Ein klarer Morgen. Die Welt ist frisch und feucht, der Fichtenforst südlich von Bonn so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl auf den moosigen Boden fällt. Es ist ein guter Pilzwald. Ich begegne Täublingen und Perlpilzen, in einer Pfütze steht ein alter Fliegenpilz, und dort wächst ein Rotfuß-Röhrling. Aber nichts für die Kamera, zu viele Schnecken haben bereits an ihm genagt. Da sehe ich sie: daumengroße Ohren, die sich orangerot aus der Nadelstreu heben. Bislang bin ich nur in meinen Bestimmungsbüchern über diese eigentümlichen Gebilde gestolpert. Und nun sehe ich sie endlich in natura, die Fruchtkörper von Otidea onotica. Zu Deutsch: das Eselsohr. Ich war in den vergangenen Jahren oft in diesem Wald, auch schon häufiger an dieser Stelle, und doch sehe ich die Eselsohren zum ersten Mal. Wie lange wächst der Pilz hier schon im Verborgenen? Wie oft bin ich über sein unterirdisches Geflecht geschritten, ohne es zu ahnen?
Manche Menschen, denen ich von meiner Leidenschaft erzähle, wundern sich. Einige nennen mich scherzhaft einen Freak. Wer läuft schon tagelang durch den Wald, um Pilze zu suchen, die er nicht essen möchte? Wem schießen schon Tränen der Wut in die Augen, wenn der Hut eines Pilzes beim Transport antrocknet oder einreißt? Sicher würden sich nicht so viele Menschen wundern, fotografierte ich Orchideen oder Vögel. Im Kreislauf des Lebens scheinen Pilze eine Nebenrolle zu spielen. Aber vielleicht ist es genau das, was mich reizt: die vermeintlichen Randerscheinungen der Natur in den Mittelpunkt zu rücken. Das Übersehene sichtbar zu machen. Und so auch andere zu begeistern für ein oft unerkanntes Zauberreich.
Der Pilz als Nahrungsmittel
Meine Großmutter hat in den Nachkriegsjahren Pilze gesammelt, um ihre Familie zu ernähren. Meine Eltern haben sie gesammelt, um abends eine leckere Pilzpfanne zu schmoren. Mein Lieblingspilz als Kind war die Krause Glucke. Gerade weil ich sie nie gesehen habe. Nur aus Bestimmungsbüchern kannte ich dieses beigefarbene, an einen Naturschwamm erinnernde Wesen. So sehr ich als Junge auch danach gesucht habe, ich habe sie nicht gefunden. Erst als Student, auf einer biologischen Exkursion in die Wälder rund um Gorleben, stand ich plötzlich einer Krausen Glucke gegenüber. Und fühlte mich, als begegnete ich einer alten Bekannten.
Pilze bevölkern eine eigene, heimliche Welt. Die meisten, über die wir im Wald laufen, nehmen wir gar nicht wahr. Ein Pfifferling etwa besteht mitnichten allein aus seinem gelblichen Stiel mit Hut. Der eigentliche Körper dehnt sich unterirdisch aus, durchwuchert den Waldboden als Geflecht mikroskopisch dünner Fasern, die modriges Laub oder morsches Holz zersetzen. Andere Arten befallen als Parasiten lebende Pflanzen. Jene auffälligen Gewächse, die meist zwischen August und Oktober aus dem Boden sprießen, bilden also eher einen kleinen Teil des ganzen Organismus. Es sind gewissermaßen dessen Früchte, die er aus dem Erdreich schiebt.
Der Pilz, das unsichtbare Wesen
Im Untergrund arbeiten die Pilze das ganze Jahr über, verdauen Millionen Tonnen abgestorbener Pflanzenteile. Die Wucherer gehören zu den wichtigsten Resteverwertern unserer Wildnis. Das Netz der Fäden kann sich über viele Quadratmeter erstrecken, in enger Symbiose mit Bäumen. Es wickelt sich um deren Wurzeln, vergrößert so deren Oberfläche und sorgt dafür, dass die Pflanze mehr Wasser und Nährsalze aufnehmen kann. Im Gegenzug erhält der Pilz Kohlenhydrate, die der Baum in seinen Blättern mithilfe des Sonnenlichts hergestellt hat.
Diese Symbiose ist so erfolgreich, dass 95 Prozent aller Landpflanzen in Deutschland ihre Wurzeln von Pilzen umspinnen lassen. Jede Spezies verbindet sich dabei nur mit ausgewählten Arten. Fliegenpilze findet man häufig in der Nähe von Birken, Pfifferlinge stehen meist unter Kiefern und Steinpilze oft unter Fichten oder Birken. Und Perigord-Trüffel gehen eine Partnerschaft mit Eichen ein. Bis 1969 glaubte man, Steinpilz und Pfifferling, Champignon und Marone seien Sonderformen innerhalb des Pflanzenreichs. Doch dann entschieden Biologen, ihnen ein eigenes Reich einzuräumen, gleichberechtigt neben Flora und Fauna. Wie recht sie damit hatten, zeigen moderne genetische Analysen: Pilze sind näher mit uns Menschen verwandt als mit irgendeiner Pflanze. Evolutionsbiologen haben mittlerweile rekonstruiert, dass Pilz und Mensch vor mehr als einer Milliarde Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Dessen Nachkommen dann getrennte Wege gingen, die einen als Tiere und später Menschen, die anderen als Pilze.
Raffinierte Verbreitungs-Strategien
Um sich möglichst effektiv zu vermehren, vergrößern viele Pilze ihre Oberfläche. Etliche setzen sich Hüte auf, unter denen sich Lamellen spannen - daran reifen dann jeweils Abertausende von Sporen. Andere Spezies ähneln Korallen, deren verzweigte Ärmchen mit Sporen übersät sind. Und auch die Stinkmorchel hat eine geschickte Vermehrungsstrategie gewählt: Der phallusförmige Pilz umhüllt seine Spitze mit einer bräunlich-klebrigen, nach Fäulnis und Kot riechenden Sporenmasse. Schmeißfliegen finden diesen Duft unwiderstehlich; in Scharen umlagern sie die Morcheln, lecken deren stinkenden Schleim auf und verbreiten beim Weiterflug deren Nachkommen.
Aber nur wenige Sporen werden keimen und zu einem neuen Pilz heranwachsen - jene, die auf einen ganz bestimmten Nährboden fallen. Auch da hat jede Art ihre Vorlieben, nicht selten erkennt man es schon am Namen: Der Eichen-Wirrling verdaut totes Eichenholz, der Tannen-Feuerschwamm nagt am Nadelholz, der Pappel-Schüppling befällt Pappeln, der Halm-Faserling vertilgt Halme von Wasserpflanzen. Und sogar nur „auf ganz oder halb vergrabenen Fichtenzapfen“, so liest man in Bestimmungsbüchern, wächst der Fichten-Zapfenrübling. Der größte Feinschmecker von allen ist Psathyrella berolinensis, der Wildschweinkot-Zärtling: Nur wenn seine Sporen auf die Losung von Schwarzwild fallen, können sie keimen und ihre beigefarbenen Hütchen austreiben.