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In-Vitro-Fleisch: Labor-Schnitzel als Klimaretter

Schon in wenigen Jahren könnte künstlich gezüchtetes Fleisch unser Ernährungssystem komplett revolutionieren. Umweltaktivisten hoffen gar, dass In-Vitro-Fleisch Schlacht-Fleisch irgendwann gänzlich ersetzten könnte

Inhaltsverzeichnis

In-Vitro-Fleisch im Bio-Reaktor

Es klingt fast utopisch: Die 25 Prozent der festen Erdoberfläche, die derzeit für die Tierhaltung gebraucht werden, könnten an die Wälder und an die Wiesen, an die Täler und Hochebenen unseres Planeten zurückgegeben werden. Die globalen Treibhausgas-Emissionen würden um knapp 20 Prozent sinken, der Klimawandel gebremst werden. Und wenn wir in den Supermarkt gehen, könnten wir Fleisch kaufen, für das keine Tiere in Massentierhaltung leiden mussten - für das noch nicht einmal Tiere sterben mussten.

Fakt ist: Anfang des Jahres ist es holländischen Wissenschaftlern erstmals gelungen, aus Stammzellen eine größere Menge Muskelgewebe zu züchten. An drei Universitäten arbeitete eine Forschergruppe um den Biochemiker Henk Haagsman über vier Jahre an der Entwicklung von Fleisch aus dem Labor, In-Vitro-Fleisch genannt. Jetzt liegen die ersten Ergebnisse vor. Sie lassen auf einen Durchbruch der Technologie hoffen. "Die Zellen, die wir bis jetzt gezüchtet haben, machen zwar noch kein Steak", sagt Bernard Roelen, Zell-Biologe an der Universität Utrecht, "aber wir sind uns jetzt sicher, dass es grundsätzlich möglich ist, Fleisch künstlich wachsen zu lassen und sehen sehr viel Entwicklungspotential in dieser Technologie."

Das Muskelgewebe wächs derzeit noch in Laborflaschen (in-vitro). Erst mit der Zeit nimmt es einen festen Zustand an
Das Muskelgewebe wächs derzeit noch in Laborflaschen (in-vitro). Erst mit der Zeit nimmt es einen festen Zustand an
© Bernard AJ Roelen

Gentechnikfreie Gewebefarm

Bernard Roelen arbeitet mit seinem Forscherteam vor allem an der Frage, aus welchen Stammzellen mit welchen Methoden Muskelgewebe gezüchtet werden kann. "Bis jetzt", erklärt er, "haben wir vor allem adulte Stammzellen wachsen lassen, also solche, bei denen schon festgelegt ist, zu welchem Gewebetyp sie sich entwickeln." Doch schon bald könnte es möglich sein, embryonale Stammzellen wachsen zu lassen. "Das hätte die Vorteile, dass wir sie gewissermaßen programmieren könnten und sie sich nahezu unendlich reproduzieren könnten." Das Gewebe wäre, anders ausgedrückt, unsterblich. Für die Massenproduktion dürfte das sehr nützlich sein. Eine Technik, die rasche Fortschritte dabei bringen könnte, gibt es bereits: die Gentechnologie. Doch bislang verzichten die Wissenschaftler darauf. Roelen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass er Eingriffe in das Erbgut für die Fleischproduktion grundsätzlich ausschließt. "Wir wollen ein möglichst natürliches Produkt entwerfen", sagt er, "der Gebrauch von Gentechnik würde die Konsumenten abschrecken."

Ein weiteres Forscherteam entwickelt an der Universität Amsterdam die Trägerflüssigkeit, in der das In-Vitro-Fleisch wachsen soll. Bislang enthält sie neben den Nährstoffen Glukose, Aminosäure und Mineralien ein tierisches Serum, das meist aus Pferdeblut gewonnen wird. Doch zukünftig wollen die Wissenschaftler ganz auf tierische Produkte verzichten. Theoretisch lässt sich das Serum auch künstlich herstellen.

In-Vitro-Fleisch im Bio-Reaktor

Vor der größten Aufgabe steht allerdings das Forscherteam an der Fakultät für Biomedizinische Technik der Universität Eindhoven. Hier wird der Frage nachgegangen, wie die Zellen am besten zum Wachsen gebracht werden. Fleisch besteht vor allem aus Fett- und Muskelgewebe. Das Fett herzustellen sei kein Problem, heißt es aus Eindhoven. Muskelgewebe müsse jedoch trainiert werden, damit es eine ausreicht harte Konsistenz erreicht. Dies funktioniert derzeitig noch mechanisch oder über kleine Elektroschläge, die dem Gewebe zugeführt werden. Da beides energieaufwendig ist, versucht das Forscherteam in Eindhoven vor allem, eine Möglichkeit zu finden, die Muskeln dazu anzuregen, sich selbst zu trainieren, etwa durch verschiedene hormonelle Prozesse. Nach jetzigem Stand der Technik muss In-Vitro-Fleisch bei 37,5 Grad in Quarantäne gedeihen. Eine Infektion könnte eine ganze Produktion gefährden. Aber auch diese Vorbedingungen könnte die Zell-Forschung noch optimieren, um den Energiebedarf der Produktion senken.

Ein weiteres Problem ist, dass es bislang nur möglich ist, das Muskelgewebe in sehr dünnen Schichten zu züchten. Um in Massenproduktion zu gehen müsste das Gewebe auf weiten Flächen in großen Bioreaktoren wachsen und dann gefaltet werden. Nur wenn die Forscher einen Weg fänden das Gewebe über eine Art Adernsystem mit Nährstoffen zu versorgen, könnte es in alle Richtungen wachsen. Es ist fraglich, ob das ohne Gentechnologie überhaupt möglich ist.

Skeptische Verbraucher

Doch letztendlich werden vor allem das Aussehen und die Textur des Fleisches darüber entscheiden, ob die Verbraucher das Produkt annehmen. Den richtigen Geschmack und Geruch des Fleisches zu treffen wird wohl weniger das Problem sein. Damit hat die Lebensmittelindustrie bereits genügend Erfahrung gesammelt.

Im Inkubator werden die Zellkulturen frisch gehalten
Im Inkubator werden die Zellkulturen frisch gehalten
© Bernard AJ Roelen

Eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie hat Anfang 2005 allerdings gezeigt, dass 54 Prozent der Europäer es komplett ablehnen würden, künstlich gewachsenes Fleisch zu essen. 94 Prozent stehen In-Vitro-Fleisch sehr skeptisch gegenüber. Dabei wäre das Kunstfleisch vermutlich um einiges gesünder als herkömmliches Fleisch. Denn zum einem würde das Risiko von Krankheits- und Schadstoffübertragung durch Fleisch minimiert werden. Und zum anderen könnte das Fleisch wahrscheinlich sogar so gezüchtet werden, dass es auf die Ernährungsbedürfnisse des menschlichen Körpers besser abgestimmt ist als natürliches Fleisch. Die Ausstattung mit Vitaminen und Mineralstoffen ist ebenso denkbar wie die Regulierung der verschiedenen Omega-Fettsäuren im Fleisch.

Jason Matheny, der mit seiner NGO New Havest für In-Vitro-Fleisch in den USA wirbt, findet die Vorbehalte der Konsumenten nicht nur deswegen merkwürdig. Schließlich habe der Mensch schon immer seine Nahrungsquelle kultiviert, ob durch Tierzucht, Joghurtherstellung oder beim Weingären, meint er. "Viele Konsumenten reagieren zunächst skeptisch, da es ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber künstlich erzeugten Lebensmittel gibt", erklärt Cor van der Weele, die sich an der Universität Wageningen mit der philosophischen Dimension der neuen Technologie beschäftigt, "aber wenn sie erst einmal den moralischen Zugewinn erkannt haben, ändern sie ihre Meinung oft." Wichtig sei vor allem, dass die Produktion möglichst transparent gestaltet werde, und dass das Endprodukt von herkömmlichem Fleisch möglichst nicht mehr zu unterscheiden ist.

Zukünftige Cashcow?

Doch bis dahin sei es noch ein weiter Weg, sagt Roelen. Eine Prognose, wie lange es in etwa noch dauert, bis das erste Schweinesteak aus In-Vitro-Fleisch in unseren Kühlregalen landen wird, will er zu diesem Zeitpunkt nicht abgeben. Derzeit kostet ein Happen gezüchtetes Muskelgewebe noch rund 60.000 Euro. Aber von seinen Kollegen ist unter der Hand zu hören, dass es vielleicht in fünf Jahren möglich sein wird, In-Vitro-Fleisch in Wurst oder Hackfleisch einzuarbeiten und in ein bis zwei Dekaden auch komplexere Strukturen wie etwa Steaks hergestellt werden könnten.

Zwar gab es 2008 ein großangelegtes In-Vitro-Fleisch Symposium am norwegischen Lebensmittel-Forschungsinstitut (Matforsk) in Aas, doch weltweit ist die Forschungslandschaft zu dem Thema noch sehr dünn besiedelt. Grund dafür sind fehlende Forschungsgelder. Langfristig gesehen könnte die Umstellung auf künstlich gezüchtetes Fleisch ein enormer wirtschaftlicher Erfolg sein. Jedes Jahr werden etwa 229 Million Tonnen Fleisch gegessen. Die Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen geht in dem vielbeachteten "Livestock's long Shadow"-Bericht davon aus, dass sich diese Menge bis 2050 noch verdoppeln wird.

Das Totschlagargument

Und auch ökologisch hätte das Abwenden von der klassischen Fleischproduktion enorme Vorteile. Rund 15.000 Liter Wasser werden im Schnitt für die Produktion von nur einem Kilo Fleisch verbraucht. Damit könnte eine Person ein Jahr lang jeden Tag duschen. Ein Viertel der gesamten Landmasse der Erde wird für die Tierhaltung beansprucht, weitere 10 Prozent für die Futterproduktion. Von den Treibhausgas-Emissionen, die durch Verdauungsprozesse von Nutztieren entstehen, gar nicht zu sprechen. Umweltorganisationen wie Greenpeace drängen schon lange auf Alternativen zur hoch subventionierten Massentierhaltung.

Doch solange unklar ist, ob die Konsumenten In-Vitro-Fleisch als Alternative für herkömmliches Fleisch auch annehmen würden, halten sich die Industrie und die Politik mit Forschungsgeldern zurück. "Das Totschlagargument der Skeptiker ist immer, das Fleisch könne nie wie echtes Fleisch werden, weil es keine Seele habe", sagt Van der Weele, "aber warum sollte das ein Gegenargument sein?" Fleischkonsum ohne das Töten von Tieren solle viel eher ein Ideal sein. Schließlich sei die Achtung jeden Lebens eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit.

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