Raben haben den perfekten Überblick: Nichts entgeht ihren Augen, wenn sie über Wälder und Wiesen kreisen – schon gar kein totes Wildtier, für die Aasfresser ein echter Leckerbissen. Doch sie haben ein Problem: Ist das potenzielle Festmahl erst einmal ausgemacht, schaffen sie es mit ihren Schnäbeln oft nicht, durch die feste Schicht aus Fell und Haut zu picken, um an das Fleisch des toten Tieres zu gelangen. Die Vögel wissen sich jedoch zu helfen. Sie rufen Jagdgenossen herbei: Wölfe. Raben weisen den Raubtieren den Weg zum Kadaver, den diese mit ihren spitzen Zähnen aufreißen. Am Ende fressen sich alle gemeinsam satt – die Kooperation ist eine wahre Win-win-Situation. Und gelegentlich bleibt es nicht bei der gemeinsamen Jagd: Dann scheinen sich Wölfe und Raben im Lauf der Zeit kennenzulernen, sich anzufreunden und sogar miteinander zu spielen.
Lange Zeit galt Kultur als etwas exklusiv Menschliches. Doch inzwischen scheint klar: Auch manche Tiere entwickeln so etwas wie Kultur. Sie verfügen über einen Wissensfundus, der durch soziales Lernen entstanden ist und untereinander weitergegeben wird. Besonders erfolgreiche Jagdmethoden oder Wanderrouten werden so von Generation zu Generation überliefert. Doch nicht nur innerhalb der eigenen Art wird solches Verhalten gelebt. Oft sprengt es die Artengrenzen, und Tiere, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, gehen zusammen auf die Jagd, nutzen gemeinsame Heilpflanzen oder die gleichen Signale zur Informationsübermittlung.
Um den kulturellen Austausch zwischen unterschiedlichen Tierarten zu beschreiben, haben Forschende aus Frankreich und Japan nun den Begriff "Co-Kultur" eingeführt. "Die Co-Kultur stellt die Vorstellung von einer artspezifischen Kultur infrage und unterstreicht die Komplexität und Vernetzung von menschlichen und tierischen Gesellschaften sowie von Tiergesellschaften untereinander", schreiben die Forschenden in einem Beitrag in der Fachzeitschrift "Trends in Ecology & Evolution". "Diese Interaktionen zwischen den Arten führen zu Verhaltensanpassungen und Präferenzen, die nicht nur zufällig sind, sondern eine Form der konvergenten Evolution darstellen."
Mensch und Vogel auf gemeinsamer Honigsuche
In einer Co-Kultur ahmt eine Art also nicht nur das Verhalten einer anderen Art nach – beide beeinflussen sich gegenseitig. Beispiele dafür gibt es im Tierreich zuhauf: Da gibt es kletterfaule Japanmakaken, die bevorzugt auf dem Rücken von Sikahirschen Platz nehmen, um sich durch die Gegend tragen zu lassen. Im Gegenzug klauben die Primaten den Hirschen während des kostenlosen Ritts das Ungeziefer aus dem Fell, und die Hirsche können sich an den Früchten satt fressen, die die Primaten zurücklassen. Darüber hinaus scheinen die Affen ein sexuelles Interesse an den Hirschen zu haben – warum, darüber rätseln Forschende noch.

Offensichtlicher ist die Zusammenarbeit zwischen dem Menschen und dem Honiganzeiger, einem kleinen Vogel, der vor allem in Westafrika lebt. Er spürt in Baumstämmen versteckte Bienenstöcke auf und macht so Menschen oder Honigdachse darauf aufmerksam. Diese können den Bienenstock öffnen und stürzen sich auf den Honig, während sich der Honiganzeiger am Bienenwachs labt. Menschliche Honigsammler und Honiganzeiger verständigen sich dabei mit einem Gezwitscher, das sich von Region zu Region unterscheidet. Auf diese Weise können die Menschen die Vögel sogar zur Honigsuche herbeirufen.
Auch im Wasser gibt es Zusammenarbeit. Langzeitstudien vor der Küste Neuseelands haben gezeigt, dass Kleine Schwertwale und Große Tümmler nahezu ihre gesamte Zeit miteinander verbringen – und gemeinsam jagen. Während die Großen Tümmler vor allem Kahawai-Fische erbeuten, stürzen sich die Kleinen Schwertwale auf Makrelen. Dennoch treiben sie ihre Beute gemeinsam zusammen, sodass jeder Räuber seine bevorzugte Beute bequem verschlingen kann. Gleichzeitig schützt die Zusammenarbeit in der Gruppe die Tiere vor Fressfeinden. Um eine reine "Geschäftsbeziehung" handelt es sich dabei jedoch offenbar nicht. Beobachtungen zeigten, dass sich einzelne Tiere beider Arten immer wieder berühren, wenn sie gemeinsam auf Jagd sind. Es scheint, als fänden sie Gefallen daran, Zeit mit einem Gefährten der anderen Art zu verbringen, statt sich auf die kurze zweckmäßige Begegnung zu beschränken.
Um mehr über Co-Kulturen im Tierreich zu erfahren, schlagen die Forschenden vor, das Verhalten von Wildtieren in Städten zu untersuchen. "Stadttiere verändern ihr Verhalten, ihre Lern- und Problemlösungsfähigkeiten, um mit den Herausforderungen der Stadt zurechtzukommen", schreiben sie. Wenn der Mensch die Stadt verändere, beeinflusse er damit auch das Verhalten der Wildtiere – es entstehe eine wechselseitige Anpassung zwischen Mensch und Tier, die für das Verständnis von Co-Kultur bedeutend sein könnte. Geklärt werden müsse zudem, ob die kulturelle Anpassung auch Auswirkungen auf die genetische Evolution hat – und umgekehrt. Schließlich könnten Verhaltensweisen, die das Überleben sichern und den Fortpflanzungserfolg verbessern, zu genetischer Selektion führen.