Neuro- was? Divers eben, also anders als die meisten anderen, und zwar im Gehirn anders verdrahtet. Der Begriff neurodivers beschreibt Menschen mit Autismus, ADHS, Dyslexie und anderen neurobiologischen "Abweichungen". Diese sollen nicht als Störungen oder Krankheiten betrachtet werden, sondern einfach als Unterschiede in der Konfiguration der Gehirne.
"Neurodiversität bedeutet, mentale Vielfalt wertzuschätzen", sagt Simone Burel. Die Sprachwissenschaftlerin und Autorin ist selbst neurodivers, berät Unternehmen und Institutionen. Wertschätzung ist dabei wörtlich gemeint, denn neurodiverse Menschen haben oft besondere Fähigkeiten.
Etwa Kreativität und Gegen-den-Strom Schwimmen: Neurodiverse Menschen denken oft außerhalb etablierter Strukturen und bringen frische Perspektiven mit.
Detailgenauigkeit: Menschen im Autismus-Spektrum haben oft eine hohe Aufmerksamkeit für Details und Muster.
Spezialinteressen: Konzentration und Hyperfokus auf bestimmte Themen oder Aktivitäten können zu tiefem Wissen und besonderen Fachkenntnissen führen.
Schnelligkeit: Menschen mit AD(H)S können beispielsweise besonders schnell Wissen erwerben und abrufen.
Empathie: Viele Neurodiverse besitzen eine tiefe emotionale Empfindsamkeit.
Um ihr Potenzial voll ausschöpfen zu können, brauchen sie häufig andere Arbeitsbedingungen als die meisten anderen. Warum das so ist, wie man sie schafft und welche besonderen Herausforderungen neurodiverse Menschen bei der Arbeit haben, erklären wir hier.
Drei Bereiche sind für neurodiverse Menschen besonders herausfordernd
1. Unterschiede in der Wahrnehmung
Neurodiverse Menschen nehmen viel um sich herum wahr, so Burel. Auch wie intensiv Sinneseindrücke und äußere Reize wahrgenommen, gefiltert, sortiert und verarbeitet werden, ist anders: "Das kann sich beispielsweise darauf beziehen, dass ein Geräusch laut oder leise, als angenehm oder unangenehm wahrgenommen wird", erklärt sie. "Manche Töne über 10.000 Hertz sind für mich geradezu schmerzhaft! Ebenso können eine Farbe, eine Lichtquelle oder ein Bodenbelag entweder schön oder anstrengend sein."
2. Unterschiede in der Verknüpfung von Wissen
Es gibt auch Unterschiede bei der Aufnahme von Wissen. Bei der Verarbeitung von sprachlichen Konzepten wie Lesen und Rechtschreibung oder numerischen und mathematischen Konzepten. Wird Wissen strukturiert oder assoziativ abgerufen? Sagt jemand alles, was ihm einfällt, oder nur das, was gerade zur Situation passt? Auch das funktioniere bei neurodiversen Menschen anders. Und auch: "Wie sagst du es: mündlich oder schriftlich? Ich bin beispielsweise ein sehr schriftlicher Mensch, weshalb es mich regelmäßig vor Herausforderungen stellt, wenn Menschen mit mir telefonieren statt E-Mails schreiben wollen."
3. Beziehungsgestaltung
"Allgemein sind soziale Kontakte, die Abwesenheit oder Anwesenheit von anderen Menschen für viele neurodiverse Menschen schwierig. Denn hier gelten Höflichkeits- und Konventionsregeln, die für viele neurodiverse Menschen nicht verständlich sind", erklärt Burel. Dazu zählt etwa, Notlügen zu nutzen, Tabuthemen zu umschiffen oder die Kamera bei Gesprächen online anzuschalten. Durch die Angst, – vermeintliche – soziale Normen nicht zu erfüllen, "üben" viele neurodiverse Menschen regelrecht, andere Personen zu imitieren, etwa in Mimik, Gesten, Blickkontakt, und ihre eigenen Verhaltensweisen allmählich zu unterdrücken. Dieses "Masking" (von engl. mask = Maske) führt jedoch zu noch mehr Stress, sagt Simone Burel. "Viele neurodiverse Menschen bevorzugen daher eher abgeschiedenes und autonomes Arbeiten, da sie nur dann ihre höchste Leistung erbringen können." Auch, weil sie häufig Stigmatisierung und Ausschluss von Gruppen erfahren und Angst davor haben.
Was können Neurodiverse selbst tun, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen?
1. Selbstermächtigung
"Um gut arbeiten zu können, ist es wichtig, sich selbst aufzuklären und für die eigenen Bedürfnisse und Herausforderungen zu sensibilisieren" – das ist oft der schwierigste Teil der "neurodiversen Lebensreise", so Burel. Denn "zu sich zu stehen und sich nicht zwangsweise an die Mehrheit und deren Verständnis von Arbeitsleben anzupassen", kostet viel Kraft und Selbstvertrauen. Darin für sich Klarheit zu haben, helfe aber, deutlich zu kommunizieren, was man individuell benötigt, "gerade in größeren Organisationen".
2. Offene Kommunikation
"Reden über die eigene Neurodiversität entlastet. Denn nur wenn andere Bescheid wissen, wie es einzelnen neurodiversen Menschen wirklich geht, können sie langfristig Verständnis aufbauen und sich auf Arbeitsweisen einstellen." Burel rät, offen mit Vorgesetzten oder der Personalabteilung zu sprechen, Arbeitgebende seien oft bereit, Anpassungen vorzunehmen, gerade wenn es um Arbeitszeiten oder -räume geht.
Und: "Awareness und Offenheit hilft allen", sagt Simone Burel. Sie verweist auf eine Variante des sogenannten Diana-Effekts: Oft redeten nach dem Outing von Führungskräften auch andere Teammitglieder transparenter über ihre eigenen Probleme wie psychische Krankheiten. Oder begännen sogar Therapien.
3. Netzwerke und Verbündete
"Ich kann nur raten: Suchen Sie sich Unterstützung! Ob am Arbeitsplatz oder in Freundeskreisen, Familien oder speziellen Netzwerken und Selbsthilfegruppen", so Burel. In internen oder externen Netzwerken für neurodiverse Menschen könne man sich einen Safer Space, also eine geschützte soziale Umgebung aufbauen, und der Austausch könne für wertvolles Erfahrungswissen sorgen.
"Gemeinsam fühlen wir uns stärker. Daher empfehle ich auch, neurotypische Kollegen und Kolleginnen zu finden, die als sogenannte Allies die eigenen Anliegen unterstützen und sich ebenfalls für ein neuroinklusiveres Arbeitsumfeld einsetzen."
4. Selbstfürsorge
"Last, but not least", ist Selbstfürsorge gerade für neurodiverse Personen unerlässlich, so Burel. "Pausen, Bewegung und Kurz-Entspannungstechniken wie das Wechselatmen aus dem Yoga helfen, Stress abzubauen und die Produktivität wiederzuerlangen – diese sollten natürlicherweise in den Arbeitstag integriert werden."
Was können neurodiverse Menschen bei Unverständnis oder Ablehnung tun?
"Es kann sehr herausfordernd und verletzend sein, auf Unverständnis oder Ablehnung zu stoßen, wenn über die eigene Neurodiversität gesprochen wird", sagt Simone Burel aus eigener Erfahrung. Ihr Rat: "In solchen Situationen ist es hilfreich, sachliche Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse über Neurodiversität zu teilen, um Missverständnisse und Vorurteile abzubauen." Aber: "Gleichzeitig ist es zentral, sich seiner eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse bewusst zu sein und zu ihnen zu stehen, ohne sich von negativen Kommentaren entmutigen zu lassen." In schwierigen Situationen könne professionelle Unterstützung durch Therapeutinnen oder Berater, die Erfahrung mit Neurodiversität haben, sehr hilfreich sein. "Für mich hat sich diese Regel bewährt: Love it, leave it, change it or accept it. Wenn alles nicht hilft, ist manchmal der Exit die gesündeste Lösung, denn Systeme brauchen sehr lang, bis sie sich ändern – das abzuwarten, kann für die eigene mentale Gesundheit enorm belastend sein."