Agenten, die konspirative Treffen belauschen. Dechiffrierer, die abgefangene codierte Briefe entschlüsseln. Gesichtslose Beamte, die im Namen der Staatsräson Killer aussenden, um "Verräter" zu erwürgen und deren Leichen für immer verschwinden zu lassen. Klingt wie eine Geheimdienststory aus den finstersten Zeiten des Kalten Krieges – gehört aber zur Geschichte der Stadt Venedig.
Der "Rat der Zehn" war in der Lagunenstadt seit dem 14. Jahrhundert ein von Mythen umwobenes Amt für undurchsichtige Machenschaften. Mit Spitzeln, Verrätern und gedungenen Mördern kämpften dessen Mitglieder, die den mächtigsten Adelsfamilien der Stadt angehörten, gegen Bürger, die sie der Rebellion verdächtigten – und gegen die Spione anderer Staaten, die Venedigs Geheimnisse im Handel und bei der Flotte auskundschaften wollten.
Jeder konnte jeden anschwärzen
Dabei halfen ihnen auch Denunziationen: Jedermann konnte in den Dogenpalast gehen und seinen Mitbürger anonym anzeigen. Steinerne Briefschlitze, manche sogar verziert, nahmen, streng nach Behörden getrennt, die Anschuldigungen auf. So landeten etwa Anzeigen wegen Korruption in einem Briefkasten, Beschuldigungen wegen Beschädigung der Lagune in einem zweiten und Denunziationen als Ketzer in einem dritten. Inschriften unter den "Löwenmäulern" genannten Einwurfschlitzen zeigten an, welcher Art Beschuldigungen dort jeweils gesammelt wurden.
Und in der Sala della Bussola, dem Raum vor dem Versammlungszimmer des Rates der Zehn im zweiten Obergeschoss des Dogenpalastes, findet man auch heute noch jenes "Löwenmaul", durch das die Bürger Venedigs Zettel mit den Namen von vermeintlichen Verrätern, Spionen und Verschwörern einwerfen konnten. Für manchen, der so denunziert wurde, war dies der Anfang eines Geheimverfahrens, das mit Verhaftung, Folter und Tod endete.
Wer waren die Hintermänner der Verschwörung von 1618?
Für mich hingegen ist es nur ein Rätsel mehr in einer an Rätseln reichen Geschichte. Ich bin in Venedig, um über die "Spanische Verschwörung" von 1618 zu recherchieren - ein Komplott von Landsknechten, die die Serenissima überfallen und ausplündern wollten. Der Rat der Zehn erfuhr durch eine Denunziation von dem geplanten Anschlag, ließ die Verschwörer durch Spitzel überwachen und dann teils verhaften und hinrichten, teils heimlich ertränken. Seit fast vier Jahrhunderten aber fragt man sich: Wer waren die Hintermänner jener Landsknechte? Der Rat der Zehn, der sie wohl kannte, hat darüber niemals offiziell etwas verlauten lassen.
Die entscheidende Inschrift ist zerhackt
Als ich nun vor dem "Löwenmaul" stehe, in das einst wahrscheinlich die entscheidende erste Denunziation eingeworfen wurde (die Identität des Absenders übrigens ist bis heute unbekannt), sehe ich, dass sich irgendwann jemand zumindest symbolisch am gefürchteten Rat der Zehn gerächt hat.
Denn die steinerne Inschrift unterhalb des Briefschlitzes ist mit einem schweren Gegenstand systematisch zerhackt worden. Wann? Wahrscheinlich irgendwann nach dem politischen Ende der Republik Venedig 1797. Von wem? Das scheint niemand mehr zu wissen.
Ich versuche, die fast vollständig zerstörten Lettern der vermutlich vierzeiligen Inschrift zu entziffern. Lesbar ist noch:
DENONT _ _ SECRET
CON _ _ O
L _ ERR _ ER _ NT
ALLE CHE _ TE
Später arbeiten Dr. Arne Karsten, Berliner Historiker, Venedig-Kenner und Fachberater unseres Heftes, und ich an einer möglichen Rekonstruktion. Einige andere Inschriften im Dogenpalast sind erhalten. Sie sind in einer Mischung aus hochitalienischen, venezianischen und lateinischen Begriffen des späten 16. Jahrhunderts verfasst - was die Übersetzung nicht gerade erleichtert.
Die ersten Wörter müssen lauten: "Denontie secrete contro chi..." - "Anonyme Anzeige gegen jemanden, der..."
Dann scheitern wir. Zu stark beschädigt ist die Inschrift. Und so weiß ich bis heute nicht, wie der Rat der Zehn offiziell diejenigen Verdächtigen bezeichnete, die er oft heimlich umbringen ließ.