Sie gehören zum germanischen Kulturkreis wie Odin (Wodan) und Thor (Donar): die Runen. Seit Jahrhunderten haben die geheimnisvollen Inschriften die Fantasie von Wissenschaftlern und Laien angeregt. Und auch in modernen Mythen etwa J. R. R. Tolkiens Epos Der Herr der Ringe stiften die Zeichen eine Magie, die unseren gebräuchlichen Buchstaben längst abhanden gekommen ist.
Neue Forschungen des amerikanischen Sprachforschers Thomas Markey, emeritierter Professor der University of Michigan, unterstützen zum Teil eine These des verstorbenen norwegischen Indogermanisten Carl J. S. Marstrander (1883 1965), dass das aufgrund seiner Anfangsbuchstaben F-u-th-a-r-k genannte Runen-Alphabet mit dem Schreibsystem der Nordetrusker verwandt ist das seinerseits auf das griechische Alphabet zurückgeht.
Bis heute rivalisieren mehrere Thesen miteinander. Nach einer Theorie von Erik Moltke und anderen skandinavischen Gelehrten sind Runen eine originäre Erfindung der Germanen. Dafür spricht, dass bislang keine Bindeglieder zwischen den Schriftfunden im Einflussgebiet der griechisch-römischen Schriftkultur und den Runen im Norden Europas entdeckt wurden (die älteste Runeninschrift, von ca. 25 n. Chr., stammt aus Süderdithmarschen in Schleswig-Holstein).
Eine weitere, durch zahlreiche Gelehrte des vergangenen Jahrhunderts vertretene Theorie sieht eine Verbindung zwischen Runen und der lateinischen Schrift. Als Kontaktareal zwischen den Kulturen vermuten Anhänger dieser Hypothese den Limes, den Grenzwall des Römischen Reiches in Deutschland. Dafür sprechen gewisse formale Ähnlichkeiten, etwa zwischen dem Buchstaben F und der dazu gehörigen F-Rune. Dagegen spricht, dass in allen Regionen, wo die lateinische Schrift gelehrt wurde, genau diese Schrift beibehalten wurde. Durch sie ist letztlich auch das etruskische Alphabet verdrängt worden, das sich zunächst eigenständig unter Anlehnung an das griechische entwickelt hatte.
Markey vertritt die Ansicht, dass es keltische Gelehrte waren, welche die etruskische Schrift in Kontakt mit den Germanen gebracht hatten - kurz bevor die Römer den keltischen Volksstamm vernichteten, der diese Kontakte pflegte. Als Beleg gilt für ihn ein merkwürdiger Fund: die Inschriften in den so genannten "Negau-Helmen". Jene wurden vor 190 Jahren in enjak im heutigen Slowenien von dem Einheimischen Jurij Slaek entdeckt, als dieser einen Apfelgarten anlegen wollte. "Negau" ist der Name des damals österreichischen Verwaltungsdistrikts, zu dem der Fundort 1811 gehörte.
Die erhaltenen 23 Helme aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. tragen die ältesten germanischen Inschriften; alle wurden früher als 50 v. Chr. geschrieben und zwar mit etruskischen Buchstaben! Merkwürdig ist auch die vetulonische Form der Helme mit einem zentralen Kamm und einem vorspringenden Rand; dies entspricht einer etruskischen Helmnorm aus der Zeit zwischen 500 450 v. Chr.. Gefunden wurden die Helme indes auf früherem keltischen Gebiet. Sie waren dort wohl um 55 bis 50 v. Chr. vergraben worden; etwa 35 Jahre, bevor das Territorium von Römern erobert und geplündert wurde.
Warum aber wurden sie noch 350 Jahre nach ihrer Herstellung wie ein Schatz bewahrt? Denn im Kampf getragen worden sind diese Helme seit 300 v. Chr. nicht mehr. Paul Gleirscher vom Landesmuseum für Kärnten vermutet, dass die Helme rituell-symbolische Bedeutung für die Kelten besaßen. Dafür gibt es eine Reihe von Hinweisen: Schon Caesar beschrieb deren Praxis, Beute in wirren Zeiten an heiligen Orten zu vergraben. Und dafür spricht auch, dass manche der Helme neben den germanischen auch jüngere keltische Inschriften aufweisen.
Dass die Kelten sowohl in Kontakt mit Etruskern als auch Germanen standen, ist unstrittig. Und dass sie das nord-etruskische Alphabet in der betreffenden Gegend benutzten, belegt der so genannte koiné-Fund bei Magdalensberg.
Warum aber übernahmen dann die Germanen das Alphabet der Etrusker nicht direkt? Dafür gibt es linguistische Gründe. Es war, so Markey, viel leichter, das Keltische mit etruskischen Buchstaben wiederzugeben als das Germanische. Doch immerhin: Etwa die Hälfte aller Zeichen des Runenalphabets sind direkt auf das Etrusker-Abc bezogen viel mehr, als es Äquivalenzen zwischen dem lateinischen Schriftsystem und germanischen gibt.
Dass es ein geliehenes Alphabet war, was die Germanen benutzten, dürfte auch erklären, weswegen sie sich die Mühe machten, eine Rune für ein p zu schreiben obwohl es einen solchen Laut ursprünglich so gut wie gar nicht gab. Im Etruskischen entspricht dieser Laut dem Symbol pi. Das ist ungefähr dieselbe Situation, die uns heute nötigt, das v mit uns herumzuschleppen, obwohl w und f für seine beiden Lautvarianten genügen würden.
Ferner ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich Schreibsysteme völlig ohne Vorbild entwickeln. Wie der Sprachforscher Ignace J. Gelb von der University of Chicago unterscheidet Markey mehrere Phasen der Übernahme: 1. direkte Übernahme von Zeichen und Zeichenwert (griechisch => alt-etruskisch), 2. Übernahme der Zeichen und teilweise Übernahme der Werte (alt-etruskisch => neue Dialekte), 3. teilweise Übernahme von Zeichen und Werten (neue etruskische Dialekte => runisch) sowie zwei weitere, noch losere Verbindungen.
Was die Inschriften bedeuten, ist übrigens bis heute nicht eindeutig geklärt. Helm B trägt die Zeichen harigasti teiwa; vermutlich, so Markey, heiße dies: Harigast Gottes(priester). Wahrscheinlich war Harigast ein wohlhabender Germane. Ob ihm und den keltischen Schatzbewahrern die Schriftmagie genutzt hat, wird wohl ebenso ein Rätsel bleiben wie die Bedeutung der Runen.