören zu unserem Leben, zu unserer Kultur!"

Das Vertrauen der Hirtinnen

Wie ein Bandwurm schlängelt sich das ausgetrocknete Flussbett durch die Landschaft. In der Mittagssonne glänzt der Sand weiß wie Schnee. Am Ufer stehen Ziegenhirtinnen. Sie sind noch jung, Mädchen und Teenager, reich verzierte Fußbänder schmücken ihre Fesseln, ihre Brüste werden von roten Perlenketten bedeckt, die sie um Hals und Dekolleté tragen.

Wieselschnell stiehlt Jeneria einer von ihnen den Hirtenstock. "Schau, kleines Mädchen, du hast einen Stock, aber was machst du damit? Du kannst doch nicht mal einen Schakal damit schlagen!" Sie kichert und erwidert empört: "Doch, das kann ich!"

"Ihr wisst nicht mal, wie Löwenspuren aussehen!", setzt ein Freund Jenerias nach. Die Mädchen rufen durcheinander: "Aber ja, na­türlich wissen wir das." Sie lachen.

Vision: Morgens das Brüllen eines Löwen zu hören ist ein gutes Omen. Alle Samburu sollen die Raubkatzen schützen, das ist das Ziel der Initiative "Warrior Watch", die Jeneria 2010 gegründet hat. Die Krieger haben Erfolg: Die Zahl der Löwen in der Region ist seither von elf auf 50 gestiegen
Vision: Morgens das Brüllen eines Löwen zu hören ist ein gutes Omen. Alle Samburu sollen die Raubkatzen schützen, das ist das Ziel der Initiative "Warrior Watch", die Jeneria 2010 gegründet hat. Die Krieger haben Erfolg: Die Zahl der Löwen in der Region ist seither von elf auf 50 gestiegen
© David Chancellor

Beim Weggehen sagt Jeneria leise: "Ich wollte die Mädchen nicht einschüchtern, deshalb habe ich nicht sofort ernste Fragen gestellt. Sie sollten erst einmal lachen. Denn dann verlieren sie ihre Angst und fassen Vertrauen." Vertrauen ist die Basis seiner Arbeit. Und ganz nebenbei hat er Informationen gesammelt: Welche Tiere haben die Mädchen gesehen? Welche Spuren entdeckt? Mit jedem Plausch am Wegesrand erweitert er sein Wissen über Tiere, Menschen und ihr Zusammenleben.

Jeneria kann sich auf viele einstellen. Wie jeder Vermittler, der sein Handwerk versteht, bewegt er sich mit großer Geschmeidigkeit. Er ist ein Wanderer zwischen Welten: Mal lebt er im Zelt, mal in einer traditionellen Hütte, mal hält er auf Konferenzen in New York oder London Vorträge über seine Ideen zum Schutz der Löwen.

Was wäre Kenia für ein Land ohne Löwen

Nicht immer ist Jenerias Arbeit so sanft wie die Be­gegnung mit den Ziegenhirtinnen. Es gibt Tage, da ist sie verdammt hart: wenn ein Löwe ein Nutztier reißt. "Dann muss ich schnell sein. Sofort los­fah­ren, bevor sich die Dorfgemeinschaft versammelt und beschließt, den Löwen zu töten", sagt Jeneria. Und das ist sehr einfach geworden: "Früher brauchte man dafür zehn Männer mit Speeren. Heute reicht ein Mann mit Gewehr."

Wenn ihm eine aufgebrachte Menge gegenübersteht, dann beruft er sich auf die Alten, denn schon die beschrieben die Härten des Hirtendaseins: "Wenn du fünf Kühe besitzt, wirst du eine deinem Freund in Not geben. Eine wird verunglücken. Und eine wird der Löwe fressen."

Ein und alles Die Samburu leben mit und von ihrem Vieh. Kühe, Ziegen, Schafe sind Nahrung, Kapital, Versicherung und verleihen Prestige
Ein und alles Die Samburu leben mit und von ihrem Vieh. Kühe, Ziegen, Schafe sind Nahrung, Kapital, Versicherung und verleihen Prestige
© David Chancellor

Er erinnert die Menschen daran, dass es die Samburu immer für ein gutes Zeichen gehalten haben, morgens die Raubkatze brüllen zu hören. Und was wäre Kenia für ein Land, fragt er sie, wenn es dort eines Tages keine Löwen mehr gäbe? Natürlich weiß er, dass er den Hirten viel abverlangt. Tiere sind teuer, vor allem Kamele – eines kann bis zu 600 Euro kosten. Ein Vermögen.

Ein sonniger Nachmittag, Jeneria und seine Kriegerfreunde haben es sich am Fluss gemütlich gemacht. Der eine legt sein Mobiltelefon auf einen Haufen Elefantendung, denn dort liegt es weich, andere halten unter einem Busch Mittagsschlaf. Wenn man mit Jeneria und seinen Freunden durch die Gegend zieht, gewinnt man den Eindruck, der Busch sei ihr Wohnzimmer. Und nie hat man einen bezaubernderen Kriegerhaufen gesehen: Sie frisieren einander, kochen gemeinsam, fotografieren sich ohne Unterlass, scherzen darüber, wer von ihnen als Erster wei­ße Haare bekommen wird.

Ausgerechnet ein sonst friedliche Löwin löste eine große Katastrophe aus

Besonders gern erzählt Jeneria die Geschichte, wie sein Freund Letoiye zum ersten Mal in die Hauptstadt Nairobi kam. Und nicht glau­ben konnte, dass die strahlend saubere ­öffentliche Toilette wirklich zum Pinkeln da war. "Ihr macht Fotos von Tieren", sagt Jeneria. "Letoiye hat sich vor Hochhäusern fotografiert."

Abends kehren die Krieger ins Ewaso Lions Camp zurück: Eine Holzhütte auf einem Berg, von Zelten umgeben, der Blick geht weit über das Tal. Viele Männer und eine Frau versammeln sich um einen Tisch, der Koch serviert Tee. Hinter ihnen eine Wandmalerei, sie zeigt eine Löwin, friedlich liegt sie am Rande eines Waldes. Das ist Na­shi­pae, in der Sprache der Samburu "die Glückliche". Sie war die Löwin, die alle liebten, eine Supermutter, die Generationen von Löwenjungen gebar. Neugierig war sie und sozial.

Alarmsystem Achtung, ein Löwe nähert sich! Jeneria erhält einen Anruf aus einem Dorf. Viehhirten haben dort eine Raub­katze entdeckt
Alarmsystem Achtung, ein Löwe nähert sich! Jeneria erhält einen Anruf aus einem Dorf. Viehhirten haben dort eine Raub­katze entdeckt
© David Chancellor

Ausgerechnet Nashipae löste die größte Kata­strophe aus, die Jeneria je erlebt hat. Im Frühling 2017 war die Löwin 16 Jahre alt, einsam und von Zahnschmerzen geplagt. Jeneria wusste, dass sie gefährlich werden konnte, und alarmierte den Wild Life Service: Nashipae sollte geschossen werden. Dann aber verloren sie die Löwin eine Woche lang aus den Augen. Als sie sie wiederfanden, war Nashipae, hungrig, in ein Hirtenlager eingedrungen, zur Mittagszeit, alle Erwachsenen arbeiteten oder hatten sich zum Schlafen niedergelegt, so auch ein siebenjähriger Junge. Die Löwin hatte ihn angefallen und zur Hälfte gefressen.

Die Hirten erschossen Nashipae, Jeneria stand, als er am Tatort ankam, 200 wütenden Menschen gegenüber. "Sie griffen mich an, sie schrien: ‚Das ist also der Löwe, den wir deiner Meinung nach schützen sollen?‘" Es gelang ihm kaum, sie zu beruhigen. Dann musste Jeneria zur Totenhalle gehen, um das Opfer der Löwin zu identifizieren; den Eltern war das nicht zuzumuten. "Es war entsetzlich. Sie öffneten Kiste um Kiste, am Ende lag dort das zerfleischte Kind."

Die Katastrophe war für Jeneria eine grausame Ermahnung, dass seine Verantwortung gewaltig ist. Deshalb muss er Lguret, den König ohne Reich, verfolgen und unter Kontrolle behalten. Er muss wissen, wie sich dessen Lebensdrama entwickelt und wann es Zeit ist, ihn sterben zu lassen. Trotz solcher Herausforderungen ist die Arbeit von Ewaso Lions erfolgreich: Die Zahl der Löwen in der Gegend ist von elf auf 50 gestiegen.

In einigen Dörfern sehen die Hirten den Löwenschutz zwar noch skeptisch, in anderen aber, das zeigen Umfragen, hat sich die Haltung bereits dramatisch geändert – knapp 90 Prozent der Befragten geben an, den Löwen gegenüber positiv eingestellt zu sein. Doch den Tieren drohen weitere Gefahren.

Resort-Städte und Kasinos

Jeneria und seine Krieger stehen im trockenen Bett jenes Flusses, der Ewaso Lions den Namen gab. Sie graben Tränken für die Tiere. "Der Ewaso ist unsere einzige Wasserquelle", sagt Jeneria. "Frü­her ist er nie ganz ausgetrocknet." Fluss­ab­wärts ist eine Elefantenherde die Böschung hin­ab­geklettert. Die Tiere haben, weil kein Wasser zu finden ist, mit ihren Füßen Löcher in den sandigen Boden gescharrt.

Stecken ihre Rüssel hinein, führen sie in vollendetem Schwung zu ihren Mäulern und lassen sich das Wasser in die Kehlen laufen. Die anderen trompeten, um die Trinkenden zu ver­trei­ben. Ein Elefantenbaby verschwindet fast in einem Loch, eine Elefantenkuh nimmt ein Schlammbad. Kaum vorstellbar, dass sich der Ewaso Ng’iro in der Regenzeit in einen reißenden Strom verwandeln kann.

Lebensader: Ein Sturm braut sich über dem Ewaso Ng’iro zusammen; in der Regenzeit verwandelt sich der Fluss in einen reißenden Strom. Er ist die wichtigste Wasserquelle im Land der Sam­buru, von ihm leben Tiere und Menschen
Lebensader: Ein Sturm braut sich über dem Ewaso Ng’iro zusammen; in der Regenzeit verwandelt sich der Fluss in einen reißenden Strom. Er ist die wichtigste Wasserquelle im Land der Sam­buru, von ihm leben Tiere und Menschen
© David Chancellor

Er entspringt am Mount Kenya. Es liegt nicht nur am Klimawandel, am ausbleibenden Regen, dass er weniger Wasser führt. Bauern pumpen immer mehr ab, um ihre Felder zu wässern; zudem wird ein Staudamm gebaut, er soll eine geplante Resort-Stadt mit Wasser versorgen. Bis 2030 sollen eine Reihe solcher Städte entstehen, die kenia­ni­sche Regierung hat ehrgeizige Pläne für den Tou­ris­mussektor.

In der Nähe von Isiolo sollen Ur­­lauber shoppen, Kasinos besuchen und wilde Tiere besichtigen: Löwen, Roulette und Louis Vuitton. Ewaso Lions kämpft dafür, dass das Projekt den Lebensraum der Tiere so wenig wie möglich beschneidet. Der Ausgang: ungewiss.

Jeneria will nach den Löwinnen schauen, die sich von Lguret losgesagt haben, seit er sein Reich verloren hat. Und die ihn seither meiden. An der Biegung des Flusses sitzen zwei von ihnen. Blicken über die brackige Wasserstelle, in der Krokodile lauern, auf einen Ibis, der durch eine Lache stelzt. Die Löwinnen ruhen dort, majestätisch-entspannt: Herrinnen des Flusses. Es sind Namanyak – und Nanae, Jenerias Lieblingslöwin, er nennt sie "eine sehr clevere Lady".

Namanyak reibt ihre Nase an Nanaes. Es ist das Signal: auf zur Jagd! Geschmeidig pirschen sie sich heran an ein Rudel Pinselohrschweine. Sprinten. Namanyak reißt ein Schwein, Nanae greift eines, doch es entwischt. Zweiter Versuch. Wie sie dort kauert, gelb im gelben Sand, ist sie kaum zu erkennen. Fast rennen ihr die Schweine ins Maul, wieder lässt Nanae ihre Opfer entkommen. Nach dem dritten gelangweilten Versuch gibt sie auf, gemeinsam verspeisen sie Namanyaks Beute.

Jeneria schüttelt den Kopf. "Mann, was für eine dumme, dumme Lady!" Lacht, fährt los, über Steine, Schotter, Schlaglöcher. Der Krieger, der Löwenschützer, er fährt wie der Teufel.

Erschienen in GEO Nr. 13 (2018)

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