Das vergessene Land
In Ostuni, der weißen Stadt, sitze ich im Restaurant "Porta Nova" neben einem Paar mittleren Alters. Die Frau ist eine Sarazenenschönheit, mit schneeweißer Haut, schwarzen Augen und Haaren, die blauschwarz und schwer über ihre Schultern fallen; der Mann hat sein dünnes Haar mit Gel frisiert, was seine Kopfhaut durchschimmern lässt. Sie bestellt Goldbrasse, er frittierte Meeresfrüchte. Sie unterhalten sich nicht. Ich genieße köstliches Kichererbsenmus
mit winzigen Peperoncini und eingelegten Tintenfischen. Schließlich geht die Sonne unter, über dem grandiosen Tal mit seinen Olivenbäumen und der roten Erde, der Mond steigt auf, als Halbsichel, wie im Kinderbuch, und auf den Hügeln erstrahlt plötzlich ein Lichterkreuz. Das ist der Augenblick, in dem die Frau ihrem Mann zuflüstert: "Jesus hat mich umarmt, ich habe es ganz genau gefühlt." Der Mann nickt nur und isst weiter.
Das vergessene Land
Es ist eine Schande, 15 Jahre lang in Italien gelebt zu haben, ohne Apulien und die Basilikata zu kennen. Die Olivenhaine zu Füßen von Ostuni. Das türkisfarbene Meer bei Santa Cesarea. Die rote Erde, die beweist, dass Italien einst ein Stück von Afrika war. Der honiggelbe Tuffstein mit den versteinerten Muscheln. Die Stille um das Castel del Monte. Das Rauschen des Meeres bei Otranto, wo nichts ist als steinerne Wachtürme, Feigenbäume und Mauern aus Feldsteinen. Aber nicht nur ich habe dieses Stück Italien lange unterschätzt. Die Italiener ebenso.
Neulich erlebte ich in meiner Bar in Venedig, wie ein Mann vom Urlaub im Salento schwärmte und niemand wusste, dass er von der Region um Lecce sprach, dem Absatz des Stiefels. Vielleicht war dies auch das Glück Apuliens und der Basilikata. Denn einst war der Süden Italiens begehrt: Griechen und Römer, Spanier und Araber kamen, eroberten, siedelten, wurden vertrieben. Dann herrschte Ruhe im Land, jahrhundertelang.
Entwicklung und Moderne geschah woanders
Entwicklung, Technik, Wirtschaft, Moderne - all dies geschah woanders, weit weg, im Norden. Noch heute sieht die Landschaft aus, als würde die Zeit mit Sonnenuhren gemessen; so karg und archaisch an manchen Stellen, als seien die Ritter des Heiligen Römischen Reiches erst gestern durchgezogen; an anderen so üppig und feudal, als sei sie im Barock stehen geblieben und strebe seither himmelwärts.
Und Orte, die klingen wie Filmtitel: Porto Badisco. Maratea. Calimera. Drei Meere wetteifern miteinander, das Tyrrhenische, das Ionische und das Adriatische. Die Adria ist hier so turmalinblau und glasklar wie nirgendwo sonst in Italien, mit Buchten von blaugrüner Unendlichkeit. Die Küstenstraße von Otranto nach Santa Maria di Leuca ist mindestens so ergreifend wie die Amalfitana und so elegant wie die ligurische Riviera - und dazu völlig unbekannt. Keine Reisebusse. Keine Campingplätze. Keine mit Sonnenschirmen parzellierten Strände. Dafür Fischerhäfen, in denen tatsächlich noch gefischt wird. Und bonbonfarbene Fin-de-Siècle-Palazzi exzentrischer Adeliger, die hier ihre Sommerfrische verbrachten.
Spröde erscheint die Basilikata dort, wo das Meer fern ist und das Auge sich verliert in der Weite sanfter Hügel und Getreidefelder. Es ist eine Weite, die selten nur von einem Telegrafenmast unterbrochen wird. Eine Basilikata, die zurückhaltend und überschwänglich zugleich sein will, etwa in den Lukanischen Dolomiten: theatralische Bergzüge, dichte Wälder und blühende Bergwiesen. Und wenn man mit keiner Überraschung mehr rechnet, dann taucht aus dem gelben Tuffstein geschnitten Matera auf, wie ein Jerusalem heutiger Tage.
Das Mittagstheater
Als ich in Martina Franca ankomme, ist alles still und das Licht weiß und gleißend. Kein Kindergeschrei, kein Quietschen von Autoreifen auf Pflastersteinen, kein Lachen, kein Streiten, kein Ciao Antonio come stai? - "Hallo Antonio, wie geht’s?" Nur das metallische Rattern von Rollläden ist zu hören. In einer Barockstadt wie Martina Franca eignet sich jede Straßenecke als Theaterbühne, auf der schon ein vorbeiwehendes Blatt Papier zu einem dramatischen Höhepunkt werden kann. "Die süditalienische Mittagsruhe" - so heißt das Stück, das gerade aufgeführt wird. Der Küster schließt das Portal der Basilika San Martino ab, neben dem Dom weht die rote Fahne der Gewerkschaft, und eine Sonnenuhr zeigt die Zeit an. Die Mittagspause dauert von eins bis fünf und ist heilig. Sogar die Hunde halten sich an die Regieanweisung, sie liegen in der Mitte der Gassen auf dem glänzenden Marmor und schlafen schnarchend.
Auf der von Säulen eingerahmten Piazza Maria Immacolata treten nun auf: der kahle Notar, der die Bühne mit gesenktem Kopf sehr schnell überquert, um pünktlich nach Hause zu kommen. Kaum ist er abgetreten, überquert der Maurer den Platz, ebenfalls sehr eilig. Ihm folgen mehrere alte Männer, vom Leben gebeugt und dennoch hastend. Denn sie wissen, dass ihre Frauen keinen Spaß verstehen, wenn sie nicht pünktlich am Tisch sitzen. Lange Zeit geschieht nichts. Ganz Martina Franca ist erstarrt. Kein Leben weit und breit. Bis auf eine blonde Dame mit Cartierohrringen, die in einer Bar mit Mailand telefoniert. Ich bin in Apulien, sagt sie, und es klingt wie: Ich bin in Feuerland. Schließlich stöckelt auch sie davon. Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier jemals wieder Leben einkehrt.
Aber plötzlich vertreiben Kirchenglocken die Stille, Rollläden fahren scheppernd hoch, Kinder laufend schreiend über den Platz, Hunde kläffen, Frauen begrüßen sich mit Küssen auf die Wangen, eine Stimme kündigt aus dem Lautsprecher auf einem Autodach eine Zirkusvorstellung an. Dahinter staut sich hupend der Verkehr, und die alten Männer, die mittags gebeugt nach Hause liefen, spazieren nun aufrecht und kichernd umher - erleichtert, ihren Ehefrauen entkommen zu sein.
Fischspezialitäten
Man kann wegen des Olivenöls kommen. Oder wegen der handgeformten orecchiette, Öhrchennudeln, mit gekochten Rübensprossen und Sardellen. Oder wegen der cocuzze alla poverella, der Zucchinischeiben, die frittiert und mit Essig, Knoblauch, Minze und Öl angemacht werden. Apulien ist der Himmel für Vegetarier. Aber. Der Fisch von Gallipoli! Nie werden wir den Seebarsch vergessen, den wir in Gallipoli essen durften. La spigola. Ohne Salz und ohne Pfeffer, ohne Öl und ohne Zitrone, nur: Seebarsch. Fein, mild - der Italiener an meiner Seite sagt: süß. In einem kleinen Restaurant auf dem Wall. Man kann dasitzen und den Fischern zuschauen, die ihre Netze flicken und ihre Boote mit Pech und Hanf abdichten. Ihre Hände sehen aus wie alte Gesichter. Diese Männer holen den Seebarsch aus den kühlen Tiefen des Tyrrhenischen Meeres. Vielleicht liegt es daran, dass er anders schmeckt als jener aus der flacheren Adria. Die Apulier sagen: Den besten Fisch Italiens findet man in Gallipoli. Wir hielten das für Lokalpatriotismus. Falsch, total falsch.
Hochwürden und die Märtyrer
Höllenhunde mit Teufelsschwänzen und den Brüsten einer Frau, fischschwänzige Männer, auf Zentauren reitende Könige, Schlangen, die alles verschlingen, mit Knochen und Schädeln gefüllte Fensternischen hinter einem Altar - ein Bild wie ein Triptychon. Und davor steht ein junges Mädchen, das sagt: Ich wollte Ihren Segen, Monsignore. Sie wird von einem jungen Mann begleitet, der dünn ist und sich hinter ihr versteckt. Wir stehen in der Kathedrale Santa Maria Annunziata von Otranto, am Büchertisch neben der Sakristei. Die Kutte des Priesters ist fleckig, seine Stirn besteht aus zwei Querfalten, seine Augenbrauen sind weiß und stachelig, und während er von der Befreiung von den Türken spricht, fasst er uns leicht am Unterarm an, das Mädchen und mich, ganz so, als mache er uns eine vertrauliche Mitteilung. Er spricht nicht, er kaut seine Sätze, die Sätze über Ahmed Gedik Pascha, jenen türkischen Großwesir, der das Abendland erobern wollte und in Otranto 800 Gefangene enthaupten ließ - Märtyrer, die, wie der Priester sagt, am 14. August 1480 von den Türken auf dem Hügel der Minerva abgeschlachtet wurden.
Weiter spricht er über die Wiedergeburt der christlichen Zivilisation und darüber, dass viele Frauen aus Otranto als Sklavinnen in der Türkei endeten. Damit wir die Tragweite des Geschehenen auch wirklich erfassen, fügt er flüsternd hinzu: Es war wie der 11. September. Endlich kauft das Mädchen ein Buch über die Märtyrer von Otranto, und der Priester schreibt eine Widmung hinein: Mit kleinen, engen Buchstaben wünscht er viel Glück und Segen für ihre Ehe, und als sich das Mädchen bei ihm bedankt, sagt er: Kommen Sie mich doch öfter besuchen.
Er hatte eine so junge Stimme, sagt schwärmerisch die alte Frau, als sie drei rote Nelken niederlegt. Ich nicke, als klinge seine Stimme auch in meinen Ohren, die Stimme des Tenors Tito Schipa, der in Lecce in schwarzpoliertem Marmor ruht, gleich am Anfang des Friedhofs, neben der Kirche von San Niccolò e Cataldo - inmitten des Duftes von Lilien, Oleander und Zypressen. Es gibt keine Stadt in Apulien, die nicht eine Straße nach dem Tenor Tito Schipa benannt hätte. In Lecce tragen ein Konservatorium und ein Platz seinen Namen, in Gallipoli ein Kino und ein Theater. Er war ja auch bekannter als Rodolfo Valentino, sagt die Frau, als erkläre dies alles.
Glitzernde Helden
Tito Schipa und Rodolfo Valentino - glitzernde Helden jener Tage, als man aus Apulien emigrieren musste, um Arbeit zu finden. Das Sehnsuchtsziel hieß "L’America". Rodolfo Valentino schlug sein Landwirtschaftsdiplom in den Wind und machte sich aus dem apulischen Dorf Castellaneta auf, um in Amerika den Grundstein für den Mythos vom Latin Lover zu legen. Als er mit nur 31 Jahren in New York seine kajalgeschminkten Augen für immer schloss, erfasste Amerikas Frauen eine Selbstmordwelle. Tito Schipas Talent wurde schon in Lecce entdeckt, von niemand Geringerem als dem neapolitanischen Erzbischof Gennaro Trama. Bereits mit 19 Jahren sang Tito Schipa vor dem spanischen König, er wurde umworben von Puccini und bewundert von Gabriele D’Annunzio. Die größten Erfolge aber feierte auch er in Amerika. In Hollywood hielt er Hof. Anders als Rodolfo Valentino war Tito Schipa ein langes Leben beschieden, er starb 1965 in New York, nach 57 Jahren Bühnenkarriere. Aber begraben werden wollte er in Lecce, sagt die alte Frau.
Castel del Monte
Man sieht es schon von weitem. In der Ferne ragt es aus der Einsamkeit. Ein Zauberer muss hier wohnen, ein Hexenmeister mit Sinn für strenge Schönheit. Etwa 20 Jahre wurde an dem Kastell Friedrichs II. gebaut, des Staufers und römisch-deutschen Kaisers, den man stupor mundi nannte: das Staunen der Welt. Rings um das Kastell dehnt sich das Land in sanften Wellen mit Olivenbäumen und Getreidefeldern, und am Horizont leuchtet das Meer. Je näher man der Burg kommt, desto demütiger wird man. Wind rauscht, ein Vogel flattert auf, eine Frau sagt: ah, che panorama, und selbst das klingt hier anders - geheimnisvoller, mystischer. Eine achteckige Burg mit acht achteckigen Türmen. Vom Innenhof blickt man in einen achteckigen Himmel. Es ist eine Burg ohne Graben und Zugbrücke, es gibt weder Pechnasen noch Stallungen.
Ob es ein Jagdschloss war? Oder ein esoterischer Ort, Resultat numerologischer Spekulation? Weil "Federico" aus acht Buchstaben besteht? Oder ist es das Resultat der Quersumme aus dem Geburtsdatum von Friedrich II.? Castel del Monte - ein Rätsel bis heute. Fest steht, dass die Seele in den Klammergriff genommen wird, wenn man hier steht. Und man fragt sich, warum man nicht früher gekommen ist.
Blinkende Straßenlaternen
Als ich nachts die Brücke überquere, welche die im Meer schwimmende Altstadt von Gallipoli mit der Neustadt verbindet, fangen die Laternen auf der Brücke an zu blinken. Strommangel? Aber wie kann es sein, dass diese Straßenlaternen dann in einem Rhythmus flackern? Oder kündigt das Lichterspiel eine Prozession an? Hat es etwas mit dem Hafen zu tun? Erst am nächsten Morgen bemerke ich eine Inschrift auf der Brücke: "Diese Straßenlaternen sind mit der Säuglingsstation des städtischen Herz-Jesu-Krankenhauses verbunden. Jedes Mal, wenn das Licht blinkt, zeigt es die Geburt eines Kindes an. Dieses Werk ist ihm gewidmet: dem heute in dieser Stadt Geborenen."
Matera
Der deutsche Tourist sei ein gebildeter, aber verblendeter Tourist, sagt die deutsche Führerin, die mich durch Matera geleitet. In den 1980er Jahren hätten sich die Teilnehmer vieler deutsche Reisegruppen beklagt, wenn sie durch die halb verfallenen sassi geführt worden seien, jene Höhlenwohnungen im Bauch von Matera, die damals noch nicht renoviert und klimatisiert waren, sondern voller Unrat, überwuchert von Unkraut und von streunenden Katzen bevölkert. Man müsse Matera aus dem Programm nehmen, habe es damals geheißen: zu schmutzig und heruntergekommen.
Heute beschwert sich niemand mehr. "Man muss es nur etwas aufputzen, schon kann man die Leute manipulieren", sagt die Führerin geringschätzig und presst die Lippen zusammen. Schon laufen wir weiter durch die sandfarbene Stadt, die Wüstenstadt, Steinstadt, Bibelstadt und Lieblingsstadt der Filmregisseure. Über uns kreisen Turmfalken und Schwalben, letztere manchmal so nah, dass man ihre weißen Bäuche sehen kann. Die Führerin ist wieder Führerin und zeigt Felsenkirchen, die zu Weinkellern wurden, sie jongliert mit Zahlen, nennt gut 15.000 Einwohner, die Anfang der 50er Jahre noch hier wohnten, und 60 Felsenkirchen. Sie bietet den Dom in apulisch-romanischem Stil auf, dazu neolithische Anlagen und Basilianer-Mönche, die in den Höhlen Zuflucht vor dem Bilderstreit fanden, der ihnen die Ikonenmalerei verbot.
Sie fasst zusammen: von der Nationalschande zum Nationaldenkmal. Erst vom italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi zum nationalen Schandfleck, dann von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Sie beschwört Hungersnöte, Säuglingssterblichkeit, Carlo Levis "Christus kam nur bis Eboli" und Kreuzigungsszenen von Pasolini und Mel Gibson. Dann bemerkt sie süffisant, dass heute nur noch die reichen Söhne der Stadt in den sassi lebten. Damals aber, als hier noch keine Schickeria wohnte, sondern Hausbesetzer, da habe auch sie in den sassi gelebt. Aber den deutschen Reisegruppen habe sie das nie erzählt.
Maratea und der Conte Rivetti
Man hat dem Erlöser die Fußnägel lackiert, lila, mit Graffiti-Spray. An seinen Fingerspitzen stecken Blitzableiter. 22 Meter hoch ist die größte Christusfigur Europas, mit ausgebreiteten Armen steht sie auf dem Monte San Biagio - hoch über Maratea, dem lukanischen Küstenörtchen, das mit seinen 44 Kirchen sein spirituelles Soll eigentlich übererfüllt hat.
Wilde Küstenabschnitte
Die Küste ist wild und schroff und zugleich von jener Sanftheit, die einen Strand formidabel macht, besonders, wenn man ihn bequem über Treppen erreichen kann. Wenn dann noch Sonnenschirme und Liegen hinzukommen, vielleicht auch Duschen und eine kleine Trattoria, dann ist das Glück perfekt. Das mag auch der Conte Oreste Rivetti gedacht haben, ein Wollfabrikant aus Biella, von dem man in Maratea spricht wie vom König Drosselbart.
Er kam mit seinem Sohn Stefano vor 50 Jahren nach Maratea, um hier, dank der Subventionen für den unterentwickelten Süden, eine Fabrik zu eröffnen. Marateas Schönheit allein hatte seine Einwohner nicht ernähren können - die meisten waren ausgewandert, nach Brasilien und nach Amerika. Der Conte beschränkte sich nicht darauf, seine Fabrik und etwas Landwirtschaft zu betreiben, er sah die Zukunft im Tourismus. Zusammen mit seinem Sohn kaufte er ein Hotel, er erschloss Strände und eröffnete ein Fremdenverkehrsamt. Später, im Jahr 1965, baute sein Sohn Stefano die 22 Meter hohe Christusstatue. In der Grotte zu ihren Füßen ruht heute seine Asche.
Pizzica
"Ich weiß nicht", sagt Patrizia, Apulierin reinsten Blutes, in Maglie aufgewachsen und heute in Torre dell’Orso wohnend, wo jeden August ein Pizzica-Festival stattfindet. "Früher spielten das die Betrunkenen. Und heute soll das eine Erfindung des Südens sein? Beh." Patrizia wundert sich, dass die Pizzica im Sommer neuerdings ganz Apulien befällt: Kaum eine Stadt kommt ohne Pizzica-Festival durch die Saison, das wichtigste veranstaltet Melpignano, die Pizzica erklingt manchmal sogar am Ende einer Prozession - bis sich beim Pfarrer Konfusion darüber breit macht, ob die so genannten Punkbestien, die treuesten Fans der Pizzica, etwa tatsächlich für den Heiligen Oronzo aus Norditalien angereist sind.
Die Pizzica Tarantata klingt wie Bob Marley, der Reggae singt, dabei einen irischen Steptanz aufführt und das Tamburin schwingt. Kaum eine andere Ethnomusik ist in Italien so erfolgreich wie die Pizzica: Konzerte von Gruppen wie "Sud Sound Systems", Pizzica-Reggae könnte man ihren Stil nennen, sind ausverkauft. Ein junger apulischer Regisseur, Edoardo Winspeare, hat vor wenigen Jahren den Ursprung der Musik in einem Film verewigt: den legendären Taranteltanz. Pizzica kommt von pizzicata, was so viel heißt wie: von der Tarantelspinne gebissen. Eigenartigerweise wurden vor allem Frauen gebissen, die das Gift dann durch stundenlanges, rhythmisches Stampfen neutralisieren wollten - was schließlich in einer Ohnmacht mündete.
Exorzismus oder Ekstase? Auf jeden Fall findet man überall in Apulien Bilder aus den 1950er Jahren, die am Boden liegende Frauen zeigen - am Ende einer pizzica bewusstlos Niedergesunken. Wenn Patrizia als Kind in Maglie Frauen sah, die den Taranteltanz tanzten, habe ihre Mutter immer nur gesagt: Geh da bloß nicht so nah ran, die haben zu viel getrunken. Heute jedoch bedeute die pizzica Sonne, Lebensfreude, das Mittelmeer. Komisch, eigentlich.