Einstimmen
Man stelle sich vor, ein Architekt verliert die Nerven und baut alle Entwürfe, die er jemals gemacht hat, nebeneinander. Nicht viel anders sieht es in der Innenstadt aus (www.visitbirmingham.com). Interessanterweise verleiht dieser Wirrwarr an Baustilen der zweitgrößten Stadt Englands nicht nur Charme, sondern führt auf engem Raum auch durch deren bewegte Geschichte. Reisende kommen gleich in der Zukunft an. Wie ein dreiwabiges Ufo erscheint der wichtigste Bahnhof außerhalb Londons, die New Street Station, mit ihrem gigantischen Shoppingkomplex. Von hier aus geht es sternförmig von Queen Victoria, über die industrielle Revolution zurück in die Zukunft.
Ansehen und Erleben
Das geografische Herz ist der prunkvolle Victoria Square. Flankiert von romanisch anmutenden Gebäuden, in denen das Rathaus sowie das Konzerthaus Birmingham Town Hall untergebracht sind, ist der Platz mit seinen viktorianischen Blumenterrassen ein beliebter Ort, um zu pausieren, bevor es zum Shoppen in die angrenzende New Street geht. Fast genauso schön ist der Chamberlain Square. Weitere Mitglieder der Platzkulisse in zweiter Reihe: die Birmingham Museum and Art Gallery (www.birminghammuseums.org.uk) auf dem Chamberlain Square und die Library of Birmingham. Die Bücherei ist für viele Brummies, wie die Einwohner Birminghams genannt werden, ein Symbolbild für den Wandel ihrer Stadt, denn sie entstand 2013 aus einem einst mausgrauen Betonbau. Das Gebäude mit der markanten schwarz-goldenen ornamentalen Fassade beherbergt 400 000 Bücher und bedeutende Sammlungen wie die erste Gesamtausgabe von William Shakespeares Dramen. Sie gilt als größter kultureller öffentlicher Raum in Europa, hat ein Amphitheater sowie einen Dachgarten mit großartigem Blick über die Stadt (Centenary Square, www.libraryofbirmingham.com). Rund 15 Minuten sind es von hier zu Fuß in Europas bedeutendste Schmuckschmiede. Das Jewllery Quarter ist ein Mosaik aus früheren Arbeiterhäusern und kleinen Juweliergeschäften. Anfang des 20. Jahrhunderts waren hier rund 30 000 Menschen beschäftigt, noch entsteht hier 40 Prozent des britischen Schmucks. Fast 200 Häuser stehen unter Denkmalschutz, das Viertel ist ein sogenannter Ankerpunkt des europäischen Industriepfads. Sehr unterhaltsame und informative Touren bietet das kleine Museum of the Jewllery Quarter in der ehemaligen Schmuckschmiede Smith & Pepper. Hier ist alles noch so, wie es die letzten Angestellten 1981 verlassen haben. Handschriftliche Bestellungen stapeln sich auf dem Tisch, und die Arbeitsschuhe des Chefs stehen in der Ecke (Vyse St 75-80, www.jewelleryquarter.net). Ein ähnliches Konzept verfolgt das 2014 eröffnete Coffin Works auf dem Fabrikgelände der Newman Brothers. Bis in die 90er-Jahre stellten sie Griffe, Plaketten und Stoffe für Särge her – auch den für Winston Churchill. Die interaktive Führung nimmt die Besucher mit in die Zeit, als Birmingham noch das industrielle Herz Englands war (Fleet St 13-15, www.coffinworks.org).
Direkt vor der Tür liegt mit dem Birmingham and Fazeley Canal ein weiterer Zeitzeuge. Das Kanalsystem (OLD MAIN LINE) wurde einst etabliert, um die Stadt mit umliegenden Fabrikstädten wie Dudley oder Walsall zu verbinden. Heute werden die über 160 Wasserkilometer für Freizeitaktivitäten genutzt. Die Gegend rund um das alte Gas Street Basin ist beliebt bei Anglern, Spaziergängern und Besuchern des Pubs Tap & Spile, der seit 1821 den Kanal überblickt (Gas St 16, www.tapandspilerestaurant.co.uk). Auch hier regiert der Mix aus Alt und Neu. Die einstigen Speicherhäuser, Brücken und Anlegestellen sind restauriert, ebenso die flachen Kanalboote, mit denen Besucher das Wassergeflecht entdecken können. Dennoch hat man sich nicht gescheut, mit dem National Sea Life Centre einen Koloss aus Stahlplatten dazwischen zusetzen. Vor dieser Gentrifizierung haben sich die jungen Kreativen ans andere Ende der Stadt geflüchtet. In den Innenhöfen und Straßen zwischen Digbeth/Irish Quarter entstehen unabhängige Modelabels, Medien Start-ups und viel Street Art. Es lohnt ein Streifzug durch die Custard Factory, das Zentrum der jungen Brummie-Bewegung (Gibb St, www.custardfactory.co.uk).
Essen & Trinken
In den 1970er-Jahren wurde Balti von indischen Einwanderern in Birmingham erfunden und ist seither eine kulinarische Größe. Die Currys werden im eisernen Wok zubereitet, der noch brutzelnd auf dem Tisch landet. Eins der ältesten Balti-Restaurants der Stadt, in Familienhand und bis zum frühen Morgen geöffnet, ist das Shababs (Ladypool Road 163-165, www.shababs.co.uk).
Den Eingang säumt ein romantischer Innenhof, dann folgt der Gastraum mit offener Küche. Serviert wird im The Kitchen Garden Café feinste Naturkost wie der Kürbis-Ziegenkäse-Salat. Freitags gastieren die Köche Paul & Jo im Kitchen Café und kredenzen Mehr-Gänge-Menüs (York Rd 17, www.kitchengardencafe.co.uk).
Der Digbeth Dining Club ist das beste Street-Food-Event der Stadt. Karibische Fischgerichte oder feinste Burger mit Blauschimmelkäse – nahezu alles Denkbare wird aus den Foodtrucks um einen alten Bahnübergang heraus verkauft. Unter den Gleisen sorgen DJs für Bewegung nach dem Essen (Lower Trinity St, www.digbethdiningclub.com, freitags ab 17.30 Uhr).
Hinter dem Tresen von The Edgbaston stehen nur preisgekrönte Bartender. Ihre Kreationen verzieren sie mit flambierten Marshmallows oder stecken sie unter eine mit Rauch gefüllte Glasglocke. Wer nicht mehr gehen möchte oder kann, mietet sich eins der sechs Zimmer des angeschlossenen Hotels (Highfield Rd 18, www.theedgbaston.co.uk, DZ/F ab 137 €).
Schlafen
Große Zimmer, eine kleine Gartenanlage und ein auf britische Küche spezialisiertes Restaurant sind gute Argumente für das kleine Stadthotel The Eaton (www.eatonhotel.co.uk, DZ/F ab 77 €).
Zentraler geht es nicht: Die Apartments von Staying Cool at the Rotunda befinden sich in einem gläsernen Turm in der New Street mit tollem Blick über die Dächer der Stadt (www.stayingcool.com/birmingham, DZ ab 125 €).
Hotel du Vin: Eine viktorianische Villa im Jewellery Quarter; frei stehende Badewannen, Ledersessel und hohe Decken. Mindestens einen Abend sollte man im Restaurant verbringen (www.hotelduvin.com, DZ/F 160 €).