Eines Tages war er einfach da, der Waschbär im Kasseler Stadtzentrum. Seinen Schlafplatz richtete er sich in einer Brauerei ein, nachts unternahm er Streifzüge durch das Rotlichtviertel der Stadt. Seinen Spitznamen hatte der possierliche Bär mit der Zorro-Maske schnell weg: "Casanova". Aus dem Waschbären war ein waschechter Stadtbär geworden.
Was sich wie ein kurioser Einzelfall liest, ist in Kassel - der "Waschbären-Hauptstadt" Europas - gar nicht so ungewöhnlich. In einigen Stadtteilen plündern die zugezogenen Waschbären nachts die Mülltonnen der Umgebung und ziehen sich tagsüber auf die Dachböden der Häuser zurück. Dabei gibt es unter den Tieren sowohl Pendler als auch Städter, weiß Diplom-Biologin Stefanie Voigt zu berichten: "Einige Waschbären kommen nur nachts in die Stadt und schlafen tagsüber im angrenzenden Waldgebiet. Vermehrt suchen sich die Waschbären ihre Schlafplätze aber in der Stadt." Hier finden die opportunistischen Flächennutzer genügend Nahrung, sichere Verstecke und geschützte Kinderstuben für den Nachwuchs.
Wilde Hausbesetzer
Nicht nur in Kassel ist der Bär los. Auch in Großstädten wie Berlin und Hamburg erobern die nachtaktiven Raubtiere städtische Randgebiete, besetzen Dachböden und durchforsten Mülltonnen nach Nahrung. In ihrem Verhalten ähneln sie dem Steinmarder, der unter den städtischen Wildtieren längst kein Exot mehr ist. Als einer der ältesten Kulturfolger des Menschen eroberte er schon im Mittelalter die Stadt als Lebensraum. Aus dem Steinmarder, der ursprünglich in Steinbrüchen und Felslandschaften beheimatet war, ist mittlerweile ein regelrechter Hausmarder geworden, der es sich auf Dachböden gemütlich macht. Hier ist es trockener, wärmer und geräumiger als in den meisten Schlupfwinkeln in der freien Natur.
Landflucht der Wildtiere
Viele Städte wachsen von Jahr zu Jahr mehr in die angrenzenden Waldgebiete hinein und bieten Wildschwein, Fuchs und Co. einen neuen, urbanen Lebensraum. Auch die intensive land- und forstwirtschaftliche Nutzung verdrängt viele Tiere aus der weiträumigen Landschaft. In der Stadt finden sie ein üppigeres Nahrungsangebot und vielfältigere Unterschlupfmöglichkeiten als in ihrer ursprünglichen Heimat. Der Mensch schafft den Wildtieren nahezu optimale Lebens- und Überlebensbedingungen. So ist das Klima in der dicht bebauten, versiegelten Innenstadt wärmer und trockener, am Stadtrand finden die Tiere in Flüssen und Stillgewässern, in Mülltonnen, auf Streuobstwiesen und in Vorgärten ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Natürliche Feinde stellen eine weitaus kleinere Gefahr dar als in der Wildnis. Der Mensch wird vom Jäger zum Ernährer.
Enten auf dem Balkon, Füchse auf dem Baugerüst
Volker Homes, Leiter des WWF-Artenschutzes, bescheinigt den Städten ein hohes Maß an Attraktivität für Wildtiere: "Nirgends finden die Tiere so viele unterschiedliche Biotope auf so engem Raum vor wie in der Stadt. Wenn sie es einmal geschafft haben, sich hier einen Lebensraum zu erobern, ist ihre Überlebenschance hoch." Ihr größter Feind, so Homes, sei der Straßenverkehr. Doch die Tiere zeigen sich äußerst anpassungsfähig und gewöhnen sich schnell an das urbane Treiben. So leben Kaninchen in vielen Städten auf Verkehrsinseln von vielbefahrenen Straßen. Die städtischen "Inselbewohner" lassen sich vom Verkehr nicht stören und werden dort bis zu zehn Jahre alt. Und auch dann, wenn das Störpotenzial der Großstadt einigen Tieren zu hoch wird, wissen sie sich zu helfen: In Berlin weichen Stockenten aus Mangel an geeigneten Brutplätzen auf Balkone aus, in Zürich suchen Füchse in Mauerspalten und auf Baugerüsten nach einem sicheren Schlafplatz.
Wilde Plagegeister
Ruhestörung, Sachbeschädigung, Geruchsbelästigung - für manchen Hausbesitzer entwickeln sich die possierlichen Tiere zur echten Plage. Wildschweine verwüsten Vorgärten, Biber fällen ganze Bäume und als unerwünschte Untermieter auf städtischen Dachböden sind Marder und Waschbär keine Mitbewohner von der ruhigen Sorte. Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung rät: "Städter sollten es vermeiden, die Tiere zu füttern, Abfälle immer gut wegräumen und damit das Nahrungsangebot so gering wie möglich halten." Das Erschießen der unerwünschten Einwanderer stellt für Kinser keine Lösung dar: Das gezielte Abschießen von Waschbären und Füchsen habe in einigen Städten lediglich bewirkt, dass sich das Durchschnittsalter der Wildtiere verringerte, nicht aber ihre Anzahl. Denn die Tiere erweisen sich als sehr anpassungsfähig. Nimmt ihr Bestand ab, bringen die Weibchen mehr Junge zur Welt. Eines steht fest: Die tierischen Einwanderer scheinen weniger Probleme zu haben, sich an den Menschen zu gewöhnen, als umgekehrt.