Dass der Kranich in Deutschland wieder heimisch wurde, ist eine der großen Erfolgsgeschichten des Vogelschutzes: Waren es in den 1970er-Jahren nur etwa 800, ziehen heute wieder rund 11.000 Brutpaare jedes Jahr in Deutschland ihren Nachwuchs groß. Zigtausende weitere ziehen auf ihrer Reise von Skandinavien und dem Baltikum nach Frankreich und Spanien durch.
Doch der aktuelle Ausbruch der Vogelgrippe trübt die Freude – nicht nur, weil schon mehr als 13.000 der imposanten Tiere an der Virusinfektion gestorben sind: Die Berichterstattung und die Diskussionen über den Schutz von Hühnern, Puten und Gänsen lassen das Bild entstehen, ziehende Wildvögel wie Gänse und Kraniche seien die treibende Kraft hinter dem aktuellen Ausbruch.
So erklärte der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft unter Berufung auf Daten des Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit (IFL) im Oktober: "... der Subtyp H5N1 dominiert derzeit bei Wildvögeln und wird in Nutzgeflügelhaltungen übertragen – Offen-, Freiland- und Auslaufhaltungen gelten als besonders gefährdet." Diese "Entwicklung" gefährde nicht nur einzelne Betriebe, sondern die gesamte Geflügelproduktion in Deutschland.
Natur- und Vogelschützende widersprechen jetzt. Nicht der Kranich sei schuld, wenn nun deutschlandweit Hunderttausende Hühner und andere sogenannte Nutztiere – bislang sind es mehr als eine halbe Million – gekeult werden mussten.
"Es gibt genügend Nachweise für Geflügelpestausbrüche in Deutschland, aber auch in Europa – aus Monaten, in denen es noch keinen Vogelzug, schon gar keinen Kranichzug gab", sagt Dr. Günter Nowald, Leiter des Nabu-Kranichzentrums und Geschäftsführer des Netzwerks Kranichschutz Deutschland. "Das widerspricht der Wildvogelhypothese." Also der Annahme, dass das Virus von ziehenden Wildvögeln verbreitet wird – und so auch in die Geflügelbetriebe gelangt.
Für Nowald ist klar, dass der Kranich nicht "Täter", sondern Opfer des aktuellen Infektionsgeschehens ist. "Die Lobby der Geflügelindustrie sucht einen Schuldigen, um von eigenen Problemen abzulenken", sagt der Vogelexperte. "Dabei steht fest, dass das Virus 2005/2006 in der Massentierhaltung in China entstanden und von da in die Umwelt gelangt ist." Um sich dann – vermutlich mit Tiertransporten und -produkten – weiter nach Westen auszubreiten.
Auch für Helmut Brücher, Vorstandsmitglied des BUND Brandenburg, ist nicht der Kranich, sondern die Massentierhaltung das Problem. In seinem Bundesland sei schon im Juni und Juli in mehreren Orten gekeult worden – darunter auch in Betrieben ohne Freilandhaltung. Das lasse nur den Schluss zu, dass dort die Seuchensicherheit nicht gewährleistet gewesen sei, erklärt er in einer Pressemitteilung.
Viren verbreiten sich mit dem Kot infizierter Stalltiere in der Umwelt – und mit der Stallluft
Brücher hält es für wahrscheinlicher, dass die toten Kraniche Opfer von Viren geworden sind, die aus betroffenen Betrieben in die Umwelt gelangt sind. Zum Beispiel mit der Abluft aus Lüftungsanlagen – oder mit Kot. "Es ist gängige Praxis", erklärt Brücher, "dass der Kot aus den Massenbetrieben unbehandelt auf Felder ausgebracht wird. Rastende Kraniche halten sich zur Nahrungssuche auf ebensolchen Feldern auf und infizieren sich." Aber auch Staubpartikel aus dem Gefieder infizierter Tiere können Viren enthalten – die über die Entlüftung in die Umwelt gelangen und mit dem Wind verdriftet werden.
In einem aktuellen Positionspapier erinnern Expertinnen und Experten vom Kranichschutz Deutschland an einen Vogelgrippe-Ausbruch in Israel im Jahr 2021. Damals starben mehr als 8000 überwinternde und rastende Kraniche im nordisraelischen Hula-Tal – und mit ihnen andere Vogelarten, die mit den Kranichen den Schlafplatz teilten.
Zum Verhängnis wurde ihnen offenbar Maisfutter, das den hungrigen Vögeln vor Ort angeboten wird, damit sie nicht über frisch angesäte Felder in der Nachbarschaft herfallen: Die Maisladung kam mit einem Lastwagen, der zuvor einen Geflügelbetrieb mit 250.000 Tieren in einem nahe gelegenen Dorf beliefert hatte – wo zu diesem Zeitpunkt die Vogelgrippe schon ausgebrochen war.
Große Geflügelbetriebe sind für Helmut Brücher auch beim aktuellen Ausbruch das zentrale Problem: "In Brandenburg gibt es deutschlandweit die größten Legehennenbetriebe mit durchschnittlich über 60.000 Tieren" – in denen sich wegen der hohen Dichte der Tiere Viren schnell verbreiten und Varianten bilden können. Im Fokus weiterer Untersuchungen müssten darum große Geflügelhaltungen stehen.
Wird zu wenig oder in die falsche Richtung geforscht?
Der Nabu-Landesverband Brandenburg kritisiert in einer Petition: "Das Friedrich-Loeffler-Institut, das seit 2006, als H5N1 zum ersten Mal in Deutschland auftrat, für die Überwachung der Vogelgrippeviren in Deutschland zuständig ist, ist offenbar immer noch nicht in der Lage, rechtzeitig die Vogelgrippe zu erkennen und davor zu warnen. Der Erreger wird erst dann bekannt, wenn er schon für auffällig viele kranke und sterbende Tiere in den Beständen gesorgt hat."
Dazu erklärt das Friedrich-Loeffler-Institut per Mail: "Als Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit bezieht das FLI sämtliche Bereiche und Aspekte ein, in Forschungsprojekten, Risikobewertungen und bei Ausbruchsuntersuchungen. Daten zur Epidemiologie und zur Molekularvirologie werden mit dem Europäischen Referenzlabor sowie in diversen wissenschaftlichen Netzwerken ausgetauscht." Auch Handelsbewegungen – also Tiertransporte – würden im Rahmen der epidemiologischen Untersuchungen berücksichtigt.
Unterdessen fordert BUND-Mann Brücher Konsequenzen. Etwa, dass Stallmist aus Geflügelbetrieben zukünftig nur noch nach keimtötender Behandlung auf umliegende Felder ausgebracht werden darf. Und er verlangt eine Abkehr von Megaställen: Kleinere Betriebe mit weniger Tieren müssten verstärkt gefördert, die Genehmigung von Massentierhaltungsanlagen eingeschränkt werden.
Günter Nowald vom Nabu teilt die Forderungen seines BUND-Kollegen grundsätzlich – auch wenn er sie bei den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen für schwer umsetzbar hält. (Auf Anfrage verweist das brandenburgische Umweltministerium auf den Bund und das FLI.) Ein pragmatischer erster Schritt wären für ihn schon mehr Kontrollen und mehr Personal: "Wir brauchen mehr Mitarbeitende in den Kontrollbehörden. Ich kann mir vorstellen, dass jede Imbissbude intensiver kontrolliert wird als irgendein Massentierhaltungsstall."