Die Unruhe flatterte in unser Haus in Form einer Ankündigung. Der Vermieter informierte in einem Schreiben über Sanierungsmaßnahmen im Haus, für die ein gewisser persönlicher Einsatz nötig sei. Konkret sollten, und nun erbleichte ich, alle Kellerparzellen für Dämmungsmaßnahmen bis auf den letzten Gegenstand geräumt werden. Alles, was man behalten wolle, müsse so lange in einen Container im Garten lagern. Mein Atem stockte.
Für das Wochenende fasste ich einen tapferen Plan: Die Besichtigung meiner Parzelle, ein Lagebericht musste her. Nach drei aufschiebenden Kaffees war es soweit, ich schritt die Kellertreppen hinab in die Unterwelt meines sammelnden Selbst. Ein symbolischer Gang wie in tiefere Schichten meines Ich. Denn immer, wenn etwas schweren Herzens die Wohnung im vierten Stock verlassen durfte, hatte ich es als Zwischenlösung im Keller, – also fünf Stockwerke weiter unten, zwischengelagert – und vergessen. Der letzte Step endgültigen Loslassens scheint für Bewahrer und Klammerer eben der Keller zu sein. Ich erwartete nach über 20 Jahren als Mieterin also nichts Gutes vorzufinden.
Zunächst fand ich jedoch am Sonntag jemand anderen im Keller, meine Nachbarin Nicole, die ebenfalls fassungslos in ihre Parzelle lugte. Sofort waren wir Komplizinnen, zusammengeschweißt durch den Ernst der Situation. Heldinnen des Entrümpelns. Ihre Lage, so erkannte ich sofort, war ebenfalls komplex: Mit zwei erwachsenen Kindern und deren gesamter Spielzeugsammlung, dazu einer Badewanne des Vormieters und zig Kartons, deren Inhalt sie nicht kannte, hatte sie nun für Ostern eine Beschäftigung.
Spirituelles Erweckungserlebnis Aufräumen
Wir öffneten gemeinsam wahllos einige Schachteln, blickten auf Nicoles Hefte aus der Grundschule. "Das ist leicht, die kommen weg", rief Nicole triumphierend. Ich aber schrie entsetzt auf: "Was? Mit deinen Kindheitszeichnungen am Rand? Das kannst du doch nicht weggeben." Uns wurde klar, dass das eigene Leben nun an uns vorüberziehen würde – nervlich mussten wir gewappnet sein.
Warum lagern die meisten Menschen so viel Vergangenheit in ihren Häusern und Kellern ein, hängen so nostalgisch an den Dingen? Menschen sind, das scheint klar, vom Wesen her Sammler, Klammerer und Bewahrer. Psychologen glauben, dass mit den Dingen auch Teile des Selbst verhandelt werden, Menschen definieren mit den Dingen, die sie umgeben, wer sie sind, wer sie waren, und wer sie sein wollen. Die Dinge bilden wie eine Konsumskulptur unser "erweitertes Selbst", werden Teil unserer Identität. Etwas von diesem verdinglichten Selbst loszulassen, fühlt sich wie Verlust an, im schlimmsten Fall wie ein Verlust an Identität.
So gesehen erscheint der nahezu religiöse Hype um das Ausmisten à la Marie Kondo zumindest nachvollziehbar, nach deren Philosophie Ordnung und Befreiung in unserem Inneren entstehen, wenn wir Gerümpel aussortieren und Dinge loslassen, die unsere Wohnungen und metaphorisch unser Selbst vollstopfen. Eine nahezu spirituelle Reinigung wird demjenigen in Aussicht gestellt, der loslässt, eine Form von Ordnungstherapie für den modernen Menschen (die übrigens interessanterweise bereits Sebastian Kneipp vorschlug).
Der Mensch ist ein Schachtelwesen
Doch bringt es wirklich Klarheit, so viele Dinge loszulassen, wie die Aufräumexpertin und Minimalistin Marie Kondo so erfolgreich nahelegt, quasi ihren Fans predigt? Das Buch, mit dem sie berühmt wurde, trägt den sprechenden Titel: "Magic Cleaning. Wie Aufräumen Ihr Leben verändert." Die Radikalmethode rät, sich von allem zu trennen, was nicht aktiv Freude bereitet. Das Kellerexperiment war, das erkannte ich in dieser Sekunde, geradezu ideal, um das zu testen: Eine Übung für Fortgeschrittene. Also Parzellentür auf: Ich fand mich wieder in den Zeitschichten meines Lebens.
In einer immerhin vorbildlich fest verschlossenen Tüte fanden sich Klamotten meiner Studienzeit. Eine Adidas-Tasche aus lackigem Kunststoff (war mal in Mode), ein martialischer Flohmarktmantel aus Leder, mit dem wir auf Parties im Pudelclub waren. Auch das Biologiebuch meiner Grundschulzeit hatte die Jahrzehnte im Keller überlebt. Genau wie meine Bücher vom Reitenlernen – erworben Mitte der Achtziger. Beinahe war ich gerührt. Hinzukamen sogar noch Gegenstände, die ich für ehemalige Mitbewohner einlagerte, unter anderem eine Katzentoilette, wobei die Katze Lissi längst das Zeitliche gesegnet hatte. Aus dem Nebenkeller hörte ich immer wieder Nicole murmeln, man wisse gar nicht, wo man anfangen solle.
Neulich las ich, dass der Mensch anthropologisch betrachtet bereits seit Urzeiten ein "Schachtel- und Behälterwesen" sei. Sein Leben und Hab und Gut eben in Behältern, in Kartons, Schubladen, Schachteln oder gar in Containern sammele und verwalte. Die Wohnung ist gewissermaßen die größte Schachtel, nach dem Mietshaus das größte Aufbewahrungsbehältnis, der Keller eben eine weitere kleinere Schachtel in diesem Behältnis, in der wiederum zig noch kleinere Schachteln und Aufräumbehältnisse mit Dingen ruhen. "Das verschachtelte Ich" nannte der Kulturwissenschaftler Gehrlach klug sein Buch. Es scheint offenbar eine anthropologische Konstante zu sein, sich in Schachteleinheiten zu organisieren. Dinge aufzubewahren und zu horten, spendet Sicherheit in einer zunehmend chaotischen Welt. Und hält uns offenbar Möglichkeiten, also ungelebtes Leben offen: Was, wenn wir die Klamotten aus Studienzeiten noch einmal anziehen wollen (sehr unwahrscheinlich!). Was, wenn wir genau dieses Biolexikon einmal brauchen würden (noch unwahrscheinlicher)? Was, wenn die Karriere als Reiterin Fahrt aufnimmt (okay, die Reitbücher bleiben als persönlicher Traum). Ein verschachtelter Möglichkeitsraum.
Nicole und ich stachelten uns an: Sie zerrte Dinge für den Müll raus, inzwischen half sogar ihre Tochter bei den Spielzeugsachen mit, ich hievte die Kleidersäcke in den Altkleidercontainer am Ende der Straße, sortierte aus staubigen Kartons und Schachteln vergessene Waffeleisen und alte Rollen Raufasertapete aus. Ich fand Schachteln ehemaliger Mitbewohner, aus der Mode gekommene Koffer und vieles mehr. Ballast abwerfen, loslassen, ich machte der Glücksformel von Minimalismus-Guru Marie Kondo alle Ehre. Doch fühlte ich mich auch besser? Leichter? Freier? Klarer?
Ich bin mir nicht sicher. Meine Liebe zur Dingwelt sitzt womöglich tief. Irgendwie ist sie doch beseelt, sind die Erinnerungen in alte Stücke eingewoben. Ich finde die Idee, mit den Dingen des Lebens, vielleicht nicht unbedingt mit jenen im Keller, in Würde zu altern, irgendwie liebevoll. Nicht alles muss daher raus: Es gibt auch die Schönheit des Bleibens und Bewahrens, die Erinnerung stiftet. Wie dem auch sei: Ich bin mit dem Kellerprojekt sowieso nicht an einem Tag durchgekommen, muss nächstes Wochenende wieder hinab und die nächste Aufräumeinheit bei den Schachteln meines Lebens starten. Denn, und jetzt halten Sie sich fest: Ich lagere im Keller noch eine komplette Einbauküche. Aber, das ist eine weitere Geschichte, die Nicole und ich, die selbst Marie Kondo nicht ohne den Sperrmüll lösen.
Eines aber habe ich beschlossen: Ist der Keller erst leer, wie angefordert, werde ich genauer überlegen, welche Schachteln ihn in den nächsten Jahrzehnten neu füllen dürfen. So gesehen ist das eine Chance. Und ich fühle mich tatsächlich bereits jetzt mobiler, beweglicher. Ein bisschen Ordnung im erweiterten Kellerselbst scheint doch beglückend und ein gutes Omen. Gespannt bin ich, welche Nachbarn ich dieses Wochenende in geteilter Verzweiflung über ihren Schachteln und Behältern kennenlerne. Ganz intim, von Parzelle zu Parzelle.