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Erster Weltkrieg Schlacht um Verdun

Ich erwarte, was auf mich zukommt, einfach nur ohne Angst und erbitte mir von der Vorsehung nur noch eines, dass sie mir diese letzte Gnade gewährt: einen schnellen Tod und nicht dieses schreckliche Leiden, Folge der fürchterlichen Verwundungen, deren Zeugen wir alle Tage werden.

Verdun, – das hätte niemand geahnt, das ist das Unglaubliche.

Franz Marc, 27. Februar 1916, Brief an seine Frau Maria. Der Maler, Freiwilliger bei einer Artillerieeinheit, stirbt sechs Tage später durch Granatsplitter

Paris im Frühling 1916: Elegant gekleidete Damen und ihre Kavaliere promenieren durch den Bois de Boulogne und über die Champs-Elysées. In den Cafés werden frische Croissants serviert, abends ist in den guten Restaurants, im Weber’s etwa oder im Bœuf à la Mode, kaum ein freier Tisch zu haben. In der Opéra Comique wird „Manon“ vor ausverkauften Rängen gegeben, die Mistinguett tanzt in den Folies-Bergères, Sarah Bernhardts Film „Jeanne Doré“ feiert Premiere. In diesem Wirbel fallen die Männer mit den verschlossenen Gesichtern kaum auf, die wie verirrte Geister für ein paar Tage über die Boulevards und Plätze streifen und dann plötzlich wieder verschwinden. Männer wie Capitaine Charles Delvert, permissionaire, Soldat auf Heimaturlaub. Delvert betrachtet die Flaneure, die erleuchteten Theater und die überfüllten Restaurants mit dem fassungslosen Staunen, das eine absurde Welt bei einem Betrachter auslöst – eine Welt, zu der er nicht mehr gehört und in die er vielleicht nie wieder in seinem Leben hineinfinden wird. Denn der 37-jährige Hauptmann der Reserve weiß, dass sich nur 240 Kilometer vom Eiffelturm entfernt eine Hölle aufgetan hat, und diese Hölle hat einen Namen: Verdun. Die erste Station auf dem Weg zur Hölle ist für Delvert wie für Tausende, Zehntausende, Hunderttausende französischer Soldaten das Städtchen Bar-le-Duc. In diesem Provinzort am Südwestrand der Argonnen entladen Züge und Lastwagen ihre Menschenfracht. Delvert ist bereits im April 1916 nach Verdun abkommandiert worden, nun, im Mai, zum zweiten Mal. Die Landschaft war einmal schön. Die Argonnen sind die südwestliche Begrenzung der Eifel, eines weitgespannten Mittelgebirgszuges: Der erhebt sich westlich des Rheins und bis zur Mosel, setzt sich durch Belgien, Luxemburg und Nordfrankreich fort und endet schließlich am Ufer der Maas, die mitten durch Verdun fließt.

Die meisten Hügel hier sind kaum ein paar Hundert Meter hoch, die Hänge steil, die Täler eng. Eichenwälder und dichtes Unterholz bedecken Kuppen und Schluchten, nur wenige Bauerndörfer liegen wie Inseln dazwischen. Fast noch eine Wildnis mitten in Europa; düster und schroff, nass, neblig und kalt drei Viertel des Jahres, heiß und trocken im Sommer. Jetzt aber leuchtet und grollt dieses Land, als wäre es das Innere eines riesigen Ofens.

Erster Weltkrieg: In einem von ihnen eroberten Schützengraben inspizieren französische Soldaten deutsche Gefallene
In einem von ihnen eroberten Schützengraben inspizieren französische Soldaten deutsche Gefallene

Nur 240 Kilometer vor Paris tut sich die Hölle auf: Verdun

Von Bar-le-Duc sind es 75 Kilometer bis Verdun. Schon von hier hört Delvert ein dumpfes Rumpeln, an- und abschwellend, niemals aufhörend: die Kakophonie des Feuers von mehr als 2000 schweren und schwersten Geschützen, die Detonation Zehntausender Granaten. Nachts leuchtet der Himmel über Verdun vom Mündungsfeuer und von Geschossexplosionen, von roten, grünen und weißen Leuchtraketen, von Bränden irgendwo, von Suchscheinwerfern. Tagsüber scheint er jede Farbe verloren zu haben, außer einem fahlen Graublau: Staub von zermahlener Erde treibt in der Luft, aber auch Rauch von der Artillerie – und Giftgas, das in Nebelwänden stundenlang in Tälern wabert. Ein einziger noch nicht von den Deutschen kontrollierter Weg führt nach Verdun, eine kleine Landstraße, von den Soldaten la route genannt. (Nach dem Krieg, als man dem Schrecken mit Pathos gerecht werden will, wird man sie Voie Sacrée nennen, „heiliger Weg“.)

Delvert und seine Soldaten marschieren los, rund 170 Mann, die 6. Kompanie des 101. französischen Infanterieregiments. Sie stolpern durch den Graben neben dem nur sieben Meter breiten Fahrstreifen, denn die Straße ist den Lastwagen vorbehalten. Pausenlos rumpeln sie in beiden Richtungen vorbei, bringen zentnerschwere Granaten, Gewehre, Helme, Brot, Verbandsmaterial an die Front. Manche Fahrer sitzen seit 48 oder 72 Stunden hinter dem Steuer, Fahrzeugwracks säumen die Straße. Überall sind Soldaten abkommandiert, die ständig Schotter auf die Fahrbahn schaufeln, damit diese unter dem Druck der Lastwagen nicht zermalmt wird. Delverts Soldaten kommen langsam voran. Jeder Mann schleppt rund 25 Kilogramm Gepäck – vom Gewehr bis zum Stahlhelm, von Decken, Brot- und Weinrationen bis zum Tornister . Mehr noch als der Lärm und das Leuchten des fernen Geschützfeuers wird vielen Neuankömmlingen wohl der Anblick ihrer abgelösten und stumm zurückmarschierenden Kameraden eine erste Ahnung vom Schrecken Verduns geben: Die einst horizontblauen Uniformen der Männer sind zerrissen, schlammüberkrustet, übersät von Läusen und Flöhen. Die Gesichter grau von Müdigkeit, Hunger und Angst. Das Furchterregendste an den Entgegenmarschierenden aber ist deren geringe Zahl: Von Kompanien, die mit 170 Mann nach Verdun gezogen sind, kehren nach ein oder zwei Wochen mitunter nur 20 oder 30 Soldaten zurück. So fließt auf dieser erbärmlichen Landstraße ein großer Menschenstrom nach Verdun, ein kleiner tröpfelt zurück. Die Stadt selbst, einst eine liebliche Provinzgemeinde, ist von fast allen seiner 15.000 Einwohner verlassen worden; nur wenige sind geblieben, drei Ältere etwa betreiben eine Kantine für die Garnison. Viele Gebäude sind beschädigt, Wände sind zu Trümmerhaufen zusammengefallen und geben den Blick frei in verlassene Schlafzimmer und Küchen.

Die Deutschen beschießen die Stadt mit weit reichenden, schweren Kanonen – einst entworfen für des Kaisers Schlachtschiffflotte, doch jetzt in den Hängen jenseits der Maas aufgestellt. Von nun an tickt die Uhr für Delvert und seine Soldaten: Fortan kann jede Sekunde die letzte sein, kann irgendwo ein tödliches Geschoss niedergehen. Noch sind es rund zehn Kilometer bis zur Front. Bald hinter Verdun öffnet sich ein Land, in dem jegliches Leben erloschen zu sein scheint: Der Boden ist zernarbt von Granattrichtern. Krater an Krater liegen kilometerweit neben- und ineinander – kreisrunde Mulden, manche nur wenige Zentimeter, andere mehrere Meter tief. In einigen steht fauliges Wasser. Die Erde, immer wieder zerwühlt von Geschossen, ist weich geworden wie Treibsand.

Nur die zerfetzten, entrindeten Torsi weniger Bäume und grotesk verbogene Stacheldrahtrollen bieten dem Auge noch Halt und Orientierung. Verschwunden aber sind die Wälder, verschwunden alle Wege und Straßen und Bahnlinien, verschwunden die Dörfer der Umgebung – so zerschossen, dass die Piloten der Aufklärungsflugzeuge sie nur noch als weißliche Flecken Mörtelstaubes in der braunen, pockennarbigen Landschaft erkennen können.

Und pausenlos Granaten. Sie scheinen von überall her heranzuheulen, manchmal zehn, zwanzig pro Minute auf wenigen Quadratmetern. Die größten deutschen Geschosse, fast eine Tonne schwer und so hoch wie ein Mann, kann man tagsüber sekundenlang durch die Luft rasen sehen, ehe sie mit einem infernalischen Geheul niedergehen. Sie explodieren in einem Feuerball, reißen Erde hoch in die Luft, die Druckwelle ihrer Detonationen schlägt auf Lunge und Trommelfell. Manche Berge sind so umkämpft, dass ihre Gipfel stundenlang hinter Schleiern aus Feuer und Qualm verborgen sind – gleich „Vulkanen“, schreibt ein französischer Soldat. Eine Anhöhe haben Granaten derart zerrissen, dass sie nun um sechs Meter niedriger ist. Und doch harren selbst dort noch irgendwo Menschen aus.

Tagsüber kann Delvert seine Position an der vordersten Front nicht einnehmen – zu schutzlos ist man in der Mondlandschaft. Jeder, der sich hier unter dem trüben Sonnenlicht zeigte, würde unweigerlich starkes Granat- und vielleicht auch Maschinengewehrfeuer auf sich lenken. Also nachts. Anfangs, vielleicht drei, vier Kilometer hinter der Kampflinie, kommen die Männer noch in Laufgängen voran – in Schützengräben, wie sie hier typisch sind. Gräben, kaum breiter als die Schulter eines Mannes (damit sie den Geschossen wenig Zielfläche bieten), anderthalb bis über zwei Meter tief, abgestützt und gesichert mit rohen Holzbohlen und Sandsäcken.

Im Gefechtsstand herrscht Chaos. Delvert soll zum Bois Fumin marschieren, zum Fumin-Wald. Seine Stellung ist irgendwo an einem steilen Hang am rechten Maas-Ufer, nur rund 400 Meter entfernt von Fort Vaux, einer der mächtigsten Festungen Frankreichs. Es gibt im Hauptquartier niemandem, der ihm den Weg dorthin zeigen könnte. Er soll sich selbst zurechtfinden. Im letzten Abendlicht glänzen die Helme der Soldaten. Delvert kommt nur mühsam voran, denn immer wieder blockieren erschöpft niedergesunkene Verwundete den Weg. Dann endet der Graben. Näher an der Front gibt es keine Deckung mehr. Die Soldaten müssen weiter, zwischen heulenden Granaten, ungeschützt durch das zernarbte Land. Weiter! Wer zurückweicht, gar flieht, den erwartet der Tod. Noch in den ersten Kriegswochen hat Frankreichs Armee Schnellgerichte eingerichtet, in denen Soldaten selbst wegen kleinster Vergehen zum Tod durch Erschießen verurteilt werden. Nicht zurückweichen also, nur weiter!

Viele haben sich schon verlaufen, nachts, in der Wüste der Krater. Beim ersten Morgenlicht fanden sie sich dann im Niemandsland, ohne Deckung, als ideales Ziel fürs feindliche Feuer. Nur weiter!

Wer mit seinem schweren Gepäck in einen der tiefen, wassergefüllten Krater stürzt, der kann darin ertrinken. Und wenn ihm jemand helfen will, dann ertrinken zwei. Nur weiter! Ein Militärgeistlicher, auch er auf dem Weg zur Front, berichtet später von einem Packpferd, das, noch vor seinen Karren gespannt, seit zwei Tagen im Kraterschlamm verzweifelt kämpfte, doch immer nur tiefer und tiefer sank. Kein Soldat kümmerte sich um das Tier. Nur weiter!

Delvert sieht einen Soldaten im Dreck liegen, ein Bein ist zerschmettert. „Niemand half ihm“, wird er später schreiben. „Man fühlte, dass die Männer brutalisiert worden waren durch ihr Bemühen, ihre Kompanie nicht zu verlassen und sich nicht aufzuhalten an einem Ort, an dem der Tod herniederregnet.“ Nur weiter!

Überall liegen Tote: Leichen mit fast intakten Körpern, kopf- und gliedlose Leiber auf einem Baumstumpf, undefinierbare Fetzen Fleisch. In allen Stadien der Verwesung. Niemand wagt es, die Toten zu bergen. Und begraben werden sie von den Granaten, die Erde aufwühlen und auf die Körper werfen. Und dafür andere Leichen wieder freilegen. Und zerfetzen. Und wieder zudecken. Und wieder aufdecken. (Ein Offizier sieht vor seinem Unterstand die blaue Uniform eines gefallenen französischen Soldaten. Eine Granate schlägt ein. Nun liegt die verstümmelte Leiche eines Kämpfers aus den Kolonien dort, kenntlich an seiner khakifarbenen Uniform. Wieder eine Granate. Wieder eine neue Leiche im schaurigen Reigen. Ein anderer Offizier entdeckt nach einem Granattreffer einen seiner Männer, der Körper „lag offen von den Schultern bis zur Hüfte wie ein zerteiltes Stück Fleisch in der Auslage eines Metzgers“. Er fotografiert den Toten als Souvenir.) Nur weiter!

Endlich – nach rund zwei Stunden Nachtmarsch – sind sie in dem zernarbten Landstrich, wo Frankreich endet. Der Fumin-Wald ist hier verschwunden. Der schwere Boden ist, notiert der Offizier in seinem Tagebuch, „von Granaten so sehr zermahlen, dass er zerkrümelt ist wie Sand und die Granattrichter Dünen ähneln“. Aus Granattrichtern besteht auch seine Stellung – „R.1“, Retranchement 1. Sie soll er halten. Das war vor kurzem noch eine mit Beton befestigte Position, doch Artilleriefeuer hat sie fast völlig zerschmettert. Delvert richtet sich „in einer Nische unter einer Platte aus Spezialbeton ein, die von einer 38-Zentimeter-Granate zerrissen worden war“. Seine Soldaten suchen in Granattrichtern so gut es geht Deckung. Zur Rechten von R.1, auf der Kuppe des Abhangs, erhebt sich ein unförmiges Gebilde, das man für einen Steinbruch halten könnte: Fort Vaux, eine Festung hinter Gräben und Stacheldrahtverhauen, mit tief eingegrabenen Bunkern, aus deren Schießscharten Maschinengewehre feuern, mit stählernen, braun korrodierten Panzerplatten, die weitere, aber inzwischen zerstörte Geschützstellungen verbergen. Die Granaten haben Erde und Beton auf der Festung aufgewühlt, die Gräben teilweise verschüttet – und doch wird Delvert durch diese düstere Masse beruhigt, denn das Fort ist die stärkste Stellung an diesem Frontabschnitt. Weiter vorn an den Hängen, ein paar Hundert Meter entfernt, hat sich der boche verschanzt, der deutsche Feind.

Aus Angst vor Granaten graben sich die Männer in die Erde

Die Männer, die von Delverts Soldaten abgelöst werden, verschwinden nach hinten in der Nacht. Falls sie durchkommen sollten, werden sie sich morgen, übermorgen in den dünnen Zug der graugesichtigen Soldaten auf der route einreihen. Ehe sie gehen, berichtet einer von ihnen, dass sie in den vergangenen vier Tagen 15 Mann durch fehlgeleitetes Feuer eigener Geschütze verloren haben.

Delverts Männer, erschöpft und verängstigt, haben keine Minute Ruhe. Sie graben sich tiefer ein. Große Granattrichter, Bodenwellen – alles ist recht, um sich darin einzuwühlen wie ein Insekt. Mit fast jedem Spatenstich fördern die Männer Leichenteile empor. Bald ist die Erde um die Unterstände übersät mit Fleisch und Knochen.

Im Morgengrauen erstarrt jede Bewegung. Wer sich jetzt rührt, ist tot. Also hocken die Soldaten in den Gräben, manchmal haben sie die nur einen halben Meter oder weniger tief anlegen können, ziehen die Köpfe ein und halten ihre Tornister schützend darüber. Wer sich erleichtern muss, tut dies an Ort und Stelle. So hocken sie im Schlamm, stundenlang, in Regen und Hitze, umgeben von Verwesung und Schmutz. Und pausenlos fallen Granaten vom Himmel (rund drei Viertel aller Verstümmelten des Ersten Weltkriegs werden ihre Opfer sein). Wer genau im Aufschlagpunkt eines Geschosses liegt, verschwindet in einem Feuerball. Nichts bleibt mehr von ihm, doch immerhin ist es ein schneller Tod. Qualvoller ist es, von der hochgeschleuderten Erde eines detonierenden Geschosses lebendigen Leibes begraben zu werden – und dann zu ersticken. Ersticken kann auch, wer nach niedergehenden Granaten keine Detonation hört, sondern nur ein sattes, im Lärm fast untergehendes „Plopp“. Dann verbreiten sich Phosgen oder andere Giftgase – und dem, der sich nicht schnell genug seine Schutzmaske aufzerrt, verätzt es die Lunge. (Das Gas, immerhin, tötet auch die großen schwarzen Fliegen, die in dunklen Wolken über den Kadavern summen.)

Noch fürchterlicher aber sind die Wunden, welche die Fragmente der zerplatzenden Granaten reißen. Die Geschosse des Ersten Weltkriegs werden von ihren Sprengsätzen in große, vielfach gezackte Eisensicheln zerrissen. Die Fragmente der größten Kaliber sind so schwer, dass zwei Mann sie kaum heben können. Diese mit vielen Hundert Kilometern pro Stunde durch die Luft zischenden Splitter reißen den Soldaten den Leib auf oder auch einen Arm ab oder ein Bein oder den Kiefer. Unter den Donner der Explosionen mischen sich beständig die Schreie der Verstümmelten – jener Männer, die irgendwo in einem Trichter liegen und dort verbluten. Tagsüber kann sich kein Soldat zu einem Verwundeten wagen, selbst wenn der nur einige Meter weiter im nächsten Graben liegt. Hilflos muss man für Stunden den Schmerzenslauten lauschen. Und wenn sich dann nachts Freiwillige vorwagen, ist es für die meisten Verwundeten bereits zu spät.

So liegen auch Capitaine Delvert und seine Soldaten im Feuer. Selbst haben sie noch keinen einzigen Schuss abgegeben. Auf wen auch? Der Feind ist unsichtbar. Der Tod ist anonym. Niemand berennt ihre Stellung, sie selbst bewegen sich weder vor noch zurück. Es scheint, als wären sie ohne Sinn und Ziel ins Nichts geschickt worden, Brennmaterial für den Granatenofen von Verdun. Verdun. Die zehn Monate dauernde Schlacht – die längste der Moderne – wird noch während des Krieges zum Mythos und ist es seither geblieben. Die „Hölle“, die „Blutpumpe“, die „Knochenmühle“. Sie ist zum Sinnbild des Schreckens, des maschinenhaften Todes geworden für Franzosen wie Deutsche, zum Symbol schlechthin für den Ersten Weltkrieg. Das ist sie nicht etwa deshalb geworden, weil sie das blutigste Gemetzel in diesem Konflikt gewesen wäre – es gab andernorts noch ärgeres Morden. Und Verdun ist nicht deshalb zum Symbol geworden, weil diese Schlacht irgend etwas entschieden hätte. Sondern weil, wie ein Chronist später schreiben wird, Verdun genau im Gegenteil die „sinnloseste Schlacht in einem sinnlosen Krieg“ gewesen ist. Schon die Frage, warum sie überhaupt begonnen hat, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Fest steht nur: Die Deutschen greifen am 21. Februar 1916 an. Aber warum dort? Warum ausgerechnet die stärkste Festung Frankreichs? Warum Verdun?

Eigentlich sollte der Krieg nicht länger als einige Wochen dauern, höchstens aber bis Weihnachten 1914. Das jedenfalls sahen die Pläne der Generäle vor – der deutschen wie der französischen.

Während sich im Deutschen Reich die mobilisierten Armeen an der belgischen Grenze sammelten, um dann, gemäß dem Schlieffenplan, in das neutrale Land einzumarschieren und von dort ins Herz Frankreichs vorzustoßen, taten ihre Gegner ihnen den Gefallen und verhielten sich genau so wie von Schlieffen vorausberechnet. L’attaque à outrance ist Frankreichs Militärdoktrin: „Angriff bis aufs äußerste“. Schwere Artillerie? „Gott sei Dank haben wir sie nicht“, erklärt 1910 ein Offizier des Generalstabes französischen Politikern. Maschinengewehre? „Haben keinerlei Einfluss auf irgendetwas“, verkündet der Generalinspekteur der Infanterie. Flugzeuge? „Gut zum Sport, für die Armee nutzlos“, befindet Colonel Ferdinand Foch, der 1918 Oberbefehlshaber aller alliierten Armeen werden wird. Der Fußsoldat allein soll den Krieg im Angriff entscheiden, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett muss reichen. Selbst Tarnuniformen lehnen die Offiziere ab, das Feldgrau ihrer deutschen Gegner verachten sie. Strahlend blau und leuchtend rot sind die Uniformen vom Käppi (in der Armee gibt es, wie bei allen Verbündeten und Gegnern, 1914 keinen Stahlhelm) bis zur leuchtend roten Hose, damit der Gegner die Soldaten nur ja früh genug sehe und vor ihnen erschrecke. „Was der Feind plant, hat keine Konsequenzen“, verkündet die offizielle Doktrin. Frankreichs Antwort auf den Schlieffenplan heißt Plan XVII. Vier der fünf Armeen des Landes – 800.000 Mann – stehen im französischen Teil Lothringens und sollen von dort rasch bis zum Rhein vorstoßen. Im August 1914 wälzt sich das deutsche Heer durch Belgien und fällt dann schon nach wenigen Tagen in Frankreich ein – zur grenzenlosen Überraschung des französischen Generalstabes. Denn während im Norden der Front die Deutschen vorstoßen, vollzieht sich im Süden ein Debakel. Statt ihr Land zu verteidigen, greifen die Franzosen Deutschland in Lothringen an. Zahlenmäßig sind sie weit überlegen, zudem stehen ihren Einheiten oft nur Reservisten gegenüber, Bauern, Kaufleute, Angestellte, Künstler, die eilig einberufen worden sind. Doch die schießen mit Maschinengewehren und Artillerie auf die ungeschützt heranstürmenden Franzosen. Nach zwei Wochen hat Frankreich 300.000 Soldaten verloren: tot, verwundet, vermisst. Und statt zum Rhein zu stürmen, wenden sie sich zum Rückzug. Erst bei den Forts von Verdun können sie sich wieder halten. Am Ende wird Frankreich im Sommer 1914 von Russland gerettet. Weil das von den deutschen Generälen verachtete Zarenreich seine Soldatenmassen viel schneller mobilisieren kann als von Berlin erwartet, droht im September ganz Ostpreußen zu fallen. Eilig werden zwei deutsche Armeekorps vom Westen in den Osten verlegt. In Frankreich fehlen dem deutschen Oberkommando nun die Soldaten, um den entscheidenden letzten Stoß zu führen. In der Schlacht an der Marne, kaum 50 Kilometer vor Paris, bleibt der Angriff im Herbst 1914 schließlich stecken. In einer 750 Kilometer langen Front, von der belgischen Nordseeküste bis zur Schweizer Grenze, verschanzen sich nun deutsche, französische und britische Soldaten in immer aufwendigeren Schützengräben, die zu einem tief gestaffelten System ausgebaut werden, um so dem Artillerie- und MG-Feuer der jeweils anderen Seite zu entgehen. Die Soldaten sind zu erschöpft, um noch vorwärts stürmen zu können, die Generäle sind ratlos, was nun zu tun sei. Der Bewegungs- ist zum Stellungskrieg geworden. Sowohl der Schlieffenplan als auch Plan XVII sind gescheitert: Allein 1914 verliert Deutschland 750.000 Soldaten (Tote, Verwundete, Vermisste), Frankreich rund 900.000 Mann. In keinem folgenden Kriegsjahr werden die Verluste jemals wieder so hoch sein wie in diesen ersten fünf Monaten. Grund genug, sollte man meinen, die für dieses Debakel verantwortlichen Generäle abzulösen. Das Gegenteil geschieht.

Unter den Kriegsbeteiligten im Sommer 1914 ist Frankreich die einzige Republik. Doch nirgendwo diskreditiert sich eine zivile Regierung so wie in Paris. Als die Deutschen gegen die Hauptstadt vorrücken, fliehen Minister und Abgeordnete nach Bordeaux – eine Schmach, die sie viel Autorität kostet, selbst als sie nach der Marneschlacht an die Seine zurückkehren. Von nun an bestimmt der Grand Quartier Général (das Große Hauptquartier) alle wichtigen Entscheidungen der Republik – eine heimliche Militärdiktatur, nicht unähnlich der im wilhelminischen Reich. Der Oberbefehlshaber Joseph Joffre residiert im Schloss Chantilly. Ein General von bestenfalls mittelmäßigem militärischen Talent, aber unerschütterlicher Ruhe. Selbst in den turbulenten Tagen, da Deutschlands Armeen durch Belgien vorgedrungen und Frankreichs Soldaten in Lothringen verblutet sind, ist er, anders als die Politiker und viele seiner Offiziere, nie in Panik geraten. „Durch ihn hätte Frankreich beinahe den Krieg verloren, ohne ihn hätte es den Krieg ganz sicher verloren“, wird später ein britischer Militärhistoriker urteilen.

„Papa“ ist der Spitzname des schnauzbärtigen Mannes. Nichts könnte irreführender sein. Noch in seinen 1932 veröffentlichten Memoiren findet sich kein Mitleid, kein Wort des Bedauerns, kein echtes Zeichen der Anteilnahme am Schicksal der Männer im Schützengraben (wie in fast allen Erinnerungen der beteiligten hohen Offiziere beider Seiten). Soldaten sind für ihn Zahlenkolonnen, wie Geschütze oder Granaten. Sind die Ziffern hoch genug, wird angegriffen.

Die Soldaten greifen an, selbst in aussichtsloser Lage

L’attaque à outrance ist noch immer Doktrin in Chantilly, bei Joffre und bei fast allen seinen Offizieren. Ein General wird „der Schlächter“ genannt – nicht vom Feind, sondern von den eigenen Soldaten, weil er besonders verlustreiche Angriffe befiehlt. Und als Offiziere im November 1914 Joffre den Vorschlag machen, Soldaten zu deren eigenem Schutz endlich mit Stahlhelmen auszustatten, lehnt der dies zunächst ab, weil die Helme zu spät kämen: „Bevor zwei Monate vergangen sind, werde ich dem boche den Nacken gebrochen haben.“ Erst später wird die Produktion freigegeben, werden auch blaugraue Uniformen ausgegeben, welche die Soldaten immerhin etwas tarnen. Das ganze Jahr 1915 über bleiben die Attacken der Franzosen ohne Erfolg. Immer und immer wieder greifen sie an. Die Soldaten gehen in den Tod „wie zu einer Parade“, schreibt ein verbitterter Offizier. Am Ende des Jahres haben Franzosen und Briten 250.000 Mann verloren, rund 100.000 mehr als die Deutschen. Der einzige Erfolg einer dieser Offensiven war die Rückeroberung eines Friedhofs.

1916 soll endlich die Entscheidung fallen. Die britischen Alliierten, anfangs nur mit wenigen Einheiten auf dem Kontinent, haben inzwischen eine veritable Armee aufgestellt. Die Franzosen planen, gemeinsam mit den Briten im Sommer 1916 die deutsche Front an der Somme aufzubrechen. Für diese große Offensive zieht Joffre alles, was er an Soldaten und Geschützen an anderen Frontabschnitten entbehren kann, zusammen. Auch in Verdun werden Regimenter abgezogen und Kanonen demontiert. Dabei mehren sich im Winter 1915/16 die Indizien, dass die Deutschen in den Argonnen etwas Bedrohliches vorhaben. Doch nach wie vor gilt bei den Franzosen: „Was der Feind plant, hat keine Konsequenzen.“

Was genau Joffres Gegenspieler Erich von Falkenhayn plant, ist noch heute, 90 Jahre später, ein Rätsel. Der General hat nach dem Debakel an der Marne den Oberkommandierenden Helmuth Graf von Moltke abgelöst. Falkenhayn – steife Haltung, kalter Blick, schnarrende Stimme – ist der Archetypus des Junkers und preußischen Offiziers: schneidig, arrogant, rücksichtslos. Doch seine eisige Fassade verbirgt zwei fatale Schwächen. Falkenhayn ist im Grunde ein Zauderer, der sich stets absichert. Und er ist von geradezu manischer Verschlossenheit. Falkenhayn berät sich mit niemandem und offenbart keinem seine wahren Ziele. Der österreichische Generalstabschef, sein engster Verbündeter, wird von Falkenhayn nicht einmal über große Offensiven informiert. Seine eigenen Generäle, unter ihnen der Kronprinz, haben vage oder gar falsche Vorstellungen von den Plänen ihres Vorgesetzten. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg ist ein Gegner des Generals, der in Berlin gegen diesen intrigiert.

Und der Kaiser? Wilhelm II. wird von Falkenhayn mit Anekdoten aus dem Schützengraben unterhalten und mit wenigen, wohl dosierten Dossiers. Falkenhayn entscheidet allein und unberaten über die Operationen der zu diesem Zeitpunkt wohl stärksten Armee der Welt. Er entscheidet sich für den Plan „Gericht“: den Angriff auf Verdun. Und niemand weiß genau, weshalb. Verdun ist die stärkste Festung der anderen Seite. Als die französischen Armeen im Sommer 1914 auch in Lothringen zurückweichen, krallen sie sich hier fest. Die Stadt, zu drei Vierteln von deutschen Einheiten umzingelt, drückt wie eine Beule in die Front.

Seit 1871, nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg, ist Verdun zur Festung ausgebaut worden. Die zerklüfteten, bewaldeten Argonnen ringsum eignen sich hervorragend als Verteidigungsstellung. Zudem ist das nunmehr deutsche Metz, auch dies eine wichtige Festung, nur gut 60 Kilometer entfernt. Westlich und südlich der Stadt dagegen ist das Land relativ eben. Keine Gebirgszüge, keine großen Flüsse liegen zwischen Verdun und Paris. Fällt Verdun, ist der Weg zur Hauptstadt offen. Deshalb haben französische Festungsingenieure drei Jahrzehnte lang einen Wall moderner Burgen um die Stadt gelegt: 19 Forts beherrschen die Höhen. Jedes von ihnen ist einige Hundert Quadratmeter groß, tief in die Erde eingegraben, von Mauerwerk und bis zu 7,5 Meter dicken Erd- und Betonschichten bedeckt. Mit versenkbaren, gepanzerten Geschützen und Maschinengewehren können die Verteidiger der Forts das Umland bestreichen. In jeder Festung sind mehrere Hundert Soldaten stationiert. Riesige Zisternen liefern Trinkwasser, Brot kann mancherorts in eigenen Bäckereien hergestellt werden.

Zwischen den großen Forts liegen, gut getarnt in Wäldern und auf Anhöhen, Dutzende kleinerer Stellungen, auch sie betonarmiert, mit Maschinengewehren ausgerüstet und teilweise dank Zisternen auf längere Belagerungen vorbereitet.

Die Stellung R.1, in die Capitaine Delvert einrückt, ist eine davon. Die Festungen decken sich gegenseitig, das heißt, jeder Angriff auf eine Stellung kann von den benachbarten Positionen aus unter Feuer genommen werden: Ein mörderischer, dicht gestaffelter Ring aus Sperrwerken, in dem jeder Vormarsch von Fußsoldaten stecken bleiben wird. Niemals haben die Deutschen bislang ernsthaft versucht, hier zu attackieren. Bis zum Februar 1916. In Falkenhayns 1919 verfassten Memoiren – dem vielleicht gefühlskältesten aller gefühlsarmen Rechtfertigungsbücher der Militärs – behauptet der Oberkommandierende, dem Kaiser „um Weihnachten 1915“ den Plan für den Angriff auf Verdun schriftlich vorgelegt zu haben. Doch bis heute hat niemand diese „Weihnachtsdenkschrift“ gefunden.

Viele Männer verirren sich rettungslos im Niemandsland

Falkenhayns Plan ist, sollte er denn je existiert haben, der Tiefpunkt an Menschenverachtung: Er will Frankreich, wie er dem Kaiser darlegt, „verbluten“ lassen. Da Verdun strategisch so wichtig sei, müsse der Feind diese Festung um jeden Preis halten. „Hinter dem französischen Abschnitt der Westfront gibt es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen ist, den letzten Mann einzusetzen. Tut sie es, so werden sich Frankreichs Kräfte verbluten, da es ein Ausweichen nicht gibt.“

Also müsse die deutsche Armee durch begrenzte, jederzeit kontrollierbare Offensiven diesen Punkt angreifen. Die Franzosen wären gezwungen, mehr und immer mehr Soldaten für Verdun zu opfern – bis sie, erschöpft vom ungeheuren Verlust, die Sinnlosigkeit des Krieges einsehen und nicht mehr weiterkämpfen würden. Nach dieser Logik darf Verdun gar nicht schnell fallen – denn dann würde die Gegenseite nicht genügend Soldaten verlieren. Falkenhayn geht sogar einen Schritt weiter: „Es wäre“, schreibt er seinem Kaiser, „gleichgültig, ob wir das Ziel selbst erreichen oder nicht.“

Soll Verdun also nur angegriffen werden, damit möglichst viele Franzosen umkommen? Diese Überlegung würde zu Falkenhayns Charakter passen, zu seiner Rücksichtslosigkeit ebenso wie zu seiner Angst davor, alles auf eine Karte zu setzen. Denn ob die Eroberung gelingt oder nicht, wäre nebensächlich – als Erfolg wäre der Angriff auf jeden Fall darzustellen. Doch diese Denkschrift existiert womöglich nur in den Memoiren des Feldherrn. Sie ist niemals in einem Archiv gefunden worden, weder Wilhelm II. noch einer der anderen beteiligten hohen Offiziere erwähnen sie in ihren Erinnerungen. Vielleicht hat der verschlossene Falkenhayn zwar das „Verbluten“ des Gegners bezweckt, dies aber niemandem verkündet, nicht einmal seinem obersten Kriegsherrn. Erst im Nachhinein, nach 1918, als Rechtfertigung, hat Falkenhayn diese Strategie offenbar schriftlich fixiert.

Klar ist jedoch, dass seine Untergebenen glauben, dass Verdun als strategisches Ziel erobert werden soll – und zwar so schnell wie möglich. Wer würde auch sein Leben für ein Ziel riskieren, das der Oberbefehlshaber schon vorab für „gleichgültig“ erklärt hat? Vieles spricht deshalb dafür, dass Falkenhayn im Winter 1915/16 seine eigenen Soldaten über die Pläne mit Verdun täuscht. Ganz sicher ist, dass er auch seine Gegner täuscht. Im Januar 1916 bereiten die Deutschen den Angriff vor. In den Wäldern der Argonnen stellen sie insgesamt 1225 Geschütze auf. Die mächtigsten sind die 42-Zentimeter-Mörser von Krupp, offiziell Gamma-Gerät, von Soldaten auf beiden Seiten der Front aber nach der Krupp-Erbin nur „Dicke Berta“ genannt. 140 Tonnen wiegt ein Geschütz, es muss auf Güterwagen transportiert und vor Ort zusammengebaut werden. Das dauert vier Tage. Sturmtruppen werden nahe an die französischen Linien verlegt: deutsche Eliteeinheiten, deren Ausrüstung leichter ist, damit die Soldaten beweglicher sind. Statt klobiger Stiefel tragen sie halbhohe feste Schuhe.

Und statt der Pickelhauben – deren Spitzen von erfahrenen Kämpfern längst abmontiert werden, weil sie sich leicht im Unterholz oder Stacheldraht verhaken – schützen Stahlhelme mit weit heruntergezogenem Nackenschutz die Köpfe. Erstmals in der Schlacht von Verdun tragen Soldaten jenen Helm, dessen Form für fast drei Jahrzehnte zum Kennzeichen des deutschen Infanteristen wird. Erstmals auch bereiten Pioniere große fassförmige Kanister vor, die mit hoch brennbarem Öl gefüllt sind. Aus einer Düse können diese „Flammenwerfer“ einen Feuerstrahl 15, 20 Meter weit schleudern. Damit die Franzosen nichts von den Vorbereitungen ahnen, treiben die Deutschen Stollen in die Erde: unterirdische Gänge, deren Ausstiegsöffnungen mitunter nur noch ein paar Dutzend Meter vor den feindlichen Stellungen liegen.

Im Februar ist alles bereit: Mehr als 500.000 deutsche Soldaten warten auf den Angriffsbefehl. Am 12. Februar 1916 soll der Sturm auf Verdun beginnen – doch das raue Argonnen-Wetter gewährt den Franzosen Aufschub. Es schneit so heftig, dass in dem weißen Gestöber nichts zu sehen ist. Also warten, bis das Wetter sich beruhigt. In den Stollen steht das eisige Wasser knöchelhoch. Es ist viel zu eng, als dass sich die Männer ausruhen, gar hinlegen könnten. Viele müssen nachts kilometerweit durch die Wälder in rückwärtige Stellungen schleichen, kehren dann vor dem Morgengrauen zurück – und werden wegen des Schneefalls nach einem Tag Ausharren im Stollen wiederum zurückgeschickt. Das tagelange Warten zermürbt die Soldaten. Alles ist besser als diese unerträgliche Ungewissheit in Nässe und Kälte. Bald müssen immer mehr Männer mit schweren Erkältungen oder Durchfallerkrankungen ins Lazarett geschickt werden. Dann dämmert der Morgen des 21. Februar herauf. Er ist eisig – aber klar. Plan „Gericht“ beginnt.

Um 7.12 Uhr feuert das erste schwere deutsche Geschütz – die Granate explodiert mitten in Verdun, beim Bischofspalast. Dann nimmt die Artillerie französische Stellungen elf Stunden lang unter Beschuss. Die Granaten sollen gegnerische Positionen zerstören und die Stacheldrahtverhaue zerreißen. Am Ende des Feuerüberfalls soll die eigene Infanterie möglichst rasch das Niemandsland durchqueren und die Positionen des Feindes besetzen können. Zunächst läuft alles nach Plan. Als um 18.00 Uhr die ersten Sturmtruppen aus ihren Stollen stürzen, herrscht auf der anderen Frontseite Konfusion. Schon eine Stunde nach dem Artillerieangriff waren sämtliche französischen Telefonleitungen zerstört. Befehle und Meldungen müssen nun per Lichtsignal übermittelt werden (was in der zunehmend rauchgeschwängerten Luft immer schwieriger wird) oder per Brieftaube.

Die meisten Nachrichten allerdings werden durch Melder überbracht. Ihre Einsätze gehören zu den gefährlichsten überhaupt. Melder müssen sich im Granatenregen irgendwie von den Schützengräben bis zum Hauptquartier durchschlagen. Schon nach wenigen Tagen der Schlacht werden die wichtigsten dieser Verbindungsrouten mit makabren Wegweisern gekennzeichnet sein – mit gefallenen Meldern.

Viele bringen ihre Nachrichten nie ins Ziel, andere verlaufen sich und landen beim Feind; wer es doch schafft, benötigt manchmal sechs, acht Stunden für zwei Kilometer. In dieser Zeit haben manche der Einheiten, denen sie Befehle überbringen sollen, längst aufgehört zu existieren. Groß sind die Erfolge der Deutschen in den ersten vier Tagen der Schlacht: groß nach den Maßstäben diee es Krieges. Nach heftigen Kämpfen – einige Tausend Mann sind auf beiden Seiten bereits gefallen – sind sie mehrere Kilometer vorangekommen. Ein paar Wälder, die im Granatfeuer langsam vergehen, mehrere verwüstete Dörfer, einige Hügelkuppen sind nun in ihrer Hand.

Und das Fort Douaumont, die stärkste Festung im Ring um Verdun. Das Fort wird von deutschen Einheiten, die sich laut Befehl eigentlich woanders hätten durchkämpfen sollen, auf eigene Faust erobert. Es scheint fast so, als könnte Verdun binnen weniger Tage erobert werden.

Da fallen fast zeitgleich in beiden Hauptquartieren Entscheidungen, für die einige Hunderttausend Mann mit dem Tod oder schrecklichen Verstümmelungen zahlen müssen.

Ich erwarte, was auf mich zukommt, einfach nur ohne Angst und erbitte mir von der Vorsehung nur noch eines, dass sie mir diese letzte Gnade gewährt: einen schnellen Tod und nicht dieses schreckliche Leiden, Folge der fürchterlichen Verwundungen, deren Zeugen wir alle Tage werden.

Gaston Biron, 18. April 1916, Brief an seine Mutter. Biron wird am 8. September 1916 verwundet und stirbt nach dreitägigem Todeskampf.

Am 25. Februar wird General Philippe Pétain zum neuen Oberkommandierenden von Verdun ernannt – ein Offizier, der vor dem Krieg bei Beförderungen oft übergangen worden ist: Pétain war einer der wenigen, welche die Doktrin der attaque à outrance als das erkannt hatten, was sie war: selbstmörderisch. Er hat früher als andere Offiziere realisiert, welche schreckliche Wirkung massierte Artillerie haben muss. „Feuerkraft tötet“, ist seine Maxime. Erst im Krieg macht Pétain Karriere. Er hat Erfolg an der Front, und kein General ist bei den einfachen Soldaten so beliebt wie er. Auch er verlangt von seinen Männern, dass sie jede Position halten – als einziger hoher Offizier aber verzichtet er auf die aussichtslosen, menschenverschlingenden Sturmangriffe. Er will erst attackieren, wenn seine Artillerie die Stellungen des Gegners zerschossen hat. Und genau dies geschieht ab März 1916. Der feindliche Angriff ist am östlichen Ufer der Maas vorgetragen worden. Als die Deutschen nun vorrücken, werden sie von den Hügeln des Westufers durch französische Kanonen beschossen. Die Granaten schlagen in ihren Flanken, ja in ihrem Rücken ein. In diesem konzentrierten Feuer bleibt der Vormarsch schließlich stecken. Verdun ist vorerst gerettet. Denn dies ist die zweite Entscheidung in einem Hauptquartier: Den deutschen Generälen ist bewusst, wie wichtig das Westufer ist. Schon vor dem Angriff drängen sie bei Falkenhayn darauf, an beiden Ufern vorzugehen. Die dafür notwendigen Soldaten stehen bereit. Doch Falkenhayn weigert sich und befiehlt, die Truppe in Reserve zu halten. Weshalb? Dass die französischen Geschütze auf dem Westufer ihnen ungemein gefährlich werden können, ist so offensichtlich, dass die Weigerung, sie anzugreifen, kaum an mangelnder militärischer Einsicht gelegen haben kann – womöglich aber am typischen Zaudern des Oberkommandierenden: seinem Zögern, alles auf eine Karte zu setzen, seinem Bedürfnis, sich stets durch möglichst viele Reserven abzusichern. Vielleicht aber stellt Falkenhayn eine ganz andere Überlegung an, die er seinen höchsten Generälen verheimlicht: Sollten die Deutschen auch am Westufer vorrücken, würde Verdun vielleicht schon in der ersten Angriffswoche fallen – viel zu früh, als dass die überraschten Franzosen dort große Teile ihrer Armee hätten stationieren können. Der Feind würde somit nicht „verbluten“. Also blockiert er, was für den raschen Erfolg notwendig wäre, damit der Gegner Zeit hat, sich in voller Stärke aufzubauen.

Und tatsächlich: Nun verbluten die Franzosen – aber auch die Deutschen. Beide Gegner haben sich bereits im März in aussichtslose Positionen verrannt. Die Deutschen können das Gelände, das sie gewonnen haben, kaum halten. Sie liegen fast ungeschützt im französischen Artilleriefeuer, das aus den noch nicht eroberten Forts, den Hügeln des Westufers und den Anhöhen rund um Verdun auf sie niedergeht. Ihre eigenen Geschütze müssen erst mühsam demontiert, den vorrückenden Soldaten hinterhergeschleppt und wieder neu aufgebaut werden. Selbst die Versorgung der Soldaten in der vordersten Linie mit Brot und Wasser bricht zeitweise zusammen. Wollten die Deutschen dem Granathagel entgehen, müssten sie sich in ihre Ausgangsstellungen zurückziehen – undenkbar für Falkenhayn, den Kronprinzen oder einen der anderen Generäle – oder weiter angreifen, bis alle Positionen des Gegners erobert sind. Genau dies ist der Befehl: Angriff! Und nun, nach zwei Wochen des Zögerns, auch am Westufer der Maas. Die Franzosen aber wissen, dass sie in den ersten vier Tagen so viel Gelände verloren haben, dass jeder weitere Rückzug Verdun gefährden würde. Mehr noch: Um die eigenen, geschwächten Stellungen auf Dauer halten zu können, muss das verlorene Terrain zurückerobert werden. Also lautet auch hier die Parole: Angriff!

Im Juni beginnt die schlimmste Phase der Schlacht

Generalstabschef Joffre reagiert zuerst. Pétain hat Verdun in den entscheidenden ersten Wochen gehalten, doch nun verlangt er mehr Soldaten, als ihm der Oberbefehlshaber zuteilen will. Am 19. April entfernt Joffre daraufhin Pétain elegant, indem er ihn auf einen höheren Posten befördert. Der neue Mann ist Robert Nivelle, ein energisch auftretender General, der Joffre und französischen Politikern selbstbewusst verspricht: „Ich habe die Lösung!“ Sie heißt: l’attaque à outrance. Das bleibt auch Joffres Maxime – allerdings an anderer Stelle der Front. Wie seit Monaten geplant, will er im Sommer 1916 mit vereinten britisch-französischen Truppen an der Somme angreifen. Die Folge: Den Franzosen stehen in Verdun nicht genügend Kräfte zur Verfügung, um die Deutschen niederzuringen. Nivelle lässt dennoch angreifen, wieder und immer wieder. Und gewinnt nicht einen Meter Boden. Die massiven alliierten Vorbereitungen zur Somme-Offensive sind den Deutschen nicht verborgen geblieben. Eilig verlegen sie ebenfalls viele neue Einheiten dorthin – die dann in Verdun fehlen. Auch Falkenhayns Truppen sind deshalb nun zu schwach, um noch einen entscheidenden Durchbruch zu erzwingen. Manche hohe deutsche Offiziere geben die Schlacht auf. Selbst der Kronprinz ist für einen Abbruch des aussichtslosen Kampfes.

Und Falkenhayn? Der verschlossene, zögerliche Feldherr äußert sich im Frühjahr 1916 widersprüchlich. Mal scheint er für einen Abbruch zu sein, mal für einen neuen Großangriff. Die bevorstehende Somme-Offensive der Alliierten und die Kämpfe an der Front im Osten beanspruchen mehr und mehr seine Aufmerksamkeit. Viele seiner Offiziere haben den Eindruck, dass er inzwischen schlicht das Interesse an der Schlacht von Verdun verloren hat. Nach einigem Zögern, und fast wie beiläufig, befiehlt er schließlich doch: Weiter angreifen! Verdun ist zum Moloch geworden. Für keine Seite ist durch die Fortführung des Kampfes noch etwas Entscheidendes mehr zu gewinnen. Doch wie schon im Sommer 1914 scheinen die Verantwortlichen weder willens noch fähig, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen.

Als sich Capitaine Delvert und seine Soldaten in ihrer verwüsteten Stellung R.1 in der vordersten Linie verschanzen, ist die Schlacht bereits dreieinhalb Monate alt. Der Kampf, der in Schnee und Eis begonnen hat, tobt nun in der früh einsetzenden Sommerhitze. Durst peinigt die erschöpften Soldaten. Stets bringen die Männer, die nachts zum Essenholen ausgeschickt werden, zu wenig Wasser mit – und oft genug schmeckt es nach Fäulnis und Verwesung. Manche Männer trinken selbst dann das spärliche Regenwasser, das sich in den Granattrichtern sammelt, wenn Leichen darin liegen. Über 170.000 Mann sind bis Ende Mai bereits um Verdun gefallen oder verwundet worden. Und jetzt beginnt erst die blutigste Phase der Schlacht.

Ich liege auf dem Schlachtfeld mit Bauchschuss. Ich glaube, ich muss sterben.

Johannes Haas, 1. Juni 1916, Brief an die Eltern. Haas stirbt noch am selben Tag.

Die Verteidiger erbitten Hilfe. Doch es kommt keine

Donnerstag, 1. Juni: Am frühen Morden sieht Capitaine Delvert deutsche Soldaten aus ihren Schützengräben stürzen, „wie Ameisen, wenn man in einen Ameisenhaufen tritt“. Hilflos – seine Maschinengewehre reichen nicht so weit – beobachtet der Offizier, wie sich die Angreifer den französischen Stellungen an einem anderen Hang nähern. Über denen stehen bald weiße Qualmwolken – Zeichen für Handgranatenexplosionen. Dann fliehen einige Verteidiger. Stunden später erkennt Delvert plötzlich deutsche Helme in einem Graben, kaum 25 Meter entfernt. Die Franzosen nehmen den Gegner unter heftiges Feuer. Die Deutschen können sich R.1 nicht weiter nähern. Doch gegen 14.30 Uhr fällt R.2, die Stellung rund 200 Meter weiter. Delvert wird jetzt von zwei Seiten beschossen. In der Hitze des Nachmittags umschwirren große, schwarze Fliegen die Toten. Einer ist ein 19-jähriger Soldat, der mit einem Kopfschuss direkt neben Delvert gefallen ist. Auch die Nacht verbringen die Verteidiger jede Minute im Alarmzustand. Sie haben kaum noch Wasser, ihr Zwieback schmeckt „faul“, wie der Offizier notiert. Eine französische Granate geht mitten in Delverts Stellung nieder und tötet einen Unteroffizier. Der Capitaine kommandiert jetzt noch rund 70 Mann. Was er nicht ahnt, ist, dass diese 70 Franzosen die Einzigen sind, die noch die Flanke der mächtigen Festung Fort Vaux decken. An diesem Tag gewinnen die Deutschen rund 1000 Meter Gelände – zwei Abhänge mit einem tiefen Tal dazwischen. Damit haben sich die deutschen Soldaten so nah an das auf einer Kuppe thronende Fort herangekämpft, dass sie den toten Winkel unterhalb der Festung erreicht haben. Die Sturmtruppen graben sich nur ein paar Dutzend Meter von Fort Vaux entfernt ein, viele haben Delverts Stellung R.1 einfach umgangen. In wenigen Stunden werden sie das Fort angreifen.

Fort Vaux: Das ist eine 30 Jahre alte, mehrfach verstärkte trapezförmige Festung neun Kilometer nordöstlich von Verdun. Ihr Herz bilden unterirdische Backsteingewölbe, die an riesige Weinkeller erinnern. Darüber schützen eine 2,5 Meter dicke Betonplatte und ein rund ein Meter starker Erdmantel die Anlage vor schweren Geschossen.

Das Fort hebt sich kaum noch von der zernarbten Landschaft ab. Einzig ein Geschützturm und vier Beobachtungsstände ragen kaum einen halben Meter über die Oberfläche – halbrunde Hauben aus dickem, rotbraun oxidiertem Eisen, die wie überdimensionierte Soldatenhelme aussehen; dazu einige betonarmierte Schlitze, aus denen Maschinengewehre feuern können. Umgeben ist das Fort von Stacheldrahtverhauen und von einem tiefen Graben, der von separaten, unterirdisch vom Fort aus erreichbaren Betonbunkern mit Maschinengewehren beschossen werden kann. Im fast fensterlosen Innern verbindet ein wie ein großes W geformter Hauptgang die wichtigsten Bereiche: die Feuerstellungen; die Magazine für die Munition; einen kaum zwei mal zwei Meter messenden Verschlag, den der Festungskommandant als Hauptquartier nutzt; Latrinen, Vorratsräume, eine Zisterne sowie gruftartige Gewölbe, in denen jeweils rund 50 Soldaten auf Etagenbetten aus Eisen und groben Bohlen nächtigen. Zum Hauptgang und den wichtigsten Räumen gehört ein Labyrinth aus nicht einmal mannshohen, kaum ein Meter breiten Korridoren, Schächten und Treppenfluchten. Selbst in Friedenszeiten ist Fort Vaux feucht, düster und stickig. Nun aber ist die Festung vom feindlichen Feuer der letzten Wochen gezeichnet: Ein Granatenvolltreffer hat schon lange den einzigen Geschützturm zerstört, eine andere Explosion die Decke über einem Korridor aufgerissen. Soldaten haben den Gang mit Sandsäcken provisorisch verschanzt. Ein riesiger Riss zieht sich quer über die Decken der Mannschaftsräume. Die Stacheldrahtverhaue und der Graben rund um das Fort sind von unzähligen Granaten zerwühlt. 250 Soldaten sind hier stationiert. Doch am 1. Juni 1916 befinden sich rund 600 Mann im Fort, da sich Verwundete, verirrte Melder und vom Angriff zurückweichende Infanteristen zur Festung durchgeschlagen haben; dazu vier Brieftauben in einem eigens eingerichteten Verschlag – und ein Cockerspaniel, Maskottchen irgendeiner verlorenen Einheit, den jemand aus Mitleid hier abgesetzt hat.

Der Kommandant ist Major Sylvain-Eugène Raynal – ein Berufssoldat, der im Krieg bereits mehrmals schwer verwundet worden ist und nur noch mithilfe eines Krückstocks humpeln kann. Als Kriegsbeschädigtem hätte ihm die Entlassung zugestanden – doch Raynal kämpft so lange darum, wieder an die Front gehen zu dürfen, bis ihm seine Vorgesetzten schließlich das Kommando über dieses Fort geben. Der Dienst in der Festung gilt als weniger anstrengend, sodass ihn auch ein Mann abzuleisten imstande ist, der nicht mehr richtig gehen kann. Vor einer Woche hat Raynal seinen Posten angetreten. Freitag, 2. Juni: Noch in der Dunkelheit setzt heftiges Artilleriefeuer ein. Raynal schätzt, dass stündlich 1500 bis 2000 Granaten auf seiner Festung explodieren. Immer wieder zittert das ganze Bauwerk, Zementstaub schwebt in der bereits stickigen Luft, der Luftdruck der explodierenden Geschosse löscht die Flammen in den Lampen. Nach kurzer Zeit sind alle Telefonleitungen zu den hinteren Stellungen zerrissen. Am schlimmsten aber ist der Lärm: In den unterirdischen Hallen und Korridoren grollt der Donner, bis die Männer glauben, ihnen müssten die Köpfe platzen.

Plötzlich Stille. In der Morgendämmerung erkennen die Posten in den Beobachtungsstellungen deutsche Sturmtruppen, die aus einem Schützengraben dicht unterhalb des Forts springen. In wenigen Sekunden sind sie da, stürmen den von Granaten zerwühlten Graben hinab – und geraten in das Maschinengewehrfeuer aus dem Fort. Dutzende fallen. Die Deutschen kriechen an die MG-Stellungen und halten Handgranatenbündel vor die Schießscharten. Bei einer anderen Stellung versuchen sie, das brennende Öl eines Flammenwerfers durch den Betonschlitz zu pumpen. Stundenlang dauert der verbissene Kampf – ein Töten, das gespenstisch lautlos vor sich geht im pausenlosen Granatfeuer, das wieder eingesetzt hat. Weder oberhalb des Forts noch in seinem düsteren Innenlabyrinth ist etwas anderes zu hören als der Lärm der Explosionen. Gegen 16.00 Uhr haben deutsche Soldaten die Maschinengewehr-Bunker am Graben zerstört und das Dach von Fort Vaux besetzt. Im Innern hat Major Raynal sich mit mehreren Hundert Mann verschanzt. Als er einige Soldaten durch enge Schächte zum Gegenangriff auf das Dach kommandiert, schleudern die Deutschen so lange Handgranaten, bis die Franzosen sich zurückziehen müssen. Dann entdecken einige Angreifer den von einer Granate aufgerissenen Korridor und lassen sich ins düstere Innere hinab. Über Treppen und einen schmalen Gang erreichen sie eine Stahltür, dahinter hören sie leise Geräusche: Raynal gibt gerade Kommandos. Beide Seiten belauschen sich, dann versuchen die Angreifer, die Tür mit einer Handgranate aufzusprengen. Die Franzosen gehen in Deckung. Die Deutschen finden in dem Gang keinen Schutz und werden von der Druckwelle ihrer eigenen Explosion verwundet. Raynal lässt weitere Sandsackbarrikaden in den engen Gängen errichten und diese mit Maschinengewehren bestücken. Der Kampf tobt nun im Innern seiner Festung.

Samstag, 3. Juni. Die meisten Gänge sind dunkel wie ein Grab – und riechen auch so. Die Deutschen sind in zwei Korridore eingebrochen und haben sich dort verschanzt. Angreifer und Verteidiger schleudern Handgranaten. Die Splitter reißen nicht nur schlimme Wunden, das explodierende TNT setzt auch giftige Gase frei. Niemand kann die Leichen bergen – es stinkt nach Verwesung. Immer wieder kollabieren Kämpfer, die keine Gasmaske tragen, in der verpesteten Luft. Die Toten werden mit ätzendem Chlorkalk bedeckt, der normalerweise die Latrinen desinfiziert. Die Deutschen haben inzwischen das Fort umzingelt und rücken Meter für Meter vor. Heftiges Maschinengewehrfeuer. Hunderte Kugeln schlagen in den engen Gängen irrlichternd umher, die Verletzungen durch die Querschläger sind besonders grausig. Die Krankenstation der Franzosen besteht aus einem kaum zehn Quadratmeter großen offenen Verschlag unterhalb eines Mauerbogens. In zwei hölzerne Gestellen können hier sechs Tragen eingehängt werden, davor steht ein winziger Behandlungstisch. Kein fließendes Wasser, keine frische Luft, kein richtiges Licht. Ein paar Dutzend Männer mit schwersten Wunden liegen bereits hier. Wieder Dröhnen und Erschütterungen durch schwere Artilleriegranaten. Diesmal sind es französische Geschütze, die ihr eigenes Fort unter Feuer genommen haben, um die deutschen Angreifer auf dem Dach zu vertreiben. Vergebens. Draußen in R.1 kann Capitaine Delvert der belagerten Festung nicht helfen. Er hat genug damit zu tun, seine eigene Stellung zu halten. Seit 72 Stunden hat er nicht mehr geschlafen. Gegen 22.00 Uhr meldet ihm jemand, dass eine ganze Kompanie Verstärkung in R.1 eingerückt sei. Delvert ist erleichtert, dann aber schockiert: Von der Kompanie mit ihren rund 170 Soldaten haben es nur 18 Mann durch das deutsche Granat- und Maschinengewehrfeuer geschafft. Eine Stunde darauf trifft eine weitere Kompanie ein – 25 Überlebende.

Sonntag, 4. Juni. Flammenwerfer! Feuergarben und schwarzer, erstickender Qualm ziehen durch die Gänge von Fort Vaux. Doch Raynals Männer stoppen den neuen Angriff mit MGs. Sie haben 25 Meter Korridor verloren – und einen der drei ihnen noch verbliebenen Beobachtungsposten. Jetzt können sie nur noch durch zwei kleine Stellungen mit winzigen Sehschlitzen nach draußen blicken. Dort greifen französische Einheiten sechsmal vergebens die auf dem Fort verschanzten Deutschen an, um die Festung zu befreien. Hunderte Tote bleiben an den Hängen um Fort Vaux zurück. Von einer der angreifenden Kompanien werden 22 Mann gefangen genommen. 150 sterben; keiner kehrt zurück. Kurz vor Mittag drückt Raynal eine letzte Brieftaube durch einen Schacht ins Freie. Sie trägt die Nachricht: „Noch halten wir die Stellung, doch werden wir mit gefährlichem Gas und Rauch beschossen. Wir brauchen dringend Verstärkung.“ Der Vogel kommt tatsächlich zum Hauptquartier durch – und stirbt kurz darauf, vergiftet von Gas und Explosionsqualm. Nachmittags erbittet ein Unteroffizier ein Gespräch unter vier Augen mit Raynal. „Mon Commandant“, meldet er, „es gibt praktisch kein Wasser mehr in der Zisterne!“ „Aber das ist Verrat!“ ruft der Major. Tatsächlich ist es wohl eher Schlamperei seines Vorgängers. Seit März war bekannt, dass die Zisterne nur halb gefüllt ist, aber niemand hat sich darum gekümmert, die Vorräte zu ergänzen. Möglich zudem, dass die ständigen Erschütterungen einen Riss in die riesige Wanne getrieben haben, durch den das Wasser versickert ist.

Schon bald kämpfen beide Seiten nur noch um Ruinen

Montag, 5. Juni: schwere Kämpfe im Fort. Mit Sprengladungen haben die Angreifer ein neues Loch in einen Korridor gerissen. Unmittelbar danach richten die Deutschen Flammenwerfer in die Öffnung – doch aus dem Innern faucht ein starker Luftzug hinaus und drückt ihnen die eigene Flamme ins Gesicht. Noch kann Raynal sich halten. Inzwischen liegen in und vor der Krankenstation gut 90 Verwundete, manche mit hohem Fieber oder schweren Verbrennungen.

Die Deutschen erobern wieder einige Meter Korridor – und den Weg zur letzten Latrine. Von nun an müssen sich die Franzosen irgendwo sonst erleichtern. Raynal, der früher in den Kolonien diente, wird von Malaria geschüttelt. Abends gibt er den Befehl, das letzte Wasser an seine erschöpften Männer zu verteilen. In R.1 wird ungefähr zu jener Stunde Capitaine Delvert abgelöst. Mit den Resten seiner Kompanie macht er sich durch das Feuer auf den Rückweg. Als er in Verdun ankommt, kommandiert er nur noch 37 Mann.

Dienstag, 6. Juni: letzte, verzweifelte Hoffnung für Major Raynal. Wieder donnert französisches Geschützfeuer seit kurz nach Mitternacht, darauf folgt ein Entlastungsangriff der Infanterie. Doch hilflos müssen die Verteidiger von einem Beobachtungsschlitz aus zusehen, wie die wenigen Soldaten, die gegen 3.30 Uhr in die Nähe von Fort Vaux kommen, im Kugelhagel fallen oder sich mit erhobenen Händen ergeben. Niemand wird die Verteidiger befreien. Noch kämpfen sie. Munition (und salziger Zwieback, den aber niemand anrührt) sind reichlich vorhanden. Doch der Durst wird so unerträglich, dass einige Soldaten das schleimige Kondenswasser ablecken, das die Wände der Gewölbe hinabläuft. Andere trinken ihren eigenen Urin. Bald winden sich Soldaten in Magenkrämpfen. Ein junger Leutnant verliert in Düsternis und Lärm den Verstand und droht, das Granatenlager in die Luft zu jagen. Raynal muss ihn von Soldaten festhalten lassen.

Mittwoch, 7. Juni: Um 3.30 Uhr sehen Posten einer anderen französischen Festung ein Lichtsignal aus Fort Vaux, das dort von einer improvisierten Leuchtanlage gesendet wird. ... ne quittez pas ..., „verlasst nicht ...“, entziffern die Posten, mehr nicht. Einige Stunden darauf gibt Raynal auf. Er schickt einen seiner Offiziere mit einer weißen Fahne zu den in einem Korridor verschanzten Deutschen: Fort Vaux kapituliert. Die Verluste der Franzosen: 100 Tote und Verwundete. Die Deutschen haben bei der Eroberung mehr als 2700 Mann verloren. Der Kampf um Fort Vaux ist nur eine Episode der großen Schlacht, mehr nicht. Deutsche Soldaten besetzen die verwüstete Festung. Drei Wochen lang setzen sie von dort ihre Attacken fort auf Verdun. Einige Angreifer stoßen so weit vor, dass sie von einem Hügel aus die Häuser der Stadt sehen können. Dann, am 1. Juli 1916, startet die alliierte Offensive an der Somme, auf die Generalstabschef Joffre alle Hoffnungen gesetzt hat. Sie wird zum Desaster. Allein die Briten verlieren am ersten Tag der Schlacht 55.000 Mann. Die Attacke an der Somme sowie eine russische Offensive zwingen Falkenhayn, noch mehr Truppen aus Verdun abzuziehen und an den bedrohten Frontabschnitt zu werfen. Nun sind die deutschen Armeen in Verdun so schwach, das sie jene Gebiete, die sie bereits erobert haben, nicht mehr halten können. Im Oktober treten die Franzosen in Verdun zum Gegenangriff an. Allein am 24. Oktober gewinnen sie in weniger als 24 Stunden Terrain zurück, um dessen Besitz die Deutschen viereinhalb Monate gerungen haben. Am 3. November fällt Fort Vaux kampflos – die Deutschen haben es zuvor evakuiert. Am 18. Dezember 1916 endet der französische Vormarsch, die erschöpften Soldaten beider Seiten graben sich erneut ein. Die Schlacht von Verdun ist vorüber. Die Front verläuft ungefähr dort, wo sie schon zehn Monate zuvor verlaufen ist. Nichts hat sich geändert.

Und doch: Alles hat sich geändert. Viele Millionen Granaten haben den Landstrich so verwüstet wie wohl keinen anderen zuvor. 46 Dörfer sind zerstört, neun von ihnen bleiben für immer unbewohnt. Wälder, Felder, Straßen, Bahnlinien sind verschwunden, Boden und Wasser von Gas, Sprengstoff und Leichengift verseucht. Die Generäle von Verdun haben, wie bei so vielem anderen, auch bei der Zahl der Toten den Überblick verloren. Schätzungsweise mehr als 100.000 Deutsche sind gefallen; doppelt so viele haben schwere und schwerste Verwundungen erlitten. Die Verluste der Franzosen sind wahrscheinlich um etwa zehn Prozent höher. Insgesamt also rund 220.000 Tote und 420.000 Verletzte, viele gezeichnet für den Rest ihres Lebens. Zehn Monate elendes Sterben dafür, dass man am Ende dort steht, wo man angefangen hat. Doch dieses Mal kommt es zu Konsequenzen auf beiden Seiten. Am 29. August 1916 wird General Falkenhayn als Chef der Obersten Heeresleitung abgelöst (die Schlacht von Verdun ist nicht allein Anlass dafür, sondern auch der Kriegseintritt Rumäniens auf Seiten der Alliierten, den Falkenhayn zu diesem Zeitpunkt nicht erwartet hat). Von nun an sind die Generäle Hindenburg und Ludendorff die dominierenden Männer in Militär und Politik. In Verdun verlieren die deutschen Soldaten wohl mehr als in jeder anderen Schlacht das Vertrauen in ihre Offiziere – und damit letztlich in die Autoritäten des Kaiserreichs. So menschenverachtend, so offensichtlich sinnlos sind die Angriffsbefehle gewesen, dass der Glaube daran, für das Richtige zu kämpfen, erlischt.

Verdun ist zur moralischen Bankrotterklärung des Kaiserreichs geworden. Die Folgen – die Desillusionierung, die Verachtung der alten Autoritäten – wirken sich zwei Jahre später aus, in der deutschen Revolution. Noch weiterreichend sind die Konsequenzen von Verdun für Frankreich. Haben auf deutscher Seite zu verschiedenen Zeitpunkten insgesamt 50 Divisionen gekämpft – eine formidable Streitmacht, aber doch nur ein relativ bescheidener Anteil der Gesamtstärke des Reiches –, so schicken die Franzosen, die ihre Einheiten schneller ablösen, insgesamt 73 Divisionen nach Verdun. Drei von vier französischen Soldaten haben deshalb früher oder später das sinnlose Sterben in den Wäldern der Argonnen erlebt. Keine andere Schlacht des Krieges hat so viele Soldaten derart traumatisiert. Offiziell wird Verdun in Paris als Sieg gefeiert. Hat sich nicht la Grande Nation in der schlimmsten Schlacht der Geschichte behauptet? Symbolisiert nicht der Schlachtruf General Nivelles, „ils ne passeront pas!“, „sie werden nicht durchkommen!“, den unbeugsamen Geist eines ganzen Volkes?

Mehr noch: Hat sich hier nicht auch die Republik bewährt? (Denn Generalstabschef Joseph Joffre, der heimliche Militärdiktator, ist durch seine Arroganz, mit der er Verdun auf den drohenden Angriff nur unzureichend vorbereitet hat, sowie durch die gescheiterte Somme-Offensive diskreditiert. Seit Juni 1916 versammeln sich Frankreichs Abgeordnete erstmals zu Geheimsitzungen und entringen den Generälen, anders als in Deutschland, endgültig wieder die politische Macht. Am 27. Dezember wird Joffre auf einem unbedeutenden Posten kaltgestellt.) Tatsächlich aber hat die Moral der Truppe schlimmer noch als in Deutschland gelitten. Seit dem Sommer 1916 häufen sich Fälle, in denen Einheiten auf den Befehl zum Abmarsch mit Sitzstreiks antworten, in denen Soldaten die Autos hoher Offiziere mit Steinen bewerfen.

Ein Jahr und eine katastrophale Offensive später kollabiert Frankreichs Armee. In fast drei Vierteln aller Einheiten meutern 1917 Soldaten gegen ihre Offiziere. Erst Pétain, dem Helden von Verdun, dem einzigen General, der sich um das Schicksal seiner Soldaten kümmert, gelingt es, die Meutereien zu ersticken. Am Ende wird Frankreich dank der militärischen Macht Großbritanniens und der USA im Krisenjahr 1917 gerettet. Anders als in Deutschland, wo ein Jahr darauf die Marine revoltiert, folgt auf die Meuterei nicht der Zusammenbruch des Staates – nicht sofort jedenfalls. Aber es ist die Generation von Verdun, die 1939/40 angesichts der Aggression Hitlers in Hoffnungslosigkeit, ja Defätismus erstarrt. Die Männer, die Verdun erlebt haben, wollen so etwas um keinen Preis noch einmal durchmachen – selbst wenn sie sich dafür unterwerfen müssen. Pétain selbst sagt schon 1927 über den französischen Soldaten: „Der konstante Anblick des Todes hat ihn mit einer Resignation durchdrungen, die an Fatalismus grenzt.“

Deshalb wohl bleibt Frankreich so ängstlich-inaktiv, als die Wehrmacht im Herbst 1939 Polen überfällt. Deshalb verschanzt es sich beim Angriff 1940 bewegungslos in den Festungen der Maginotlinie – den noch gewaltigeren Nachfolgebauten der Forts von Douaumont und Vaux. Und als die Deutschen die Festungen umgehen (denn auch sie wollen ein zweites Verdun auf jeden Fall vermeiden), kollabiert die Dritte Republik. So scheint es fast konsequent zu sein, dass sich Pétain 1940 als Oberhaupt des von Hitlers Gnaden installierten Vichy-Regimes im besiegten Frankreich hergibt. Aus dem Helden von Verdun wird ein Kollaborateur.

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