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Vier Pinguin-Arten auf engstem Raum
Gerade waren sie noch über eine Landenge gefahren – mitten durch die riesige Kolonie von Pinguinen, deretwegen der Kieler Tier- und Naturfotograf Solvin Zankl die weite Reise hierher unternommen hatte, nach Saunders Island im Falkland-Archipel vor der Südspitze Argentiniens. Und nun standen Zankl und seine Begleiter ein wenig oberhalb der Senke vor einem mächtigen Felsbrocken.

Der Platz unter dem gewaltigen Gestein schien in jeder Hinsicht ausgesprochen günstig für einen längeren Aufenthalt, also haben Susan und David dem Fotografen geholfen, hier alles auszuladen: das kleine Zelt, den Schlafsack, die Kochutensilien, das bisschen Kleidung zum Wechseln, die aufwendige Fotoausrüstung, den Computer zum Speichern der Bilder, die Solarzellen und die 12-Volt-Batterien für die Versorgung der Geräte mit Strom - die ganzen 80 Kilogramm Gepäck also, die er benötigt, um unter dem großen Fels und bei den Pinguinen zurechtzukommen und schließlich auch arbeiten zu können.
Und jetzt ist Solvin Zankl, ein kräftiger Mann von Mitte 30, allein unter seinem Fels ganz unten an der Südspitze Südamerikas kurz vor der Antarktis auf einer von 200 Falklandinseln. Allein mit Zehntausenden Pinguinen, mit ihrem immerwährenden, durchdringenden Geschrei, mit dem Gestank ihrer Exkremente, mit dem ganzen archaischen Durcheinander einer Vogelkolonie, die, wie der Fotograf sagt, für uns Menschen nicht der beste Ort ist. Die Falklandinseln immerhin hat Zankl mit Bedacht gewählt. Denn wahrscheinlich könnte er die Pinguine nirgendwo besser erleben. Gerade weil hier bei einer vergleichsweise milden Jahresdurchschnittstemperatur von fünf Grad Celsius eben kein ewiges Eis herrscht.
Vier Pinguin-Arten auf engstem Raum
Schließlich leben gerade einmal zwei der 18 Pinguinarten, nämlich die Kaiser- und die Adéliepinguine, in der extremen Kälte der kontinentalen Antarktis. Die anderen sind in gemäßigteren Gebieten der Südhalbkugel zu Hause, in den unterschiedlichsten klimatischen Verhältnissen zwischen Neuseeland, Südafrika und Südamerika; eine Art lebt sogar weit nördlich, auf den Galápagos-Inseln am Äquator. Hier unten auf Saunders Island kann Zankl jedoch gleich vier Arten beobachten – und das ist auf der Welt nur an wenigen Orten möglich. Der Fotograf bleibt sechs Wochen, von Anfang Dezember bis Ende Januar – und schon bald kommt es Zankl immer wieder vor, als existierten keine Zeit und kein Raum mehr jenseits dieses Kosmos aus Wind und Meer und Pinguinen.


Aber er will ja doch auch hier sein. Aus elementarstem Bedürfnis sogar. Sucht, wann immer es geht, das Glück dieser vollständigen Einsamkeit. Liebt die Küstenlandschaften über alles. Will das Meer riechen und der Brandung zuhören - überall, sagt er, klingt sie anders; hier, an der lang gestreckten Küste im Nordwesten des Falkland-Archipels, ist sie ein anhaltendes, gleichmäßiges Rollen. Und selbstverständlich die Tiere. Solvin Zankl braucht die Nähe zu ihnen, möchte sie genauestens beobachten, muss lange bei ihnen bleiben in ihrem Lebensraum. Um sie dann schließlich auch fotografieren zu können - und zwar, so wünscht er sich, in größtmöglicher Vielfalt und Tiefgründigkeit. Denn, das fügt er hinzu, es gehe ja immer um das Verhalten von Tieren, und dieses zu verstehen und zu zeigen, sei das Größte, was er als Fotograf leisten könne.
Unterwegs mit 20 kg Fotoausrüstung
Am nächsten sind Zankl ganz wörtlich die Magellan-Pinguine, seine Wohngenossen in den Erdhöhlen am Hang mit dem schützenden Felsbrocken. Tief geduckt, fast liegend verbringen sie die Tage in den Eingängen ihrer Höhlen. Aber wenn der menschliche Nachbar vorbeikommt, recken sie sich, und weil sie im Nahbereich nicht geradeaus sehen können, drehen sie die schwarzen Köpfe mit den riesigen weißen Brillen so weit, bis sie ihn im Blick haben. Und selbst in den Nächten, wenn Zankl längst in den Schlafsack unter dem Fels gekrochen ist und die Zeltwände womöglich zittern unter Windstärke sieben oder acht, selbst dann bleiben Tiere und Mensch einander gegenwärtig. Die einen durch fortwährendes Blöken, das sich anhört, als wären nicht Pinguine, sondern Esel in der Nähe, der andere, so nimmt der Fotograf zumindest an, durch weithin vernehmliches Schnarchen nach den Herausforderungen des Tages.

Denn lang sind diese Tage bei den Pinguinen und anstrengend in jeder Hinsicht. Jeden Morgen zieht Zankl los: mit 20 Kilogramm Fotoausrüstung, immer in die Richtung, wo das Wetter, das doch so schnell wechselt, gerade am günstigsten ist - aber stets ausgerüstet mit Kleidung für alle Bedingungen. Für Regen, für Hagel, für die gefährliche Sonneneinstrahlung im ozonlochbedrohten tiefsten Süden, für die im ständigen Wechsel steigenden und fallenden Temperaturen - gerade sind es noch null Grad Celsius, plötzlich aber über 20, sodass die Pinguin-Küken schon hecheln vor allzu großer Hitze. Und dann die Zeit der endlosen Beobachtung. Allein schon der Versuch, sich zu orientieren, einen klaren Blick zu bekommen im Durcheinander, in der verwirrenden Vielfalt der Vogelkolonie, braucht eine halbe Ewigkeit. Überall geschieht etwas, überall wird gefüttert und gerufen – und lange fühlt sich Zankl, so sagt er, wie mitten in einer Menschenmenge, in der jeder etwas erzählen will und alle laut durcheinander reden.
Sich unsichtbar machen
Übungen in Geduld für den Fotografen. Unzählige Stunden verbringt er im Stehen und im Sitzen und noch häufiger im Liegen auf Augenhöhe mit den Tieren. So lange, bis sich ihm diese nur schwer durchschaubare Welt nach und nach erschließt. Immer wieder besucht Zankl dieselben Nester, damit die neugierigen Pinguine irgendwann das Interesse an ihm verlieren und zu ihrem natürlichen Verhalten zurückkehren. Und damit er selbst die einzelnen Tiere besser kennen lernt, ihren Charakter, ihre Eigenarten: Er verfolgt die Bewegungen der Agilen, die ständig geschäftig unterwegs sind und ihre Artgenossen, wo sie nur können, wichtigtuerisch verscheuchen, und er verharrt bei den Trägen, die, aufgeplustert und schmutzig, immer nur herumstehen. Er beobachtet die Aggressiven, die unaufhörlich um sich keifen, und die Lethargischen, denen die Küken geraubt worden sind – und die dennoch von ihrer inneren Uhr bis ans Ende der Brutpflegezeit auf den leeren Nestern festgehalten werden, während längst alle Lebensenergie aus ihnen gewichen zu sein scheint.
Schon nach kurzer Zeit nimmt seine Kleidung den Geruch der Pinguin-Exkremente an, immer wieder schaffen es Zecken und Wanzen, den Wirt zu wechseln und sich statt bei den Vögeln bei ihm einzunisten. Zankl verliert an Körpergewicht, weil er selbst für die spartanischen Mahlzeiten aus Eiern und Nudeln tagsüber keine Zeit verschwenden will. Aber dafür wandelt sich allmählich sein Blick, wird ruhiger und genauer – und dann offenbart auch das Chaos in der Vogelkolonie seine geheime Ordnung. Denn, so erkennt der Fotograf, auf der einen Seite der Kolonie dösen die Pinguine nur, und auf der anderen brüten sie, und auch, um sich zu waschen und zu putzen, haben sie ganz spezielle Plätze.
Ein fotografisches Abschiedsgeschenk
Nach sechs Wochen, in denen er gelegentlich sogar auf dem Boden entlanggekrochen ist, weil der starke Wind es unmöglich machte, aufrecht zu gehen; nach Stunden mit zauberhaftem Licht, als die Sonne durch den Seenebel brach, und nach nicht enden wollenden Tagen der vollständigen Verbannung ins Zelt, weil Hagel- und Regenstürme über die Insel fegten; nach Weihnachten mit ein paar Scheiben trockenem Brot und Silvester mit sehnsuchtsvollem Herzen – da hat sie Zankl dann zusammen: 15 000 Bilder von Pinguinen, Augenblicke, Szenen, Schnappschüsse, Verhaltensstudien in genau jener Vielfalt und Tiefgründigkeit, die er sich erhofft hatte. Schließlich, am letzten Abend, als die Alukisten schon gepackt, die Fotos auf der Computerfestplatte gespeichert sind und alles zur Abreise vorbereitet ist, auch noch das: Plötzlich reißen die Wolken auf, der Himmel färbt sich, und die Sonne tritt noch einmal hervor, um dann in aller Pracht unterzugehen. Nur zwei oder drei Mal ist das bisher geschehen in den vergangenen Wochen – und Zankl weiß, dass er nur extrem wenig Zeit hat, um dieses Abschiedsgeschenk der Natur auszunutzen.
Er schaut auf die Pinguine und schaut zur Sonne, bedenkt, wo Letztere steht und wohin erstere sich bewegen, dann legt er sich ein letztes Mal auf den Boden, genau an die richtige Stelle. Er wartet noch ein, zwei Minuten, und dann drückt er ab – zu einem umwerfend schönen Scherenschnittbild mit schwarzen Pinguinumrissen vor intensivem Rot. Eine Frage des Glücks? Womöglich. Aber vor allem: eine Sache der Erfahrung. Denn weil er die Pinguine inzwischen wirklich gut kennt, weiß Zankl genau, wohin sie gehen. In diesem Fall: mitten hinein ins letzte Bild.
