Hier oben auf dem Hügel saß der General also, an jenem Sonntag, dem 2. Oktober 1904, den Blick nach Südosten auf die weite Omaheke-Wüste gerichtet, dorthin, wo seine Feinde, die Herero, geflohen waren. Im Schatten eines Baumes diktierte er jene Sätze, die Zigtausende Menschen das Leben kosten sollten: „Ich, der große General der Deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero“, formulierte Generalleutnant Lothar von Trotha: „Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen.“
Seinen „Brief“ schloss der Kommandeur der deutschen „Schutztruppe“ im äußersten Südwesten Afrikas mit dem Satz: „Jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, wird erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück und lasse auf sie schießen.“
Ebson Kandjii steigt oft auf den Hügel. Der Dorfälteste von Otjinene pflegt zu diesem Anlass seine „traditionelle“ Kleidung anzulegen: eine Uniform, die auf verblüffende Weise der Ausstattung der Peiniger seiner Vorfahren gleicht. Dazu ein lederner Gürtel, eine Kordel und das Schulterstück, das ihn als Offizier ausweist. Auch seine Begleiter sind in Uniform, während die in weite rote Röcke gehüllten Frauen aufwendig geschwungene Tuchgebinde auf den Köpfen tragen; die mit Pappkarton gestärkten Seiten sollen an die Hörner eines Rinds erinnern.
Auf der Anhöhe zünden Dorfchef Kandjii und seine Begleiter das „heilige Feuer“ an, um mit ihren Vorfahren Kontakt aufzunehmen. Dann befragen sie die Geister der Ahnen: Wen soll die Tochter heiraten? Oder sie werden um den Segen für ein neues Auto gebeten.
Vor allem aber wird auf dem Hügel über die Vergangenheit gesprochen – und das Leid, das die Kolonialherren über das Volk der Herero gebracht haben. „Sie wollten uns ausradieren“, sagt Ebson Kandjii.
Vom Waterberg ins Sandfeld: Nach der Schlacht blieb den Herero nur die Flucht in die Wüste. Dort wartete der Tod
Mehr als hundert Jahre sind inzwischen über das trockene Land gestrichen – aus Deutsch-Südwestafrika wurde im Jahr 1920 ein südafrikanisches Protektorat und schließlich, vor 27 Jahren, die unabhängige Republik Namibia.
Immer wieder wechselten in dem Land, in dem heute knapp 2,5 Millionen Einwohner leben, die Flaggen, die Staatsformen und die Ideologien – am Schmerz der Herero änderte sich nichts. Er hat sich wie Säure ins Gedächtnis des Hirtenvolks geätzt.
170 Kilometer nordwestlich des Hügels fand am 11. August 1904 die Entscheidungsschlacht statt, zwischen sehr verschiedenen Gegnern. Die Herero hatten sich erst 30 Jahre zuvor von der Herrschaft der Orlam befreit, eines Volks, das aus der Kapregion nach Südwestafrika eingewandert war. 1897 hatte die Rinderpest die Herden der Herero dezimiert, ihre Lebensgrundlage zerstört und die soziale Struktur erschüttert, die eng mit dem Besitz von Rindern verknüpft war. In ihrer Not mussten sie sich bei deutschen Farmern verdingen, die Stück für Stück das Land einnahmen. So lernten immer mehr Herero ein Kolonialsystem kennen, das unverhohlen als Rassenstaat gedacht war: oben die Deutschen, unten rechtlos die Afrikaner.
Der Aufstand der Herero traf den deutschen Gouverneur Theodor Leutwein unvorbereitet, er lebte in der Illusion, ausreichend viele „Häuptlinge“ auf seine Seite gezogen zu haben. Die Stärke der „stumpfen und phlegmatischen Herero“ überraschte die deutschen Truppen, nie hätten sie es für möglich gehalten, dass bei ihnen ein „so hohes Maß kriegischer Tüchtigkeit und zäher Willenskraft“ ausgelöst würde.
Nach einer Reihe von Gefechten wollte Lothar von Trotha die Herero in eine Entscheidungsschlacht zwingen. Südlich des Waterbergs lagerten die Herero-Verbände. Die Deutschen versuchten, das Lager im unübersichtlichen und dichten Buschland einzukreisen. Doch den Herero gelang es, der Umzingelung durch die Schutztruppe am Fuß des schroffen Waterberg-Massivs zu entrinnen. Mehr als 6000 Herero-Krieger flohen mit ihren Familien und Rindern in die Omaheke-Wüste, verfolgt von Soldaten, die den Treck immer tiefer in das trieben, was unter den Deutschen das „Sandfeld“ hieß.
Um ihre Rückkehr zu verhindern, vergifteten die Soldaten die Wasserlöcher in der Wüste, berichtet Ebson Kandjii. Diese Tat gab dem Hügel seinen Namen: Osombozo-Windimbe – „Wasserquelle der tödlichen Wunden“. „Sie setzten schreckliches Gift ein“, fährt der Dorfchef fort: „Menschen und Tiere schwollen an, bis sie regelrecht platzten.“ Noch heute kann man in der Omaheke auf Menschenknochen stoßen. Die meisten Herero starben nicht im Kampf, sondern verdursteten.
Monatelang machte zudem die Schutztruppe Jagd auf Herero: Soldaten erschossen Männer, Frauen und Kinder, hängten sie an Bäumen auf, sperrten sie in Konzentrationslager. Viele starben beim Eisenbahnbau und fielen Krankheiten wie Skorbut oder Typhus zum Opfer. Der Stabsarzt Hugo Bofinger experimentierte mit erkrankten Internierten: Er spritzte ihnen Arsen, Opium oder Zitronensaft, angeblich, um sie zu heilen.
Nach Schätzungen, die wie fast alles im Zusammenhang mit den damaligen Vorgängen umstritten sind, fanden damals bis zu 60 000 Menschen den Tod – beinahe drei Viertel des Herero-Volks.
In den darauffolgenden Jahren erlitten rund 10 000 Angehörige des Nama-Volks dasselbe Schicksal: Auch sie hatten sich dem Landhunger der deutschen Siedler in einem Aufstand widersetzt.
Der erste Völkermord des vergangenen Jahrhunderts, sagen Historiker. Ein Verbrechen, für das Deutschland zur Rechenschaft gezogen werden muss, sagen Nama und Herero heute.
Es gibt kein Recht auf Entschädigung, sagen die Deutschen. Aber zumindest sind sie bereit, zu verhandeln
Lange konnten die Hinterbliebenen nicht daran denken, die Gräueltaten anzuprangern: unter der Herrschaft Südafrikas ein aussichtsloses Unterfangen. Erst nach der Unabhängigkeit Namibias 1990 wurden die ersten Forderungen nach Aufarbeitung der Geschichte und nach Entschädigungszahlungen laut, 2001 verklagten mehrere Herero-Organisationen die Bundesrepublik wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor einem amerikanischen Gericht. Eine Besonderheit des US-Rechts macht solche Klagen möglich, aber sie sind nicht sonderlich aussichtsreich. Zwei Jahre später zogen die Herero die Klage zurück.
Die Bundesregierung verwies auf die Entwicklungshilfe, die besonders großzügig an Namibia geflossen sei, und die Regierung in Windhuk zeigte sich an dem Thema nicht interessiert: Sie wird von Angehörigen des Ovambo-Volks dominiert, die den Herero und Nama distanziert, zuweilen feindlich gegenüberstehen. Mit über einer Million Angehörigen sind die Ovambo heute die größte Bevölkerungsgruppe Namibias. „Wäre unser Volk nicht nahezu ausgerottet worden“, sagt Paramount-Chief Vekuii Rukoro, der höchste Repräsentant der Herero, „hätten wir heute das Sagen.“
Aber doch änderte sich die Tonlage. Bei einer Gedenkveranstaltung zum hundertsten Jahrestag der Schlacht am Waterberg im August 2004 bat die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul um Entschuldigung für die Gräueltaten, die „man heute als Völkermord bezeichnen würde“. Das Thema Entschädigungszahlungen allerdings vermied auch sie.
Mehr als zehn Jahre später, im Jahr 2016, erkannte Deutschland die Vernichtung der Herero schließlich offiziell als Völkermord an. Die Bundesregierung sah sich dazu nach einer Resolution des Bundestags zum türkischen Völkermord an den Armeniern gezwungen. Seither verhandeln Deutschland und Namibia über Entschädigungen. Es sind zähe Gespräche, weil die Lage kompliziert ist, auf beiden Seiten.
Die namibische Delegation wird zwar von einem Herero geführt, aber er hat nicht die Unterstützung des ganzen Volkes, das tief zerstritten ist. Eine andere Gruppe um den Paramount-Chief Rukoro und den Nama-Chief David Frederick klagte daher im Januar 2017 erneut vor dem New Yorker Gericht; zum einen auf Entschädigungen, zum anderen darauf, an den Verhandlungen teilnehmen zu dürfen.
Die Bundesregierung vertritt die juristisch weithin geteilte Auffassung, dass Reparationen keine Rechtsgrundlage besitzen. Zumindest nicht individuelle Zahlungen an Nachfahren der Opfer. Sie bietet stattdessen Hilfe für Namibia an, Meerwasserentsalzungsanlagen etwa. Vielen Herero aber erscheint das wie eine erneute Demütigung: Nicht ihr gepeinigtes Volk, sondern der Staat Namibia erhält die geforderte Wiedergutmachung.
Unterdessen werfen einige Nachfahren der Deutschen in Namibia die Frage auf, ob sich vor 113 Jahren tatsächlich ein Völkermord zugetragen habe. Wortführer der Skeptiker ist der Farmer und Hobbyhistoriker Hinrich Schneider-Waterberg, der von der Veranda seines Gutshauses aus das einstige Schlachtfeld am Waterberg überblicken kann. Sein Studierzimmer ist bis zur Decke von Bücherregalen umgrenzt, fast die Hälfte seines 86-jährigen Lebens hat der Deutsch-Namibier mit der Erforschung des Herero-Aufstands verbracht. Er ist überzeugt davon, dass es „keinen Plan der deutschen Kolonialmacht gab, das Volk der Herero auszurotten“: Dazu sei die Schutztruppe viel zu schwach und von Trothas Vernichtungsbefehl viel zu wirkungslos gewesen.
Aber keine Gefangenen zu machen war zu dieser Zeit ein übliches Mittel der Kriegführung, und schlagkräftig musste die Schutztruppe nicht sein: Ihr reichte, wenige Wasserlöcher zu besetzen, um das Volk verdursten zu lassen. Überhaupt gilt die Schwäche der Kolonialtruppe als ein Grund für ihre Unerbittlichkeit: Sie selbst fühlte sich keineswegs überlegen und griff auch deswegen zu den brutalsten Mitteln. Der Konsens unter Historikern ist jedenfalls, dass die Bundesregierung gut daran tut, die Ereignisse als das zu bezeichnen, was sie waren: ein Genozid.
Die Hälfte des Landes gehört weißen Farmern. Gibt es keine Lösung, droht ihnen womöglich Gewalt
Ripeua Kaangundue interessiert diese Debatte nicht. „Fest steht, dass uns der Krieg zu Bettlern gemacht hat“, sagt das Oberhaupt der Herero in dem am Fuß des Waterbergs gelegenen Städtchen Okakarara, und fragt: „Die Deutschen brachten auf ihren Schiffen weder Land noch Kühe mit – wie aber kommt es, dass sie beides im Überfluss hatten und noch heute haben?“
In Namibia gibt es rund 4000 weiße Farmer, denen nahezu 50 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche gehören. Unterdessen lebt die überwiegende Mehrzahl der gut 170 000 Herero in überweideten Reservaten.
„Seit dem Krieg betrachten wir Weiße als Räuber, Mörder und Vergewaltiger“, sagt Kaangundue und kann seinen Zorn nicht verbergen. Manche Geschichte endet nie.
Paramount-Chief Rukoro kündigt Folgen an, sollte Deutschland individuelle Entschädigungen verweigern. „Gewalt ist keine gute Lösung“, sagt der Jurist, der in New York die Klage eingereicht hat, „doch möglicherweise ist sie unausweichlich.“ Sie würde sich gegen die deutschstämmigen Farmer wenden, das ist die Botschaft. Sollte es zu Zwischenfällen kommen, seien die Deutschen dafür verantwortlich: „Sie stecken den Kopf in den Sand.“
Rukoro lebt in einer Villa in Windhuk und trägt eine Uniform, die allerdings im Gegensatz zur Ausstattung seiner Untertanen knallrot ist. Warum die Männer seines Volkes ausgerechnet die Kleidung der Kolonialisten tragen, wird der Herero-König immer wieder gefragt. Das sei eine Variation der afrikanischen Gepflogenheit, sich das Fell eines erlegten Tieres überzuwerfen, lautet eine Erklärung. Eine andere: Die Verkleidung sei Ausdruck dafür, dass die Herero neben ihrem Land und ihrer Kultur auch ihre traditionelle Kleidung verloren hätten.
König Vekuii Rukoro aber sagt: „Wir tragen diese Uniformen, um uns zu erinnern. Sie sind zu einem Teil von uns geworden.“