GEO: Sie sind Eisschwimmerin. Schon seit Jahren steigen Sie genau dann in Seen oder ins offene Meer, wenn andere Leute fröstelnd an Land bleiben. Was treibt Sie in dieses eiskalte Wasser?
Ich liebe es, diese Welt zu sehen. Da ist so viel Schönheit unter Wasser. Wo es warm ist, sehe ich Korallen und bunte Fische, in kaltem Gewässer hingegen gigantische Seesterne, so groß wie Teller. Robben und Seelöwen begleiten mich. Außerdem: Für mich liegt ein höherer Sinn darin, meine Erfahrungen mit Menschen zu teilen. Und ihnen dabei zu helfen, Ziele zu erreichen, die sie vielleicht nicht für möglich gehalten hatten.
Ziele wie die 2,2 Kilometer. Also mehr als eine Zahl?
Der Rekord war anfangs mein persönliches Ziel. Die Dokumentation "Ice Mermaid" begleitete mich dabei. Und durch die Dreharbeiten verschmolz mein Vorsatz mit dem Wunsch, zu zeigen, dass auch ein ganz gewöhnlicher Mensch ein Ziel erreichen kann, wenn er hart dafür arbeitet. Athletinnen, auch wenn sie nicht dem stereotypen Körperbild entsprechen. Menschen, denen sonst gesagt wird: Nein, das schaffst du nicht.
Was ist denn Ihre Geschichte?
Bevor ich Eisschwimmerin wurde, trainierte ich meistens im Schwimmbad. Damals war ich sehr viel schmaler als heute. Sobald ich etwas zunahm, sagte man mir: Pass auf, was du isst. Weil ich zu dick sei. Und wenn ich dann deswegen nicht mit dem Team essen ging, fragten mich alle, ob es mir gut geht.
Und dann ging es ins Meer.
Als ich begann, im offenen Wasser zu schwimmen, merkte ich: Hier kann ich sein, wer ich bin. Das Wasser sagt mir weder, ich sei zu dünn noch zu dick. Ich erinnere mich an diesen einen Moment: Es war frühmorgens, ich wollte noch vor der Arbeit schwimmen gehen. Die aufgehende Sonne färbte den Schnee auf den Bergen, das Wasser war wie Glas. Kein einziges Geräusch war zu hören. In dieser Sekunde tauchte Molly direkt neben mir auf.
Molly?
Eine der Seerobben, mit denen ich regelmäßig schwimme. Ich schaute sie an, sie blickte zurück – und in dem Moment dachte ich mir: Wäre ich dünner, wäre mir vielleicht früher kalt geworden und ich hätte nicht so lange im Wasser bleiben können. Wäre ich dicker, hätte ich eine andere Geschwindigkeit gehabt. Dank der Art, wie ich gebaut bin, bin ich genau dort, wo ich hingehöre. Da habe ich begonnen, mich selbst zu akzeptieren. Das Wasser hat mich befreit.

Sie sprechen vom Wasser, als wäre es eine Person.
Mein Verhältnis zum Meer ähnelt tatsächlich einer zwischenmenschlichen Beziehung. Es ist harte Arbeit, man muss Gefühle, Herz und Seele hineinstecken, damit etwas Gutes entsteht. Das Wasser lehrt mich, wie mein Körper in bestimmten Situationen reagiert – etwa bei einer starken Strömung oder starken Gezeiten, aber auch bei Wellen, die entweder auf natürliche Weise oder durch Schiffsverkehr entstehen. Ich lerne meinen eigenen Stoffwechsel kennen und die Art, wie mein Körper Wärme speichert. Außerdem hat mir das Wasser gezeigt, dass es einen höheren Zweck gibt, der über die Meinung fremder Menschen hinausgeht. Man bekommt so viele Dinge gesagt – und häufig glaubt man sie auch noch!
Das erinnert an einen Schlüsselmoment im Film: Eine fehlende ärztliche Unterschrift hätte Sie beinahe an Ihrem Traum gehindert.
Wer in derart kaltem Gewässer schwimmt, muss sich jedes Jahr ein medizinisches Formular ausfüllen lassen. Der Arzt, zu dem ich ging, sagte aber, ich sei "zu fett", um ohne zusätzlichen Stresstest zu schwimmen. Keine Frau möchte hören, dass sie fett sei. Ungefähr zehn Mal sprach er von "Fettleibigkeit" und nannte mich zwei weitere Male "fett". Er weigerte sich, das Formular zu unterschreiben – es sei denn, ich nähme mehr als 27 Kilogramm ab. Hätte ich das aber tatsächlich getan, wäre ich bei meinem Sport in Gefahr geraten, an Unterkühlung zu sterben. Ich ging also zurück ins Auto und weinte eine halbe Stunde lang. Mein Traum drohte zu zerplatzen – und ich konnte nichts dagegen machen.
Woher hatten Sie den Antrieb, dennoch weiterzumachen?
Schon immer funktioniere ich besser, wenn ich wütend bin. Ich dachte mir: Lieber scheitere ich, als es nie probiert zu haben. Also besuchte ich verschiedene Notfallaufnahmen, befragte jedes Gesundheitsamt, das ich finden konnte – und bekam ein gutes Dutzend Absagen. Am Ende kehrte ich zu einer Ärztin zurück, die mich früher schon einmal betreut hatte. Die Versicherung meines derzeitigen Jobs deckt ihre Behandlung zwar nicht ab, aber ich beschloss, sie aus eigener Tasche zu bezahlen. Sie arbeitet viel mit Athletinnen und kennt sich damit aus, inwiefern weibliche Körper anders funktionieren als männliche.
Auch die Ansprüche, die die Öffentlichkeit an weibliche Athletinnen stellt, sind andere.
Es gibt viele Stereotype dafür, was Frauen im Sport erreichen oder nicht erreichen können. Wir sollen in erster Linie Mütter sein und uns um unsere Kinder kümmern. Ich will zeigen: Man kann Mutter sein und gleichzeitig schwimmen, man kann eine erfolgreiche Karriere haben und zugleich eine Leidenschaft abseits der Arbeit verfolgen. Ich möchte Menschen die Augen öffnen und beweisen: Wenn sie das alles wollen – und nicht alle wollen es, aber wenn sie es wollen –, dann können sie es schaffen.
Wie machen Sie das?
Mittlerweile arbeite ich viel mit den Frauen in der Schwimmcommunity. Zum Beispiel motiviere ich sie dazu, unterschiedliche Schwimmanzüge durchzuprobieren. Sie sollen verstehen: Es ist egal, wie sie aussehen. Dem Wasser ist es egal, und mir ist es auch egal. Was uns verbindet, ist unsere Liebe zum Wasser.

"Ice Mermaid" erzählt von Melissa Keglers Geschichte und ihrem Rekordbruch. Die Dokumentation ist im neuen Programm der "International Ocean Film Tour" zu sehen, die aktuell durch Europa zieht. Termine und Tickets: https://de.oceanfilmtour.com/