Zigtausende von Kranichen rasten alljährlich auf Fischland-Darß-Zingst an der Ostsee, einer Halbinsel, die zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehört. Ein ideales Setting also für ein Fotofestival, das die Natur, ihre Schönheit, Schutzwürdigkeit und Zerstörung durch den Menschen zum Thema hat.
Die Notwendigkeit, zu dokumentieren und fotografisch zu bewahren, was vielleicht schon in wenigen Jahren verschwunden sein wird, treibt viele der hier versammelten Fotografen an - auch Norbert Rosing, den Schirmherrn des Festivals. Der Fotograf, der mit seinen Eisbären-Fotos weltberühmt wurde, entdeckte vor einigen Jahren die Wildnis vor unserer Haustür für sich - die deutschen Nationalparks. Im Bayerischen Wald konnte er vor kurzem das Resultat eines massiven Fichtensterbens beobachten, ausgelöst durch eine Folge von trockenen Sommern und Industrieabgasen aus den östlichen Anrainerstaaten. "Vor einer Woche waren meine Frau und ich seit zehn Jahren zum ersten Mal wieder am Lusen. Damals lief man durch einen riesigen, dunklen Wald. Jetzt waren wir auf derselben Strecke unterwegs. Es stand kein einziger Baum mehr. Es war apokalyptisch."
Um den Wald sorgt sich auch sein Kollege Dieter Schonlau. Er steht vor seinen Aufnahmen bizarr anmutender Kreaturen des Regenwalds und erzählt vom Leben ohne WC. Regelmäßig verbringen er und seine Partnerin mehrere Monate des Jahres in den Tropen, campieren wochenweise in Baumkronen, streifen nachts stundenlang mit Stirnlampe ausgerüstet durchs Unterholz. Zuletzt im Dschungel Borneos. Wie kaum ein zweiter Fotograf kennt er "sein" Biotop. Seine Mission, das spürt man schon nach kurzem Zuhören, ist klar: Die Faszination Regenwald weiterzugeben, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass diese Wildnis und ihre Bewohner schützenswert sind. "Denn wenn nichts geschieht", sagt Schonlau, "wird dieser Wald in zehn, fünfzehn Jahren verschwunden sein." Seine Dia-Vorträge, die er auch im Auftrag des Bundesumweltministeriums und des WWF hält, sind gut besucht. 70.000 Besucher zählte er allein im vergangenen Jahr, darunter viele Kinder.
"Ein gutes Bild muss wehtun"
Schonlau ist einer jener Individualisten, die ihr Lebensthema gefunden haben. Und er gehört damit selbst zu einer gefährdeten Spezies. Viel zu wenige solcher "Besessenen" gebe es heute, mahnt Norbert Rosing. Und ihnen steht ein immer größeres Heer von Amateuren gegenüber, bis an die Zähne mit modernster Technik bewaffnet. Dank der Digitalfotografie ist es heute auch ambitionierten Hobbyfotografen möglich, gute Schnappschüsse zu machen. Doch das biologische Fachwissen der Fotografen sei oft gering, sagt Rosing. Und viele nehmen sich nicht die Zeit, ein Foto wirklich zu gestalten. "Wir konsumieren die Natur wie einen Hamburger. Das geht nicht. Ein gutes Bild muss wehtun" - dem Fotografen. Er muss Kälte, Zecken und Müdigkeit ertragen. Und immer wieder warten. Auf das richtige Licht, den richtigen Moment. Manchmal jahrelang.
Viele der ausgestellten Bilder tun auch dem Betrachter weh. Die von Gerd Ludwig etwa, einem Star der Szene, der aus den USA angereist ist. Endzeitlich wirken manche seiner fotografischen Dokumentationen, doch oft erst auf den zweiten Blick. Ludwig verzichtet auf die vordergründige Entlarvung von Umweltsünden. "Ich will nicht diejenigen ansprechen, die sich ohnehin Gedanken machen. Ich will dazu verführen, sich das Bild aufgrund seiner Ästhetik anzuschauen. Und dann nachzufragen, 'was passiert da eigentlich? Warum ist der Himmel dahinten braun?'" Er zeigt auf ein Bild aus Twillingate (Neufundland), der selbsternannten Eis-Hauptstadt der Welt. Drei weiße Zinnen eines Eisbergs in der Bildmitte ragen in einen braunen Himmel. Was das Foto nicht verrät: Die Farbe rührt von Waldbränden her - die das Erdklima weiter anheizen werden.
Hintergründige Ästhetik
Daneben hängt ein Foto von Magnitogorsk. Im Hintergrund das zu Zeiten der Sowjetunion mit 200.000 Arbeitern größte Stahlwerk der Erde. Davor, auf dem Eis des Uralflusses, vereinzelte Angler vor ihren ins Eis gehackten Angellöchern. Ein wundervoll komponiertes Bild. Was der Betrachter nicht weiß: Die Stahlarbeiter essen ihre durch Schwermetalle belastete Beute meist nicht selbst, sondern verkaufen sie auf den umliegenden Märkten. Magnitogorsk gehört zu den am schwersten durch Industriegifte verseuchten Orten der Welt.
Doch bei der Anklage sollte es nach dem Willen des Festival-Schirmherrn nicht bleiben. Programmatisch ist darum der Titel einer der beiden großen Ausstellungen des Festivals: "Hoffnungsvolle Paradiese". Denn, so Rosing, "Wunder gibt es immer wieder". Die Natur erobert sich verlorenen Raum zurück, überall sprießt neues Leben. Auch der zerstörte Wald am Lusen feiert heute fröhliche Urständ. Rosing schwärmt von dem "traumhaften Urwald", der mancherorts und ohne menschliches Zutun nach dem Fichtensterben entstanden ist. Schwärmt vom zarten Grün junger Buchen, das nur immer nur drei Tage lang wirklich grün sei. Und von ohrenbetäubendem Vogelgesang. Und man merkt ihm an, dass auch er ein Lebensthema gefunden hat. "Jeder Tag, jede Minute ist neu", sagt er. "Es gibt so viel zu entdecken."
Vor vielen Jahren, als Rosing noch überlegte, die Fotografie zu seinem Beruf zu machen, meinten Freunde von ihm: "Norbert, es ist schon alles fotografiert." Das hat er ohnehin nie geglaubt.