Im Herzen des typhoon belt
Busokbusok liegt in der Provinz Aurora, im Herzen des typhoon belt, einer der sturmgefährdetsten Regionen der Erde. In jeder Monsunzeit, etwa zwischen Juni und Dezember, wird die Provinz von rund zwei Dutzend tropischen Depressionen heimgesucht. Diese brauen sich über dem Pazifik zusammen und erreichen die Casiguran-Bucht wie Vorboten des Weltuntergangs: mal als stürmische Himmelsfluten, schlimmstenfalls als "Supertaifun", der sich mit höllischem Heulen und einer Wucht von 250 Kilometern pro Stunde auf krumme Hütten wie jene von Vicente Caparas stürzt. Man kann aber bleiben, meint der 74-jährige, blinde Caparas ganz ruhig, und sagt: "Hier stirbt niemand mit offenen Augen." Das klingt geheimnisvoll, ist aber eine Redewendung in der Landessprache Tagalog, die bedeutet: "Hier findest du, was es zum Leben braucht; schau nur richtig hin!"
Auf den ersten Blick ist schwer zu erkennen, ob in Busokbusok vorhanden ist, was man zum Leben braucht. Erreicht man das Dorf per Taxiboot aus Casiguran, sieht man zunächst nur einen kleinen Hütten-Klumpen, der sich zu beiden Seiten der Bucht hin verdünnt, bis die äußeren Strohdach- Flecken im dichten Grün der Tropen versinken. "Feeder Road", die ungeteerte Hauptstraße, folgt dem Ufer der Bucht auf einer Länge von 2,5 Kilometern: über Steine, durch Senken, die der Monsunregen zu Tümpeln füllt. Sie reicht von der Grundschule auf einem Hügel am Dorfeingang bis zur Karaoke-Kneipe von Julio Matas, dem einzigen Ort der Zerstreuung. Die ersten Details, die einem Ortsfremden kurz vor dem Anlegen ins Auge fallen, betreffen den lädierten Zustand diverser Hütten. Es sind jene, die beim jüngsten Taifun zu Schaden gekommen sind. Die Bewohner von Busokbusok bewerten einen Taifun nach der Anzahl gefällter Behausungen, also nach dem jeweiligen Obdachlosigkeitsquotienten in ihrer Gemeinde.
Aber warum sind sie ausgerechnet hierher gekommen? Schließlich sind Taifune keine "Erfindung" von gestern. Als Vicente Caparas, der Pionier, sich am Ostufer der Casiguran-Bucht niederließ, lebte dort noch niemand. Das war zu Beginn der 1960er Jahre, die Bevölkerungszahl der Philippinen lag bei knapp 30 Millionen, einem Drittel des heutigen Standes. Aber die Armut in den Dörfern, verbunden mit den Reizen des Stadtlebens, zog immer mehr Menschen in die urbanen Zentren. Vicente Caparas ging den umgekehrten Weg. In städtischer Armut aufgewachsen, ohne Schulbildung, die ihn zur Hoffnung auf ein geregeltes Auskommen berechtigt hätte, schlug er sich als Stadtfischer durchs Leben: "Ich fischte leere Gin- Flaschen aus den Mülleimern reicher Viertel und lebte vom Pfandgeld. Eines Tages traf ich einen Mann mit einem richtigen Fischernetz und folgte ihm an die Casiguran-Bucht. Als der Mann nach einiger Zeit weiterzog, überließ er mir sein Netz."
Und Caparas blieb, weil er glaubte, dass an der Casiguran-Bucht "niemand mit offenen Augen sterben" könnte. Nicht allein ein reicher Fischgrund lockte dort, sondern auch, wenige Meter vom Ufer entfernt, ein üppiger Wald, in dem sich Land roden und ein kaingin anlegen ließ, eine Lichtung für den Anbau von Bananen, Maniok, Kartoffeln und anderem Gemüse. Es war der perfekte Ort zum Leben aus eigener Kraft. Da er sie ernähren konnte, suchte sich Caparas eine Frau und gründete eine Familie. Hätte sich der ehemalige Stadtstreicher etwas Besseres wünschen können? "Nie habe ich mich nach der Stadt zurückgesehnt", sagt er.
Landflucht in ein besseres Schicksal?
Einige Jahre darauf rückten Holzfäller an und schlugen eine Schneise in den Uferwald hinter Caparas’ Hütte. Der Weg sollte ihr Camp mit einer Landungsbrücke verbinden, von wo aus Lastwagen die gerodeten Stämme ins Meer kippen konnten. Schlepper zogen sie dann über die Bucht zu einem Sägewerk. Die Holzfäller nannten die Piste "Fütterweg", weil sie über ihn mit Nahrungsmitteln versorgt wurden. Als die Holzfirma schloss, blieben Dutzende von Arbeitern zurück, bauten Hütten und schulten um. Aus Holzfällern wurden Fischer, Gärtner, Zimmerleute, Taxiboot-Fahrer, Hühnerzüchter und allesamt Nachbarn von Vicente Caparas. So entstand Busokbusok - im Grunde aus der Idee heraus, dass Landflucht selten in ein besseres Leben führt. Die Taifune: Schicksal. Die Menschen: bereit, es hinzunehmen, dachten sie an das Elend in den Städten.
Blickt Vicente Sindac in der Frühe aus seiner Hütte, sieht er den Tag wie eine Wetterkarte über der Bucht aufziehen: meist sonnig, mal mit Wolken, die in den Falten der mächtigen Sierra Madre im Rücken von Casiguran hängen. An diesem Morgen pfeift der "Kapitan", der Ortsvorsteher von Busokbusok, nach seinem Hund und tritt hinaus auf den Strand. Dieser bietet den schnellsten Weg zum Gemeindehaus, dem einzigen Steingebäude im Ort. Und Sindac hat es eilig. Gleich wird der Gemeinderat tagen, wie an jedem zweiten Montagmorgen. Ein herrlicher Tag, kein Taifun weit und breit. Im goldenen Licht der Monsunzeit liegt die Bucht glatt wie ein Tischtuch vor dem Kapitan. Über das Wasser tuckert der "Schulbus" fort, die Banka Nr. 34. Sie bringt Busokbusoks begabteste Schüler zur höheren Schule nach Casiguran.
Keine Hilfe von außen
Am Abend sitze ich bei Sindac, um mir von den größeren Problemen erzählen zu lassen, mit denen ein Gemeindevorsteher in der Taifunzone konfrontiert sein kann. Vor einiger Zeit wurden auf der Insel Leyte 250 Kinder einer Grundschule von einer Schlammlawine verschüttet. Eine weitere von Taifun- Regenfällen ausgelöste Lawine begrub acht Dörfer zu Füßen des aktiven Mayon-Vulkans. Und am Ende jenes Jahres waren mehr als 1000 Taifun-Opfer zu beklagen. In Mitteleuropa würde man an derlei Katastrophen wohl eine Generation lang denken.
Anders als die Städter haben die Taifun-Opfer im schwer zugänglichen Busokbusok nie mit Decken und Esspaketen aus internationaler Nothilfe zu rechnen. Wer seine Hütte im Sturm verloren hat, komme bei Nachbarn unter, sagt der Kapitan. Gegen den Hunger gebe es einen kleinen dörflichen Reservefonds aus Konserven. Und ein bisschen Gemüse in den zerstörten Gärten. Dann holen sie Holz und Blätter vom Berg und reparieren ihre Hütten. Oder bauen neue. Und wenige Tage später gleitet ihr Leben zurück in seinen normalen, hastlosen Lauf. Nie warten sie auf Hilfe von außen.
Die Stadt lockt die Dörfler nicht, und das hat auch mit dem Walten von "Industries Development Corp." zu tun, einem Holz-Multi, der das von wertvollen Wäldern überzogene Gebirge im Rücken von Casiguran seit Jahrzehnten ausbeutet. Rund 40 Prozent der Baumbestände dort sind schon gefallen, und wo die Vegetation nicht mehr imstande ist, Boden und Wasser festzuhalten, sind flash floods nach den Taifunschauern die Folge. Fluten, die, wie im Jahr 2004, 70 000 Menschen in der Provinz auf einmal obdachlos machen können. Die Regierung verhängte einen Rodungsstopp. Doch schon acht Monate später durfte der Raubbau weitergehen. Die Corporation, so der Verdacht, hatte wohl einige Politiker gekauft. Von Verrat sprechen sie in Casiguran, und am lautesten tut das dessen Bürgermeister Reynaldo Bitong.
Ich traf ihn vor einigen Tagen in der Bucht vor Busokbusok. Wie es schien, hatte der Bürgermeister, ein Mann von 75 Jahren, seine Banka in ein Kriegsschiff verwandelt. Mit Sturmgewehren bewaffnete Leibwächter standen auf dem Bootsrand und starrten drohend auf die Ufer. Aus Bitongs Gürtel lugte der Knauf einer Pistole. Ob er gerade auf Rachfeldzug sei, fragte ich. "Nein, Amerikano", entgegnete der Bürgermeister. "Ich erhalte nur viele Morddrohungen. Gestern Nacht hat ein Dutzend Motorradfahrer endlos Runden um mein Haus gedreht. Ich habe kaum geschlafen." Bitong glaubt, die Corporation wolle ihn zum Schweigen bringen: "Weil ich einen endgültigen Rodungsstopp fordere! Aber ich lasse nicht locker. Nie nachgeben, nie aufgeben, das ist unsere Devise!"
Wohnen unter Vorbehalt
An der ehemaligen Holzfäller-Landungsbrücke, von der nach vielen Stürmen nur noch einige Pfähle aus dem Wasser ragen, treffe ich Pedro Beltran, Endoy genannt. Er ist leicht zu erkennen, weil er seine Ohren mit kleinen Münzen vollgestopft hat, dem Wechselgeld für seine Kundschaft. Endoy ist 67 Jahre alt und "Taxifahrer", ein Fährmann zwischen Dorf und Stadt. Gewöhnlich wartet er mit seiner Banka Nr. 15, bis sich mindestens acht Fahrgäste für Casiguran eingefunden haben, was Stunden dauern kann. Sieben Pesos, elf Cent pro Person, berechnet Endoy für die Fahrt. Gerade steigt er in schlabberiger Unterhose aus der Casiguran-Bucht, dem Dorf-Badezimmer mit Toilette. Ich winke ihm zu; er setzt sich zu mir an den Strand, pult sich ein paar Münzen aus dem linken Ohr, um meine Fragen besser zu verstehen.
Was er tue, um die Taifune zu überstehen? Immer dasselbe, antwortet Endoy: Komme Sturm auf, ziehe er sein Taxi aus dem Wasser und binde es an einer kräftigen Palme fest. Dann werfe er ein großes Fischernetz über seine Hütte und binde auch die Netzenden an Bäumen fest: "Das ist wichtig, du musst Dach und Banka immer gut verschnüren!" Und dann? "Dann", sagt Endoy, "gehe ich zu Vicente Caparas und halte ihm die Hand. Der Blinde ist mein bester Freund!" Und wenn dann der Sturm eintrifft? "Dann kehre ich zurück in meine Hütte, schließe Fenster und Türen. Und bete." Irgendwie bleibt seine Antwort hinter meinen Erwartungen zurück. Immerhin gilt er als Busokbusoks Katastrophenexperte.
Wohnen unter Vorbehalt
Niemand soll seine Verteidigungsschlacht gegen Taifune so geschickt führen wie Pedro Beltran, wie es in der mündlichen Dorfchronik heißt: Seine erste Hütte in Busokbusok errichtete er 1968. Er fällte einen Mangatsapoy-Baum, zersägte dessen Stamm zu Brettern und zimmerte daraus Wände, Tisch, zwei Stühle und ein breites Bett. Als im September 1970 der Supertaifun "Pitang" heranzog, krochen Endoy, seine Frau Eleuteria und ihre zwei Kinder unter dieses Bett, das, als die Hütte über ihnen zusammenbrach, die Familie schützte. Sein nächstes Haus baute der fromme Endoy neben der Kirche. Trotzdem wurde es zerschmettert, 1980, vom Taifun "Aring". Während des Sturms krochen die Eheleute wieder unter ihre Schlafstelle, wo der Platz knapp wurde, denn inzwischen hatten sie drei Kinder.
Seine dritte Hütte errichtete Endoy auf Stelzen am Strand. Eines Tages - er hat das Jahr und den Namen des Taifuns vergessen - knackte die Hütte in allen Fugen. Die Beltrans verstanden, dass es keinen Sinn haben würde, sich mit ihren nunmehr fünf Kindern unter dem Bett zu verkriechen. Also flohen sie hinaus in den Sturm, der einen Augenblick später die Hütte packte, sie samt Stelzen in die Höhe hob und in die Bucht hinauswarf. Sein viertes Haus stellte Endoy wieder auf festen Boden, unter Kokospalmen neben die Feeder Road. Es hielt so lange, dass er nach dessen Zerstörung durch den nächsten Supertaifun beschloss, es an derselben Stelle wiederaufzubauen. Nachdem aber auch Haus Nummer fünf eines Morgens erschlagen unter umgeknickten Palmen lag, zogen die Beltrans mit Bett und sechs Kindern abermals um.
Nach meiner Abreise haben in kurzer Folge zwei Supertaifune die Casiguran- Bucht getroffen. Babi Coralde, den ich telefonisch in seinem überschwemmten Haus in Casiguran erreichen konnte, meldete, Flash Floods hätten in der Stadt 140 Häuser beschädigt und deren Bewohner in die Hügel getrieben. Und im Dorf? Auch Busokbusok, sagte Coralde, sei von Flash Floods verwüstet worden. Zu viele Rodungen im Waldberg! Zwölf Hütten seien zerstört worden, darunter die von Vicente Caparas, der seither bei seiner Tochter wohne. Von der Hütte der Maraños fehle jede Spur, der Sturm habe sie im Meer versenkt. Die Maraños seien mit ihren Kindern zu den "Negritos" in den Busch gezogen. Aber niemand sei getötet oder verletzt worden, fügte Babi Coralde hinzu. Und Endoy? Hat sein Doppeldach die Taifune überlebt? "Endoy geht es gut. Er und Eleuteria lassen grüßen."