Als das Meer so ruhig und kraftlos daliegt wie ein schlafendes Tier, löst Aultman einen Sturm aus. Die Crew der "Steve Irwin" sitzt beim Abendessen, es gibt Wildreis mit Gemüse, dazu Sojageschnetzeltes, Nudeln, Salat und zum Nachtisch Karottenkuchen. Vegane Kost, kein Fleisch, wie immer. Chris Aultman nimmt eine große Portion, schiebt dann aber den Teller weg, setzt zum Gehen an. Hält noch einmal inne, sein Blick ist beschwörend. Versteht ihn denn keiner? "Das war", sagt er, "eine Frage des Respekts. Wir hätten mit den Fischern reden sollen."
Das reicht! Ein wütendes Wortgefecht bricht los. Welches Recht haben wir, ein Tier zu töten, nur um es zu essen? Ist es nicht hochmütig, ein paar Unterschiede in der DNA als Rechtfertigung zu benutzen, um Leben zu beenden? Hätten wir uns nicht mitschuldig gemacht? Und was, bitte schön, sollte man denn überhaupt mit Leuten bereden, für die das Töten von Tieren ein Geschäft ist? Was war geschehen?
Einige Stunden zuvor, später Nachmittag. Die "Steve Irwin" ist 50 Kilometer vor der libyschen Küste unterwegs, als die Besatzung den Kutter entdeckt. Kurs Nordnordwest, die tunesische Flagge schlapp am Mast, der Rumpf tief im Wasser. Das Meer zieht an ihm, mehr als es sollte bei dieser ruhigen See. Verdächtig. Die Männer auf der Brücke sehen ein ander an. Durch ihre Ferngläser mustern sie den Kutter. Zieht er einen runden Käfig, Ringwadennetz genannt, durch das Wasser? Spucken die Dieselmotoren schwarzen Rauch in den Himmel, weil sie unter Volllast laufen?
Sie suchen Taucherausrüstungen an Deck und jene kleinen Wellen auf dem Wasser, die von nervös im Kreis schwimmenden Fischkörpern geschlagen werden. Aber sie sehen nichts davon. Stattdessen: Autoreifen, die als Rettungsringe dienen, eine alte Plane als Sonnenschutz, Schweißnähte, die das Leben des Schiffs immer wieder verlängert haben. Und die Besatzung, vier Männer in zerschlissener Kleidung. Nein, diese Leute wirken nicht, als ob sie den teuersten Fisch des Mittelmeeres fangen, der in Japan mit bis zu 1000 Dollar pro Kilogramm gehandelt wird.
Die tunesischen Fischer blicken ihrerseits skeptisch auf das Schiff, das ihnen da entgegenkommt: die "Steve Irwin", früher Patrouillenschiff der schottischen Fischereibehörde, 1975 mit extra dickem Stahlrumpf gebaut, knapp 60 Meter lang, 42 Frauen und Männer Besatzung. Ausgerüstet mit Wasserkanone und Schnellbooten, Paintball-Gewehren und einem Helikopter, Tanks voller Buttersäure zur Befüllung von Stinkbomben, mit Helmen und Polizeischildern aus Hartplastik. Das Schiff ist etwa viermal so groß wie ihr Fischkutter. Und an der Brücke prangt ein riesiger Totenkopf.
Sollen die Aktivisten den toten Fisch annehmen?
Vielleicht haben die Fischer Angst. Aber dann sehen sie Aultman, und weil der freundlich lächelt, lächeln sie zurück. Als die Schiffe sich fast berühren, klettert einer der Fischer auf die Reling und hält Aultman einen Fisch entgegen, als Freundschaftsangebot: eine gewöhnliche Goldbrasse. Der Fischer beugt sich vor, streckt sich; noch ein paar Zentimeter mehr, und er würde ins Meer fallen. Das tote Tier hängt Aultman vor der Brust. Er ringt mit sich. Soll er?
Der Fischer lächelt, aber hinter seinem Lächeln sieht man ihn denken: Was sind das für Leute, die einen fangfrischen Fisch nicht annehmen, mit dem man eine Familie satt machen kann? Eine Minute lang steht Aultman wie eingefroren an der Reling, dann fällt der Kutter so weit zurück, dass sich die Frage nach dem Fisch nicht mehr stellt. Und abends, beim Essen, zwischen zwei Bissen Reis, sagt Chris Aultman, Pilot des Aufklärungshubschraubers: "Wir hätten den Fisch annehmen sollen." Und die anderen können das einfach nicht fassen. Die anderen auf der "Steve Irwin". Fast alle tätowiert, Engelsflügel auf dem Rücken, Spielkarten auf den Beinen, alle unrasiert. Viele Veganer, alle Idealisten, alle freiwillig im Dienst der Meeresschutz-Organisation Sea Shepherd. Überzeugt von der Sache - und bereit, so hat es jeder unterschrieben, "mein Leben in Gefahr zu bringen", und im Gegenzug "erwarte ich von Sea Shepherd nichts".
Eine bitterernste Show
Für ihre Anhänger hat die Umweltgruppe der "Meeres-Hirten" einen Status irgendwo zwischen Öko und Pop. Eine bunte Mischung von Aktivisten bevölkert die drei Einsatzschiffe. Da ist Beck Straussner, der früher für die US-Navy Kampf-Delfine abgerichtet hat und jetzt als Umweltaktivist Abbitte leisten will. Oder Holly Wilson, Ärztin aus Florida, die so konsequent vegan eingestellt ist, dass sie ihren Mitstreitern sogar das Wunden-Vernähen nicht, wie sonst üblich, an Schweinehaut beibringt, sondern an Zitronenschalen. Sea Shepherd empfindet sich, und ist es vielleicht auch, als die Avantgarde der Planetenretter.
Für ihre Gegner ist sie der "Schwarze Block der Meere". Denn entschiedener und rabiater als jede andere Organisation geht Sea Shepherd gegen illegal operierende Fangflotten vor. Rammt Walfangschiffe. Zerschneidet Thunfischnetze. Wirft Stinkbomben. Schießt mit Wasserkanonen. Ihre Aktionen heißen "Leviathan" oder "No Compromise". Und "Blue Rage 2" ist der Name der Mission, die Sea Shepherd jetzt ins südliche Mittelmeer geführt hat. Ziel: zu verhindern, dass Fischer ohne offizielle Genehmigung den vom Aussterben bedrohten Blauflossenthunfisch fangen. "Wir sind keine Protest-Organisation", hatte Paul Watson vor dem Auslaufen der "Steve Irwin" in Sizilien gesagt.
"Wir schwenken keine Fahnen und bitten nicht unter Tränen um das Leben eines Tieres. Wir stoppen die Schlächter." Watson hat Sea Shepherd 1977 gegründet, bis heute führt er das Wort an Bord, er ist das Gesicht der Organisation. Ihre Motivation nach innen. PR-Maschine und Blitzableiter.
Wie alles begann
Mit einer Handvoll Atomwaffengegner hat der Kanadier Anfang der 1970er Jahre Greenpeace gegründet. Aber als die Organisation wenige Jahre später gegen die kanadische Robbenjagd protestierte, hatte Watson schnell genug davon, nur Plakate zu schwenken und Fotos zu machen, während wenige Meter entfernt Robbenbabys erschlagen wurden. "Wenn du jemanden siehst, der vergewaltigt wird, dann guckst du doch auch nicht nur zu", sagt er. "Du greifst ein." Also nahm er einem der Schlächter den Knüppel weg und warf ihn ins Wasser. Greenpeace ging das zu weit - bald darauf trennte man sich im Streit. Während Watson von den Greenpeace- Leuten meist als "diesen Anwälten und Feiglingen" spricht, nennen die ihn schlicht "den Irren". Trotz allem ist Watson noch Mitglied bei Greenpeace, Karteinummer: 007.
Watson wurde am 2. Dezember 1950 geboren, in Toronto, oder, wie er sagt: "Im Erbland der Huronen-Indianer." In der Provinz New Brunswick wuchs er auf: "Im Land der Algonquin Micmac." Er wurde von seinem Großvater erzogen, einem Mann, der als Junge aus Dänemark ausgewiesen wurde, weil er sich geweigert hatte, vor der Königin niederzuknien. Watsons bester Freund war damals ein Biber, Bucky. Der starb in der Falle eines Trappers. Und die Geschichte begann: Paul Watson gegen die Menschen, die Tiere töten.
Watson schiebt sich tiefer in seinen Stuhl. Jetzt, da das Leder ihn wie selbstverständlich umschließt, wird klar, dass es sein Sessel ist. Alle anderen, die während ihrer Schicht dort sitzen, haben den Platz nur geborgt. Während er redet, schreibt er weiter E-Mails. Beschimpft einen Thunfisch- Experten, fragt einen Greenpeace-Mitarbeiter, wo, verdammt noch mal, seine Organisation stecke, während vor der libyschen Küste die illegalen Fischer ganz sicher das gegenwärtige Machtvakuum dort nutzen und ihre Netze ausbringen ... Sollte er nicht lieber Verbündete finden, statt sich neue Feinde zu machen? Nein, Watson schüttelt den Kopf. Er glaubt, dass Veränderung immer von einzelnen ausgeht. Conan. John Wayne. Teddy Roosevelt. Es gehe nicht darum, möglichst viele Menschen vom Sinn des Meeresschutzes zu überzeugen. Es gehe um die Konsequenz einiger weniger.
"Sehen Sie, ich bin Kanadier, und wie ich hält die Mehrzahl der Kanadier das Abschlachten von Robbenbabys für eine widerliche Sache. Aber ändert das etwas?" Aber was ändert dann etwas? "Aggressive Nichtgewalt." Das heißt: Sei im Weg und zerstöre. Zehn Walfangboote habe Sea Shepherd schon versenkt, sagt Watson. Belegen lässt sich das immerhin in drei Fällen.
Eine Show mit bitterernstem Hintergrund
"Watson spielt mit den Medien", sagt Peter Hammarstedt, Erster Offizier an Bord, irgendwann zwischen Tür und Angel. Zur Crew gehören zwei Kameramänner; seit drei Jahren begleitet eine amerikanische TV-Reihe namens "Whale Wars" die Aktivisten im Kampf gegen den Walfang. "Whale Wars" war Watsons Idee, und er leugnet nicht, dass das Format aus dem Einsatz für die Tiere eine Show macht. Einerseits. Andererseits drängt es die Walfänger in die Defensive und bringt Sea Shepherd die nötige Popularität. Die Liste von Watsons Unterstützern liest sich denn auch wie der Abspann eines Hollywood-Blockbusters: Sean Penn und Uma Thurman, Michelle Rodriguez, Pierce Brosnan, Christian Bale und William Shatner. Martin Sheen, Mick Jagger, die Red Hot Chili Peppers. Wenige Leute mit viel Geld. Watson mag das: "Ich will nicht, dass Sea Shepherd sich zur Bürokratie aufbläht, die Millionen ausgibt, nur um weitere Millionen einzutreiben."
Sea Shepherd beschäftigt kaum 30 feste Mitarbeiter, für die sicherheitsrelevanten Jobs: Maschinisten, Steuermänner, Bootsmänner. Alle anderen: Freiwillige, die sogar die Kosten für ihre Anreise selber tragen.
Zwischen zwei E-Mails sieht Watson auf den Radar. Er zuckt zusammen. Ein kleiner Punkt. Ein Schiff. Es sollte dort nicht sein, Aultman hat das Gebiet im Hubschrauber doch schon abgesucht. Watson steht auf. "Okay", sagt er leise. Dann, lauter: "Siege gegen die Zerstörer währen nur kurz. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Ausrottung ist für immer." Die Siege: Im Jahr 2011 beendeten die Japaner ihre Walfangsaison in der Antarktis so früh wie noch nie. Die ständigen Angriffe der drei Sea-Shepherd-Schiffe machten die weitere Jagd unmöglich. War ursprünglich geplant, 850 Zwergwale abzuschießen, schaffte die japanische Flotte nur 170. Seit Jahren werden die Japaner von Sea Shepherd gerammt, blockiert, mit Buttersäure beworfen, mit Wasser beschossen.
"Aggressive Nichtgewalt"
Und weil sie sich wehren, mit Reizgas und Blendgranaten, eskaliert die Auseinandersetzung immer weiter. Im Januar 2010 kam es zu einem Zusammenstoß zwischen dem Sea-Shepherd-Schiff "Ady Gil" und dem japanischen Walfangschiff "Shonan Maru 2", in dessen Folge die "Ady Gil" sank. Aus Spendengeldern konnte Watson schon bald darauf ein neues Schnellboot anschaffen: die "Brigitte Bardot", benannt nach einer langjährigen Unterstützerin.
Darf man sich und andere in Lebensgefahr bringen wegen ein paar Fischen oder Walen? Wie weit darf Umweltschutz gehen? Watson hat längst gelernt,bei dieser Frage die Fassung zu wahren: "Es geht doch nur vordergründig um die Tiere. Wenn der Ozean stirbt, dann sterben wir auch." Tatsächlich produzieren die Meere nicht nur Nahrung - die Menschheit entnimmt ihnen knapp 90 Millionen Tonnen Fisch und andere Meerestiere im Jahr. Ozeane absorbieren auch ein Viertel des weltweiten CO2-Ausstoßes, wenn sie intakt und voller Leben sind. Bei Aktionen von Sea Shepherd, darauf legt Watson Wert, wurde noch nie jemand ernsthaft verletzt, weder Freund noch Feind. Zugegeben - er beobachtet den Radar, aus dem einen Punkt sind in 20 Minuten neun Punkte geworden -, zugegeben, er und seine Leute wurden schon oft verhaftet, bedroht, verklagt, aber verletzt? Er schüttelt den Kopf. "Noch nie."
"Man sollte mal analysieren, welche Leute mit welchen Interessen das Wort ‚Ökoterrorist‘ benutzen", knurrt Watson. "In einer Welt, in der die Chinesen den Dalai Lama einen Terroristen nennen, habe ich kein Problem damit, wenn die japanische Regierung auch mich als Terroristen bezeichnet." In einem seiner Bücher hat Watson geschrieben: "Du wirst nie fähig sein, die Wahrheit wahrzunehmen, die die eine Realität ist. Es gibt einfach verschiedene Wahrheiten."
So ist es eine Wahrheit, dass alle Schiffe von Sea Shepherd strikt alkoholfreie Zonen sind, eine andere, dass es montags eben doch Bier gibt. Eine Wahrheit ist, dass Paul Watson Veganer ist, eine andere, dass er auf dem Helikopterdeck hin und wieder eine Wurst grillt und beim Landgang auch nichts gegen Oktopus-Salat einzuwenden hat. Die Welt ist kompliziert. Man muss pragmatisch bleiben.
"Aggressive Nichtgewalt" im Namen des Gesetzes
Dann blickt Watson wieder zum Radar. Sieht nach einer großen Operation aus. Noch ein paar Stunden, bis die Punkte erreicht sind. Er sieht auf die Uhr. Thunfisch? Er nickt. "Mitten in der Saison? So viele Boote? Thunfisch." Er greift das Telefon von der Wand und wählt eine Nummer. Der Bootsmann nimmt ab. Die Schnellboote müssen früh am Morgen startklar sein. Wird erledigt. Die "aggressive Nichtgewalt" kann beginnen.
"Wir versuchen Gesetze durchzusetzen, um die sich sonst niemand kümmert. Das ist alles." Oder gibt es etwa keine Fangquoten? Oder ist der Walfang im Südpolarmeer nicht verboten? Watson zuckt mit den Schultern. Sicher, sagt er, es wäre ihm auch lieber, wenn die internationale Gemeinschaft ihre Probleme selber löste, aber solange das nicht der Fall sei, werde sich Sea Shepherd darum kümmern.
Im Oktober 1982 verabschiedete die UNO die "World Charter for Nature": "Staaten und, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, andere Behörden", heißt es dort, "internationale Organisationen, Individuen, Gruppen und Konzerne sind verpflichtet, die internationalen gesetzlichen Bestimmungen zur Bewahrung der Natur anzuwenden." Sea Shepherd beruft sich auf diesen Beschluss. "Vielleicht", sagt Watson, gießt sich Tee ein und sinkt wieder in seinen Sessel, "sollten sich alle noch mal ausruhen. Es wird früh losgehen."
Am nächsten Morgen, um halb sechs, sind aus den Punkten auf dem Radar Schiffe am Horizont geworden. Netze hängen im Wasser. Niemand auf der "Steve Irwin" zweifelt daran, dass die da drüben Thunfisch fangen. Aber wohin bringen sie ihren Fang? Die Männer auf der Brücke suchen mit Ferngläsern den Horizont ab, Watson steht vor seinem Sessel. "Hinten links: Ist das ein Kühlschiff?" Alle Ferngläser schwenken. Die Kühlschiffe übernehmen die Ladung auf hoher See, sodass die Trawlerbesatzungen keine Zeit in einem Hafen verschwenden müssen.

"Wann ist der Helikopter einsatzbereit?" Die Frage geht unter in einem Schrei. "Vorne!" So nahe, dass man hinschwimmen könnte, treibt ein Ringwadennetz im Wasser, 50 Meter Durchmesser, vermutlich genauso tief. Drei tote Blauflossenthunfische treiben an der Oberfläche. Immer wieder schäumt das Wasser. Ein ganzer Schwarm. Haben es die Fischer auf Jungtiere abgesehen? Für deren Fang gilt: Er ist illegal. Dass Jungtiere dennoch gefangen und in "Thunfischfarmen" geschleppt werden - wen interessiert das schon mitten auf dem Meer?
Dabei ist "Farm" das falsche Wort, denn die Tiere werden dort nicht gezüchtet, nur gemästet. Um ein Kilogramm Thunfisch zu gewinnen, muss man allerdings 20 Kilogramm Fisch verfüttern. Eine Thunfischfarm erhöht daher den Druck auf die wilden Fischbestände. Und Thunfischnachwuchs wird dort nie gezeugt.
Mit Buttersäure gegen Fischer
Dann geht der Alarm los. Ein einziges langes Tuten bedeutet "Schiff auf Kollisionskurs". Es kommt nahe, sehr nahe. Es trägt einen spanischen Namen, hat aber eine tunesische Flagge. Nicht ungewöhnlich - viele Schiffe, die unter Billigflagge fahren, gehören eigentlich Reedern in der EU. Die Gemeinschaft zahlt indirekt sogar eine Prämie für das Ausflaggen alter Schiffe, schließlich tauchen sie dann in der Flottenstatistik der EU nicht mehr auf. Und weil für das Umflaggen nur ein Faxgerät benötigt wird, kann ein Schiff als französisches auslaufen, unter tunesischer Flagge Fische laden und als Schiff aus Belize wieder einlaufen: Strukturen, die kaum zu kontrollieren sind.
Zumal die wahren Profiteure in Japan sitzen. Das Land ist der größte Importeur von Thunfisch. Etwa 80 Prozent der Fänge aus dem Mittelmeer gehen dorthin. Beherrscht wird das Geschäft mit dem Blauflossenthun von einem Kartell japanischer Konzerne. An der Spitze: Mitsubishi, Autohersteller, Elektrogigant, größ ter Thunfischhändler der Welt. Das Unternehmen besitzt eine gigantische Reserve: Bei minus 60 Grad Celsius lagern in Japan mehrere 10 000 Tonnen Blauflossenthun. Das Interesse der Japaner, den Bestand im Mittelmeer zu schützen, ist deshalb überschaubar, verfügen sie im Fall des Arten-Kollapses doch für Jahre über Vorräte. Und deren Preis steigt, je weniger Fisch es gibt.
Das Schiff kommt näher. Der Bootsmann betritt gehetzt die Brücke, um Anweisungen zu geben. "Wir erwarten Action. Falls jemand an Deck will: ab jetzt nur noch festes Schuhwerk." Zwei Trawler schieben sich vor den Käfig. Wie Wächter. Um wie viel Fisch es geht, kann niemand sagen, solange nicht getaucht wurde. Die "Steve Irwin" zieht Kreise um den Käfig.
"Die Taucher sollen sich bereithalten", sagt Watson knapp. Lächelt er? Ein weiterer Käfig kommt in Sichtweite, von drei Trawlern beschützt. Plötzlich ist die "Steve Irwin" von Schiffen eingekesselt. Jemand sagt: "Die kommen verdammt nahe." Dann fliegen die ersten Metallteile. Die Besatzung der Trawler wirft Kettenglieder, Steine, altes Werkzeug. "Jeder, der nicht an Deck sein muss: runter!" "Was passiert denn hier?" "Wo ist der Arzt?"
"Schnellboot fertig machen." Watsons Stimme ist ganz ruhig. "Seil ins Wasser." Im Heck beeilt sich eine Handvoll Männer, ein langes Tau ins Wasser zu werfen. Es soll verhindern, dass andere Schiffe zu nahekommen, birgt ein Seil doch die Gefahr, dass deren Schraube sich darin verheddert. Das Schnellboot wird zu Wasser gelassen, setzt mit voller Fahrt auf und steuert die Käfige an - ein Ablenkungsmanöver. Es funktioniert. Sofort dreht eines der Schiffe ab. Die Besatzung der "Steve Irwin" beginnt, die Wasserkanone vorzubereiten. "Schießt keinen von Bord", sagt Watson, "aber lasst sie wissen, dass wir eine Kanone haben."
Mit Buttersäure gegen illegale Fischer
Auf der Brücke der "Steve Irwin" erscheinen Crewmitglieder mit Helmen und Plastikschildern; bewaffnet sind sie mit Bierflaschen voller Buttersäure. Metallteile regnen auf ihre Schilde herab, die Umweltkämpfer antworten mit Flaschenwürfen. Die Säure stinkt nicht nur, sie ist auch glitschig wie Seife. Der Effekt stellt sich schnell ein: Die Treffgenauigkeit der Fischer nimmt ab. Watson berät sich mit seinem Ersten Offizier. Warum sollten die Fischer so aggressiv reagieren, wenn sie legal fischen würden? Er setzt sich auf seinen Kapitänsstuhl und legt die Füße hoch. Kontrolle zurückgewonnen. Er schaltet den Computer an und lässt die Welt wissen, dass die Schlacht um den Thunfisch in diesem Moment stattfindet.
Dann steht er auf, nimmt das Funkgerät und sagt zu den Fischern: "Wir greifen jetzt eure Käfige an." Es ist eine leere Behauptung - solange nicht feststeht, dass der Fang illegal ist, wird Watson nicht den Befehl zum Zerstören der Netze geben. Es bringt nichts, schadet nur, sich ohne Not selbst ins Unrecht zu setzen. Auf der Brücke der "Steve Irwin" hören die Männer den Funkverkehr der Fischer ab. Watsons Finte ist bei ihnen angekommen. Die Fischer fluchen, geben einander die Schuld: Musste man die attackieren? Das sind doch diese Irren. Verdammt!
Watson legt nach: "Unsere Taucher sind schon im Wasser." Der Funkverkehr auf den tunesischen Schiffen wird noch hektischer. "Gegen die Verrückten", ruft jemand, "o Gott!" "Bleibt ruhig", versucht ein anderer zu beschwichtigen. "Hey, Wilson", sagt jetzt ein Mann auf Französisch. Er meint offensichtlich Watson. Sein Akzent verrät seine Herkunft aus Marseille. "Wilson, wir kennen dich. Aber wir gewinnen."
Watson lächelt, er freut sich, dass sein Ruf ihm vorauseilt. Und dann klingt er plötzlich sehr offiziell. Er räuspert sich und weist den Franzosen darauf hin, dass er keine Jungtiere fischen dürfe, was er sicherlich wisse, aber der Verdacht liege doch nahe. Er, Watson, bitte um Erlaubnis, die Käfige inspizieren zu dürfen, verweise auf sein Recht als Bürger in internationalen Gewässern. Man könne auf die Kontrolle verzichten, wenn ein Kontrolleur von ICCAT an Bord sein sollte, der die Unbedenklichkeit des Fanges bestätigt. ICCAT, die International Commission for the Conservation of Atlantic Tuna, ist die Vereinigung Thunfischfangender Länder. Sie reguliert den Fang des Blauflossenthunfischs. Aber ihre Richtlinien gehen Umweltschützern, Wissenschaftlern, Meeresbiologen, eigentlich jedem, der sich mit dem Thema beschäftigt und der kein Fischer ist, nicht weit genug.
ICCAT, sagen sie, stehe in Wahrheit für: "International Conspiracy to Catch All Tuna". Auch Sea Shepherd hat das Übereinkommen oft kritisiert. "Wir kontrollieren hier die Einhaltung von geltenden Regeln - auch wenn wir glauben, dass sie nicht ausreichen, um die Bestände vor dem Zusammenbruch zu schützen", sagt der erste Offizier Peter Hammarstedt. Er stützt sich auf die Arme und fixiert das Funkgerät, wartet auf eine Reaktion des Mannes aus Marseille. Sollte sie ausbleiben, wäre das ein weiteres Indiz, dass der Fang illegal ist. "Die ICCATQuoten", sagt Hammarstedt, "sind schlicht die einzige rechtliche Grundlage, die es gibt. Wir haben keine andere."
Dann, nach zwei langen Minuten knackt es im Funkgerät: "Ja, ja, wir haben einen Inspekteur an Bord, aber der hat gerade zu tun." "Können wir bitte mit ihm sprechen." "Er ist auf einem Schiff, das kein Funkgerät hat. Unser Fang ist legal." "Wir würden das aber gern von einem ICCAT-Mitarbeiter hören, der sich ausweisen kann." "Das verstehen wir ja, aber leider kann er kein Englisch." "In unseren Unterlagen tauchen manche Ihrer Schiffe nicht als zum Fang legalisiert auf."
Gefecht mit Fischern
"Doch, doch. Hier ist alles rechtens." Mittlerweile werden weniger Metallteile geworfen, die "Steve Irwin" und die Trawler stehen sich gegenüber wie vor einem Duell. Auf der Frequenz der Fischer sagt jemand: "Die fragen nach einem Inspekteur, was tun?" Gespannte Erwartung. Niemand auf der Brücke der "Steve Irwin" redet. Und dann: Was war das? Hat einer der Fischer gerade ernsthaft die französische Marine zu Hilfe gerufen?
Es bleibt nicht viel Zeit, sich darüber zu wundern. Von einem der Trawler wird nun ebenfalls ein Schnellboot zu Wasser gelassen. Zwei Mann sind an Bord, einer schwingt ein Seil in der Hand, wie ein Lasso. Watson sagt nichts, er überlässt die Arbeit seinem Ersten Offizier Hammarstedt. "Oh, oh", macht der. Wenn sie das Seil in die Schraube bringen, wäre die "Steve Irwin" manövrierunfähig, mitten auf dem Mittelmeer, unter lauter feindseligen Fischern. "Maschinenraum. Wie ist der Status der Wasserkanone?" "Noch fünf Minuten, um genug Druck aufzubauen." "Jesus, könnt ihr euch nicht beeilen?" Eine Minute später ruft der Maschinenraum: "Druck klar."
Gefecht mit Fischern
"Abschießen", sagt Hammarstedt knapp. Watson zieht die Augenbrauen hoch, und sein erster Offizier schiebt schnell hinterher: "Aber niemanden verletzen." Zwei Mitglieder der Crew, behelmt, feste Schuhe, halten mit der Kanone auf das Schnellboot, treffen aber nicht. "Seil im Wasser", schreit Hammarstedt. "Hart backbord." Die "Steve Irwin" dreht nach links, dennoch: Sekunden später ist ein lautes schlurfendes Geräusch zu hören. Hammarstedt verzieht das Gesicht, Watson beißt die Zähne aufeinander. Aber das Schiff bleibt steuerbar. Noch mal Glück gehabt.
Kurz darauf überfliegt tatsächlich ein Aufklärungsjet der französischen Marine die "Steve Irwin". Dreht ab, kommt zurück, tiefer. Über Funk meldet sich die weiche Stimme eines Piloten und sagt in singendem Französisch: "Bitte entfernen Sie sich sofort. Sie gefährden die maritime Sicherheit." Watson bedankt sich sarkastisch für den Schutz durch die Marine und weist darauf hin, dass die Schifffahrt auf dem Mittelmeer erlaubt sei, oder? Ein anderer Mann schaltet sich ein, er stellt sich als Kapitän eines französischen Kriegsschiffes vor, ein sehr großer Punkt auf dem Radar. Er halte Abstand, wolle aber Bescheid sagen, dass er in der Nähe sei, man könne ja nie wissen. Watson wiederholt ständig einen Satz: "Wir wollen nur den Beweis sehen, dass dieser Fang legal ist." Als sich schließlich von einem der Trawler eine Stimme in gebrochenem Englisch meldet, um diesen Beweis zu liefern, klingt sie verdächtig nach dem Mann aus Marseille.
"Ich bin ein ICCAT-Mitarbeiter", sagt die Stimme. "Haben wir nicht eben schon gesprochen?", fragt Watson. "Nein." "Kann ich mit dem Kapitän reden." "Der ist beschäftigt." "Weil er sich als ICCAT-Inspekteur ausgibt?" "Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich bin ein ICCAT-Inspekteur." Der Mann nennt eine Kontrolleurnummer, die es nicht gibt, und weigert sich, Einzelheiten über seine Rolle bei ICCAT preiszugeben. Egal, sagen die Männer von der französischen Marine eindringlich, wo liegt das Problem? Offensichtlich ist doch jemand an Bord, der den Fang kontrolliert und bestätigt, dass alles seine Ordnung hat. Ende der Diskussion.
"Und jetzt verlassen Sie bitte das Gebiet", ist die letzte Order der Marine an Watson. Als Bitte formuliert, als Befehl betont. Die Schlacht ist entschieden. Am Abend sitzt Watson beim Essen und sagt keinen Ton. Waren die Fischer schuldig, haben sie die Regeln gebrochen? Das ist nun nicht mehr zu beweisen. Es gibt eben verschiedene Wahrheiten. Nur Aussterben, das ist für immer.