Eine Rundreise ist in Vietnam auch eine Längsreise. Das Land ist ein Lulatsch, lang und dünn, es erstreckt sich 1650 Kilometer von Nord nach Süd und stellenweise nur 50 Kilometer von West nach Ost. Ich will mir die Highlights von Nord- und Zentralvietnam in Kompaktform anschauen, indem ich ein Auto mit Fahrer miete – der aus logistischen Gründen jeden Tag wechselt – und mich gemütlich von Station zu Station bringen lasse.
In der berühmten Halong-Bucht war ich vor einigen Jahren schon einmal, diesmal will ich unbedingt die »trockene Halong-Bucht« bei Ninh Binh sehen. Also führt meine Route von der Hauptstadt Hanoi bis Hoi An in Zentralvietnam. 820 Kilometer in fünf Tagen. Auf dem Weg liegen der Nationalpark Phong Nha-Ke Bang, die alte Kaiserstadt Hue, die Laternenromantik von Hoi An. Also: Di thoi! Auf geht’s, hier lang!
Tag 1: Hanoi bis Ninh Binh
Nguyen Xuan – das klingt für deutsche Ohren ähnlich sperrig wie Karl-Heinz für vietnamesische. Wer in Vietnam mit Touristen zu tun hat, gibt sich deshalb gern eingängige Fantasienamen. Der Concierge im Hotel nennt sich Mr. Top, der Kellner im Restaurant Mr. Tiptop, und der Chef des Reisebüros, bei dem ich meine Tour gebucht habe, unterschreibt seine E-Mails mit Mr. Ethan Hunt – so heißt Tom Cruise in »Mission Impossible«. Wie wohl der Fahrer heißt, der mich in Hanoi am Hotel abholt? Mr. Sebastian Vettel? »Hallo, ich bin Luke«, sagt er, »wie Luke Skywalker aus ›Star Wars‹«. Leider hat sein Auto, eine neue japanische Mittelklasse-Limousine mit Klimaanlage, keinen Hyperraumantrieb. Schade, denn der Morgenverkehr ist Wahnsinn. Alle acht Millionen Einwohner Hanois scheinen gleichzeitig unterwegs zu sein, mit Mopeds, Fahrrädern, Autos, Bussen, Tuk-Tuks oder zu Fuß.
Als das tägliche Verkehrschaos der Metropole endlich hinter uns liegt, wird es ländlicher. In der Region Ninh Binh, 90 Kilometer südlich von Hanoi, ragen karstige Kalkkegel aus hellgrünen Reisfeldern auf. Sie ähneln den Felsen der Halong-Bucht an der Nordküste Vietnams, befinden sich aber im Binnenland, deswegen wird das Gebiet auch »trockene Halong-Bucht« genannt – auch wenn es durchzogen ist von Seen und Flüssen.
Der Ausflug beginnt im Dorf Gia Van mit einer Radtour in Richtung Naturschutzgebiet Van Long. Mein Guide heißt überraschenderweise nicht Mr. Lance Armstrong, sondern Nguyen Dung. Nach einer Stunde auf dem Rad steigen Dung und ich um in einen Holzkahn, der von einer winzigen alten Frau mit einer Stange durch das flache Wasser gestakt wird. Nur die Augen und Nase meiner Gondoliere sind zu sehen. Der Rest ist unter Strohhut, Tüchern und Kleidern versteckt – textiler Sonnen- und Mückenschutz. Durch Schilf und Lotus fahren wir ganz nah an die Kalkfelsen heran, auf denen im Frühjahr Störche nisten. Mit etwas Glück sieht man, wie sich seltene Delacour-Languren an Bäumen entlanghangeln, sie heißen auf Englisch »White Short Monkeys«, wegen des weißen Fells an den Oberschenkeln. Nur noch etwa 250 dieser Tiere existieren, die Hälfte davon lebt in Van Long. Berühmt geworden ist die Landschaft allerdings durch einen viel größeren Affen: King Kong. Im Film »Skull Island» (2017) dient Van Long als Kulisse für das Riesenvieh. »Das Beste an dem Streifen ist die Landschaft«, sagt Dung. »Aber die Story, na ja, überhaupt kein Tiefgang!«
Genau wie das flache Holzboot, in dem wir sitzen. Das Wasser ist nicht mal einen Meter tief. Die Steuerfrau bugsiert den Kahn geschickt an den Felsen vorbei in eine Höhle. Dort herrscht gerade Verkehr wie in Hanoi: Eine Busladung vietnamesischer Touristen ist in rund 20 Booten mit dem Anfertigen von Selfies beschäftigt. Wir drehen ab und machen uns auf den Rückweg. Nass geschwitzt von der Radtour, komme ich im Hotel an. Bin gespannt, wie der Koch im »Organic Restaurant« heißt. Mr. Paul Bocuse?
Tag 2: Ninh Binh bis Son Trach

Der Fahrer an diesem Tag heißt Giang. Er spricht kein Englisch, trägt eine riesige Sonnenbrille und hat einen rot lackierten Nagel am kleinen Finger der rechten Hand. Im Auto läuft acht Stunden lang ein und dieselbe CD mit vietnamesischem Elektropop, es klingt wie Modern Talking auf Speed. Eine Buddhafigur auf dem Armaturenbrett wacht über unsere Reise. Es geht gut 400 Kilometer in Richtung Süden, zunächst quer durch die Hügellandschaft von Ninh Binh, vorbei an Seen, auf denen Fischerboote dümpeln und violette Seerosen blühen.
An der Pagode Bai Dinh, 20 Kilometer westlich von Ninh Binh, machen wir einen Zwischenstopp. In einem weitläufigen Park mit Aussicht auf den See stehen buddhistische Tempel zwischen Palmen. Der älteste Bereich stammt aus dem Jahr 1136, am neuesten wird noch gearbeitet. Ein reicher Bauunternehmer aus Ninh Binh hat die gigantische Tempelanlage gestiftet, sie umfasst 700 Hektar und soll einmal die größte Pagode Vietnams werden, wenn sie 2020 fertiggestellt sein wird. Am Eingang wachen zwei Bronzefiguren, jede 30 Tonnen schwer, die Führerin, die ich für den Rundgang gebucht habe, stellt diese der Einfachheit halber als Mr. Good und Mr. Evil vor. Und sie lässt keinen Zweifel aufkommen, dass der Stifter ein Mr. Supergood ist.
Eine Stunde später bin ich zurück im Auto, Giang dreht die Klimaanlage und die Trashmusik auf, ich schaue aus dem Fenster: Pagoden, Reisfelder, Zementfabriken, Dörfer mit Kirchen im europäischen Stil. Die Franzosen unternahmen während der Kolonialzeit große Anstrengungen, um die Bevölkerung Indochinas zu katholisieren. Doch dieser Mr. Jesus hat sich nicht so richtig durchgesetzt. Es gibt deutlich mehr Buddhisten als Christen. Aber die meisten Vietnamesen sind Atheisten. Woran Giang glaubt, weiß ich nicht, an Verkehrsregeln jedenfalls nicht.
Bei der Ankunft in Son Trach, einem Dorf am Eingang zum Nationalpark Phong Nha-Ke Bang, geht ein tropisches Gewitter nieder. Innerhalb von Minuten verwandelt sich die Straße in einen rotbraunen Sturzbach. Giang fährt unbeirrt weiter, bis wir am Ziel sind, dem Phong Nha Mountain House, einer privaten Unterkunft neben einem Ententeich und mit Blick auf die Berge. Ich wohne in einem Holzhaus, das auf Stelzen ruht. Das Gewitter ist schnell vorbei, zum Sonnenuntergang sitze ich draußen am Flussufer, trinke ein Saigon-Bier und fühle mich ganz genau so, wie die Bar heißt: »Lucky Lucky«.
Tag 3: Son Trach bis Hue
Um sechs Uhr morgens bringt meine Gastgeberin Ai das Frühstück auf die Terrasse: Pfannkuchen mit Mango, kunstvoll geschnittene Ananas, leckeren vietnamesischen Filterkaffee. Es geht früh los, Ais Bruder Dieu fährt mich mit dem Auto auf der Victory Road in den Dschungel. Am Vormittag sind die Temperaturen noch angenehm. Unter 30 Grad. Über dem Asphalt schwirren Schwärme weißer Schmetterlinge. Man hört exotische Vögel singen, rundum blühen Orchideen – so ungefähr muss es wohl im Paradies gewesen sein.
Aber ruhig und friedlich ist hier in Wirklichkeit gar nichts. »Vor einigen Jahren ist ein Tiger in den Ort gekommen und hat eine Kuh gerissen«, erzählt Dieu, danach wurde das Raubtier erschossen. Ob noch Tiger in dem weitläufigen Waldgebiet leben, das sich bis zur 30 Kilometer entfernten Grenze zu Laos erstreckt, ist nicht gesichert. Aber es gibt auf jeden Fall Malaienbären und bis zu zehn verschiedene Affenarten. Von denen hört man ab und zu ulkige Geräusche, aber man sieht sie selten. Zikaden veranstalten einen Wahnsinnslärm, als Dieu das Auto stoppt und ich am Parkplatz der Paradise Cave aussteige, der wahrscheinlich längsten Höhle Asiens. 31 Kilometer tief soll sie sich in den Berg winden, schätzen Forscher. Ich stapfe erst einmal über Hunderte Steinstufen den Berg hoch bis zum Eingang, über hölzerne Stege und Treppen geht es 300 Meter weit in die Höhle hinein. Angenehm kühl ist es hier. Über hölzerne Treppen steige ich immer weiter hinunter, vor mir breitet sich eine feierliche Szene aus: ein kathedralenartiger Raum mit festlich beleuchteten weißen Tropfsteingebilden. Schülergruppen drängeln sich kichernd an die Geländer, uniformierte Höhlenwächter passen auf, dass niemand seinen Namen in die Stalagmiten und Stalaktiten ritzt.
Nach einer Stunde Staunen steige ich wieder ins Auto. Die Fahrt geht weiter in den Süden, vier Stunden Fahrt und 230 Kilometer Straße liegen vor uns – an vielen Stellen ausgepolstert mit Stroh: Die Reisernte ist im Gang, Bauern werfen die Garben über die Leitplanken, Helfer transportieren sie mit Handkarren ab.
Als ich in Hue ankomme, ist es bereits dunkel. Es ist Wochenende und die Vo-Thi-Sau-Straße für Autos gesperrt. Eine Band spielt vietnamesische Schlager, Großfamilien und Touristen tanzen und singen auf der Straße. Junge Vietnamesinnen in Glitzerkleidchen flirren an den Cafés vorbei, sie erinnern mich entfernt an die bunten Schmetterlinge, die ich am Morgen noch im Dschungel beobachtet habe. Aber die Schmetterlinge haben nicht dauernd Selfies geknipst.
Tag 4: Hue bis Hoi An

Es ist recht einfach, sich in Hue zurechtzufinden. Der Stadtplan ist schnell zu verstehen. Vietnam – heute Sozialistische Republik – war bis zur Revolution im Jahr 1945 eine Monarchie, und Hue war von 1802 bis 1945 Hauptstadt des Landes. Die Zitadelle wurde komplett rechtwinklig angelegt, die neue Stadt wuchs darum herum. Von meinem Hotel zum Palast sind es 20 Minuten zu Fuß, das ist gut zu schaffen, besonders wenn man einen kurzen Zwischenstopp macht und einen café da bestellt, süßen, schwarzen, kalten Kaffee mit Eiswürfeln.
Die Zitadelle ist von kilometerlangen Wassergräben und Mauern umgeben. Im Teich hinter dem Haupttor schwimmen Tausende Kois, fett gefüttert von den Besuchern. Im Thronsaal ist Fotografieren verboten, Touristinnen in Miniröcken und Tanktops sind in den Tempeln und Palästen offiziell nicht erwünscht. Hue hat einen Dresscode für die historischen Stätten eingeführt. Souvenirstände mit Plastikventilatoren, Fächern und Softdrinks gibt es im Palast trotzdem an jeder Ecke. Als ein französischer Tourist vor der Sänfte der Königinmutter steht, sagt er: »Na ja, da würde ich jetzt auch gern einsteigen und mich rumtragen lassen. Aber wir sind ja nur einfaches Fußvolk.«
Hoffentlich bemerkt er nicht, dass ich mich gleich von meinem Chauffeur abholen lasse, der sich diesmal als Mr. Jonny vorstellt. Mr. Jonny bringt mich von Hue nach Hoi An, 120 Kilometer weiter südlich an der Küste gelegen. Die Route geht über den Hai-Van-Pass, den Wolkenpass, der so heißt, weil oben auf dem Berg die Wetterscheide zwischen dem nördlichen und dem südlichen Vietnam liegt. An diesem Nachmittag ist der Wolkenpass aber ein Sonnenpass mit fantastischer Aussicht auf die Küste, die Berge und die Großstadt Da Nang. Wir fahren eine Stunde lang an Hochhäusern und Baustellen vorbei, bis die Gebäude wieder niedriger aussehen und es wieder grüner wird. Am Ziel leuchten viele bunte Lichter im Dunkeln: Hoi An, die Stadt der bemalten Laternen.
Tag 5: Hoi An

Hoi An ist eine verhältnismäßig kleine Stadt mit 90000 Einwohnern und schätzungsweise doppelt so vielen bemalten Laternen aus Papier und Stoff. Sie erinnert mich ein bisschen an Venedig: Flüsse und Kanäle, Brücken und Gassen, japanische Reisegruppen, Souvenirshops und Eisdielen. Und vor allem: keine Autos, keine Mopeds. Nur Lieferanten und Fahrradrikschas dürfen durch das historische Zentrum fahren, ansonsten ist alles Fußgängerzone. Es herrscht striktes Hup-Verbot, die romantische Stimmung mit den Laternen soll schließlich nicht kaputt gemacht werden. Doch die Rikscha-Fahrer wissen sich zu helfen: Wenn es eng wird, rufen sie »Biepbiepbiep!« oder »Lalülalülalü« – wie Kinder, die Polizei spielen.
Vielleicht liegt es an dieser lustigen Kindergarten- Atmosphäre, vielleicht an den Häuschen, die in den Farben reifer Mangos gestrichen sind, vielleicht an Banh Bao, den mit verschiedenen Köstlichkeiten gefüllten Ravioli – jeden- falls ist Hoi An für mich die schönste Stadt Vietnams. Zumal man in 20 bis 30 Minuten gemütlich zu einem Strand mit weißem Sand und erstklassiger Bewirtung radeln kann. Vom »DeckHouse« am An Bang Beach sehe ich bei einem mango- und rumhaltigen Cocktail dem Sonnenuntergang zu und kann gar nicht glauben, dass meine Reise schon wieder zu Ende ist. Irgendwann muss ich wiederkommen und für ein paar Wochen bleiben!
Am Ende der Fünftagestour fährt mich Mr. Tom abends zum Flughafen. Er spricht sehr gut Englisch, deshalb bitte ich ihn, mir zu erklären, warum er ausgerechnet Mr. Tom heißt. »Die Firma gibt uns einfach Namen, sie legt fest, wer Mr. Tom und Mr. Jonny ist.« Sein richtiger Name sei Bao, das bedeute Taifun. »Meine Mutter hat mir den Namen gegeben, weil ich während eines Taifuns auf die Welt kam.« Eigentlich viel schöner als Mr. Tom.