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Naturschutz Mehr Wildnis wagen!

Ungezähmte Natur in Deutschland: eine Illusion. Noch im Nationalpark wird Management betrieben. Aber einige Ökologen gehen jetzt weiter - und fordern Freiräume ohne jeden Eingriff

Inhaltsverzeichnis

Urviecher als Naturschützer

Die Wildnis beginnt hinter vielfachem Elektrozaun. Mannshoch gespannte Drähte grenzen einen ungeordneten Baumbestand ab. Kiefern, aus deren Zweigspitzen frische Triebe drängen, umschlingen einander, Birken lassen ihre jungen Blätter flattern. "Wildnisgebiet" steht auf einem Warnschild und "Betreten verboten!".

Der Sicherheitsdraht soll das vielleicht Un- gestümste an Fauna einhegen, das derzeit über Deutschlands Naturflächen stapft: eine Herde Wisente. Fast 30 Wildrinder bahnen sich ihre Trampelpfade durch das Kerngebiet des stillgelegten Militärareals. Jahrzehntelang mahlten hier russische Panzerketten durch den Sand. Heute gehören die 3600 Hektar, die sich westlich vom Berliner Bezirk Spandau bis an die Außenränder Potsdams erstrecken, zum Tafelsilber der Heinz-Sielmann-Stiftung.

Urviecher als Naturschützer

Die Wisente dürfen im Winter täglich am Schaugatter bestaunt werden. Dennoch sind sie keine Museumsstücke, im Gegenteil. Die bis zu 900 Kilogramm schweren Tiere haben eine Aufgabe: fressen. Sie sollen Gras, Schösslinge, frische Triebe, jungen Wald "verbeißen" - und so verhindern, dass ein geschlossener Baumbestand heranwächst. Mithilfe der einst überall in Europa heimischen Großtiere soll sich die Landschaft in das verwandeln, was sie einmal war - vor Tausenden Jahren.

Naturschutz: Naturschützerischer Großversuch: Die Döberitzer Heide, ein ehemaliger Truppenübungsplatz der Bundeswehr
Naturschützerischer Großversuch: Die Döberitzer Heide, ein ehemaliger Truppenübungsplatz der Bundeswehr
© Berthold Steinhilber/laif

In der Döberitzer Heide testen die Sielmann- Biologen ein ungewöhnliches Naturschutzmodell. Es kommt weitgehend ohne menschliche Steuerung aus; und ohne kostspielige Pflegemaßnahmen. Ohne teure Mahd und Baumschnittarbeiten. Ohne Eingriffe seitens der Förster und Jäger. Und im Prinzip auch ohne Naturschützer. Die Sielmann-Wildnis bricht mit vielen Kontrollaufgaben, die Ökologen bislang lieb und teuer waren. Dafür muss sie hinter Elektrodraht.

Es ist kein Zufall, dass die Döberitzer Heide nicht den Status eines Nationalparks hat und dafür vorerst auch nicht infrage kommt. Sie ist nicht einmal sonderlich bekannt. Die Zugänge verstecken sich in Feldeinfahrten, die wenigen Wege sind wegen Munitionsräumung immer mal wieder gesperrt.

Ökologen sind uneins

Die Vision einer vom Menschen gänzlich unabhängigen Wildnis, die auf dem Sielmann-Areal wiederauferstehen soll, ist in Deutschland heiß umkämpft. Der Großtierversuch im Berliner Umland stößt eine Kette von empfindlichen Naturschutz- Fragen an, über die in den Reihen der Ökologen tiefer Zwist herrscht. Aber sein Erfolg könnte mit darüber entscheiden, ob Deutschland es schafft, einen minimalen Rest an Refugien unberührter Natur zu erhalten. Denn die Zeit läuft davon. Sang- und klanglos haben Umweltpolitiker das europaweite "2010-Ziel" zu Grabe getragen, welches vorsah, das Verschwinden von Arten und Lebensräumen in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts zu stoppen. Kaum etwas hat sich getan. Trotz Hege und Pflege schmelzen die Bestandszahlen dahin. Bedroht ist vor allem Offenland, sind Magerrasen, Wiesen, Heiden, lichte Wäldchen, Bachufer.

Um dem zu begegnen, hat die Bundesregierung einen weiteren Stichtag eingeführt. "Bis zum Jahr 2020 kann sich die Natur auf mindestens zwei Prozent der Landesfläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln", formulierte das Bundeskabinett 2007 in seiner "Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt". Derzeit liegt der Anteil bei geschätzten 0,6 Prozent.

"In der Ökologie herrscht akuter Pflegenotstand", sagt Ulrich Simmat, Projektkoordinator der Sielmann-Stiftung. Denn die klassische Betreuung eines Hektars Öko-Wiese kann jährlich über 400 Euro kosten - etwa für die Mahd zur rechten Zeit, Verbissschutz oder Pflanzarbeiten. Zu Buche schlägt aber auch das ökologisch fragwürdige Ausbaggern von Drainage-Gräben, das von den Wasserwirtschaftsämtern vorgeschrieben ist, oder die "Verkehrssicherungspflicht": In der Nähe aller Wege, aber auch aller befahrbaren Gewässer, ist jeder bruchgefährdete Baum zu fällen.

Ein Eichennationalpark muss her!

Weil Naturbewahrung dermaßen teuer ist, kommt es in Deutschland zu einem einmaligen Schutz-Stau, von dem die Öffentlichkeit allerdings wenig Notiz nimmt. An Flächen, auf denen man die Landschaft sich selbst überlassen könnte, mangelt es nämlich hierzulande nicht. Noch immer stellt der Staat laufend Areale, vor allem ehemalige Truppenübungsplätze, aus seinem Vermögen zur Verfügung. Aber die Naturverbände heben abwehrend die Hände: zu teuer. Zwar sollen insgesamt rund 120 000 Hektar dieser Flächen eigentlich den Schutz- und Pflegeverbänden und den Ländern unterstellt werden, ein Drittel davon wird die Bundesstiftung Umwelt als "Nationales Naturerbe" bewirtschaften. Aber viel kostbares Land verwandelte sich schon in private Jagden, in Maisäcker oder Aufstellflächen für Windparks.

Große Grasfresser als Kostensparer

Für eine wachsende Fraktion von Ökologen ist die Wisent-Variante - auch andere Wildrinder oder urtümliche Pferderassen ständen zur Wahl - deshalb ein Ausweg aus dieser Klemme. Wenn sie mit ihrer Hilfe beweisen könnten, dass es viel billiger ist, die Natur frei walten zu lassen, so die Strategie, dann ließe sich mehr Wildnis fast von allein durchsetzen. Nicht als ökologische Zwangsverordnung. Sondern als Kostensparmodell. Das sielmannsche Laissezfaire- Experiment könnte demnach weitreichende Folgen für deutsche Landschaften haben. Wildnis gratis - so etwas ließe sich doch vielleicht an jeder Ecke einrichten?

Aber was ist überhaupt Wildnis? Und welche Landschaft müssen wir rekonstruieren? Tiefe Uneinigkeit herrscht darüber, wie "echte Natur" ohne Zutun des Menschen in unseren Breiten einst ausgesehen hat. War das heutige Deutschland einst von undurchdringlichem Buchenwald bedeckt, wie die Mehrheit der Ökologen glaubt? Oder war es eine lockere Steppe mit lichten Eichenwäldchen, durch die Herden von Grasfressern zogen?

Bislang dominiert das Leitbild "düsterer Germanenwald" die deutsche Umweltpolitik - und die Buche den Forst. "Alle Wald-Nationalparks sind Buchenparks", klagt Edgar Reisinger, Ökologe bei der Thüringischen Landesanstalt für Umwelt und Geologie in Weimar und 1992 maßgeblich verantwortlich für die Umwandlung des vielleicht bekanntesten Buchenwaldes, des Hainich, in ein Großschutzgebiet.

Eine Eichennationalpark ist überfällig

Heute ist für Reisinger ein mithilfe großer Weidetiere geschaffener "Eichennationalpark" überfällig. Während Buchen allerorts gedeihen, verschwindet die Eiche aus der Landschaft, beobachtet der Ökologe - und mit ihr vergehen Abertausende von Insekten, Kleinstlebewesen, Vögeln und Säugetieren. Eichen sind Lichtbäume - sie wachsen nicht in düsteren Schlägen, sondern als vereinzelte Methusalems in Landschaften, die eher an Streuobstwiesen erinnern. Die Eiche ist Schlüsselgewächs für eine unüberschaubare Zahl von Lebensgemeinschaften. An kaum einen europäischen Baum ketten sich mehr Arten. So sind etwa seltene Großkäfer wie der Eremit auf Mulm von Eichenstämmen als Kinderstube angewiesen.

Solche Vernetzungen zeigen an, dass sich ein Ökosystem über lange Zeiträume stabil entwickeln konnte. Für Reisinger beweisen sie, dass die Eiche einst eine größere Rolle gespielt hat, als ihr von Schützern heute zugestanden wird. Buchenwälder hingegen, so meint er, sind ökologisch jung: Sie bedeckten erst dann großflächig den Kontinent, als prähistorische Jäger alles große Wild erlegt hatten.

Reisinger ist von der Idee eines Eichennationalparks begeistert, weil sich dort viele Arten retten ließen, die in der Agrarsteppe verlöschen. Aber der Weimarer Ökologe ist nicht nur vom ökologischen Wert der Großtier-Wildnis überzeugt. Er hält sie sogar für eine Methode, um viel Geld zu verdienen. Als deutscher "Safaripark" könnte ein solches Reservat, so glaubt er, deutlich mehr zahlende Besucher anlocken als ein herkömmlicher Nationalpark und so zum Zugpferd für eine ganz neue Art des Wildnisschutzes werden.

Die erste deutsche Weidewildnis

Wer den Keim der von Reisinger vertretenen Hypothese sehen will, muss Margret Bunzel-Drüke in der westfälischen Lippe-Niederung besuchen. In dieser Flussaue half eine historische Sternstunde 1991, die erste deutsche Weidewildnis einzurichten. Als die von einem kanalartigen, geschotterten Korsett umschlossene Lippe renaturiert werden sollte, bot Bunzel-Drükes "Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz" die Pflege der Auen an - mit Großrindern und mit Nichtstun. Wundersames geschah sodann im Land der Flurbereinigung und Gewässerbegradigung: Bagger rissen Deiche auf, schoben Sand in die Flussmitte, blockten Drainage-Gräben. Und Bunzel-Drükes Großvieh begann sein Werk: Gemächlich äste es in den geschwungenen Auen, stampfte beim Saufen Schlammlöcher am Flussrand, ließ dorniges Gebüsch stehen, in dem der Neuntöter nistet und kleine Eichen sprießen. Schwarz umspielt das Wasser heute Sandbänke und tote, in den Fluss gelegte Baumriesen.

Schmerzhafter Kontrollverlust

"Das zu sehen tut den Förstern natürlich weh", sagt Bunzel-Drüke und deutet auf die Stämme. Damit legt sie den Finger auf die schmerzhafte Stelle beim Wildweide-Kontrollverlust: Wer sich darauf einlässt, muss die wirtschaftliche Nutzung der Landschaft zurückstellen. Vor allem die Holzernte. Aus der Perspektive von Forstleuten muss das Wildnis- Konzept, wo Rindvieh junge Schösslinge verbeißen und wertvolles Altholz in aller Stille umkippen darf, geradezu wie das Rezept zu einem neuen Waldsterben wirken.

Auch in Nationalparks wird nach wie vor auf einen guten Holzbesatz geachtet. Die Naturreservate sind selten wirre Brachen wie in Döberitz, wo das Auge in der endlosen Wiederholung von Sandinseln, Grasflecken und krummen Stämmchen kaum Halt findet. Viele ähneln immer noch gepflegten Hochwäldern. Nach wie vor rumpelt selbst in die Schutzgebiete schweres Gerät mit Ketten und Greifarmen, um Stammholz zu entnehmen. Nur auf 0,6 Prozent der deutschen Waldflächen wird kein Holz gemacht - ob- wohl allein 17 Prozent nach EU-Richtlinien als Flora-Fauna-Habitate besonders geschützt sind.

"Häufig sind Nationalparkdirektoren Förster", meint Bunzel-Drüke. "Sie haben gelernt, dass ein Wald ein Wirtschaftsstandort ist. Ein Holzacker." Ähnliches beobachtet auch der deutsche Naturschutz- Doyen Michael Succow: "Die ältere Förstergeneration sagt: ‚Ein Wald muss genutzt werden. Auch ein Naturschutzgebiet muss genutzt werden.‘"

Nutzungsinteressen versus Naturschutz

Den Biologen René Krawczynski, der bei der Bundesstiftung Umwelt für die Verwaltung des "Nationalen Naturerbes" zuständig ist, regt eine solche Praxis so auf, dass er generell nur von Pseudonationalparks spricht. Und die alten Sünden der Naturverwaltung werden nicht nur in den Großschutzgebieten munter weiter begangen. Auch auf den Bundesflächen, die Krawczynski und Kollegen verwalten, ist gegen Nutzerinteressen und behördliche Auflagen wenig auszurichten. "Man kann ja nicht Hunderte von Forstarbeitern entlassen", sagt Krawczynski. So machen diese auch in Schutzge- bieten einfach weiter wie bisher: Bäume fällen, Wege sichern, Totholz entfernen, Rehe schießen.

Nach der Definition des IUCN, der globalen Dachorganisation für Naturschutzverbände, erreicht ohnehin kein einziger deutscher Nationalpark die Kriterien für "Wildnis", nämlich ein ausgedehntes ursprüngliches Gebiet zu sein, das seinen unberührten Charakter bewahrt hat. Solche Regionen gelten als "Wildnisentwicklungsgebiete", als Räume mit Potenzial sozusagen - um das aber zu realisieren, müsste man loslassen lernen.

In der Praxis bleibt es bei ökologischer Zentralverwaltungswirtschaft und aufwendigen Simulationen natürlicher Abläufe. Allein die naturschutzfachlich begründete Abschussjagd ist ein Eingriff ohnegleichen. Aus Nationalparks wird das Wild systematisch herausgeballert, damit es nicht die Bäume dezimiert - im Bayerischen Wald etwa fallen zu Beginn jedes Jahres Hunderte Rothirsche. Dabei wäre es für den Wald möglicherweise besser, stellenweise ausgelichtet zu werden.

Fast scheint es: Naturschützer sind ebenso dem Kontrollwahn verfallen wie Forstwirtschaftler. Margret Bunzel-Drüke stellt gern eine Frage: "Was täten ein deutscher und ein afrikanischer Nationalparkdirektor, wenn sie ihre Posten tauschen müssten?" Antwort: "Der Deutsche in Afrika ließe Antilopen und Elefanten schießen, wenn sie die Bäume dezimierten. Der Afrikaner in Deutschland holte die für einen ökologischen Kräfteausgleich fehlenden Tiere in den Park: Großrinder, Wildpferde, Wölfe, Luchse, Bären."

Weg mit der Naturkontrolle!

Um den hiesigen Hang zur Naturkontrolle zu verstehen, hilft ein Blick zurück in die Zeit der Romantik. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Kahlschlag für die Öfen der beginnenden industriellen Revolution die dunklen deutschen Höhen arg gelichtet. Quasi als erste Öko-Fraktion beschworen damals Dichter die Waldeinsamkeit, die in Wahrheit nur noch Erinnerung war. Um die Wiederaufforstung schließlich durchzusetzen, kamen keine Poeten zum Einsatz. Stattdessen wurde die Forstverwaltung von Grund auf neu organisiert und am Militär ausgerichtet: Der staatliche Förster mit Uniform und Flinte sorgte dafür, dass die Bäume in Reih und Glied wuchsen. Die Idee, dass nur ein aufgeräumter ein guter Wald sei, nistete sich tief in der Vorstellung ein, bis heute. So gibt ein Großteil der befragten Jugendlichen im 2010 veröffentlichten "Jugendreport Natur" des Marburger Natursoziologen Rainer Brämer an, ein Wald müsse geordnet aussehen, ohne herumliegendes Totholz.

Mit anderen Worten: Es gibt zwar in Deutschland das Ziel, mehr ungezähmte Natur zuzulassen. Aber wir stellen uns bei dem Versuch, es zu erreichen, selbst ein Bein. Denn wir können uns hierzulande Natur überhaupt nur als gezähmt vorstellen. Darum versuchen wir mit allen Mitteln, Natur zurechtzupflegen. Das kostet eine Menge Geld - und zur Wildnis führt es auch nicht. Ein kontrollierter Kontrollverlust dagegen scheint eine effizientere Strategie, zumindest einen Teil der ehrgeizigen Pläne der Regierung zu erfüllen. Vielleicht ließe sich daraus sogar eine neue Nationalparkidee entwickeln. Die Idee für ein Schutzgebiet, in dem weder ein vorgegebener "optimaler Zustand" angestrebt noch ein museales Biotop gepflegt wird. Eine Landschaft, in der die Natur walten darf, aber eben auch der Mensch, als ihr Teil. Eine Natur, die allen Spezies, die sie historisch hervorgebracht hat, dient, Biber und Uhu, Wisent und Wolf, Bläuling und Bibernelle, auf dass diese ihre Verhältnisse selbst regeln, auf alte, blutige Art und Weise, aber ohne Schusswaffengebrauch durch Homo sapiens.

Freie Wildnis für freie Menschen

Es wäre eine Wildnis, in der es keine Flussdeiche gibt, keine Teerstraßen, keine Hochstände - und keine Zäune. Ein Reservat, durch das keine Forststraßen schneiden, wo Bäume nicht hektarweise gefällt würden, sondern einzeln, sorgfältig ausgewählt. Eine Wildnis, in der die Bäche selbst bestimmen, wie sie fließen, und nicht die Behörden. Eine Wildnis, zu der die Menschen unbeschränkten Zutritt haben, um ebenfalls - für ein paar Stunden - frei zu sein. Eine solche Landschaft böte auch der Seele ein Reservat. Einen Ort, an dem Kinder nicht wie heute in die mit Computer-Artefakten vollgestopften "Erlebniszentren" vieler Nationalparks abgeschoben werden, sondern draußen Flüsschen stauen, Schösslinge umsägen, Gras rupfen und natürlich - größter Frevel in deutschen Schutzgebieten - ein Lagerfeuer entfachen wie die Indianer. Denn "Wildnis ist dort", sagen die amerikanischen Umweltpädagogen Gary Paul Nabhan und Stephen Trimble, "wo man unbeschränkt spielen kann."

Es gab in Europa eine Zeit, in der Menschen mit der Landschaft auf eine ähnliche Weise umgingen. Es war die Zeit der "Allmende", der Gemeingüter- Wirtschaft, wo Dörfler Kühe zur Mast in den Wald trieben und gemeinsam das Gras mähten - gerade so, dass niemand zu viel von der kostbaren Ressource nahm und deren Produktivkraft für die Zukunft erhalten blieb.

Hutewälder schufen Artenvielfalt

Es ist kein Zufall, dass diese Epoche eine der größten Biodiversitäten der jüngeren Geschichte hervorbrachte. Die Zeit der lockeren "Hutewälder", in denen das Vieh frei grasen durfte, schuf jene in unserem kulturellen Gedächtnis verankerten Eichenhaine mit ihren Lichtungen und ihren wilden Blumen, wo Rotkäppchen unter Bäumen seiner Großmutter einen Strauß pflücken konnte.

Möglicherweise stellte diese extensiv genutzte Bauernlandschaft unfreiwillig ein erstes Abbild der 6000 Jahre zuvor verschwundenen prähistorischen Wildnis dar. Sie war ein funktionsfähiger Ersatz für die Ursavanne, ohne als solche geplant gewesen zu sein. Im Zeitalter der totalen Agrarindustrie könnte die Idee der wilden Waldweide demnach ein anderer, zeitgemäßer Notbehelf sein, die ursprüngliche Wildnis zurückzurufen. Es wäre ein großer Schritt, wenn Ökologen wie Krawczynski, Reisinger und Bunzel-Drüke ihre Vision eines Eichennationalparks auf einem der riesigen Militärareale, die noch im Bestand des Verteidigungsministeriums liegen, verwirklichen könnten. Eine "deutsche Serengeti" wäre ein Schritt hin zur Wildnis als Gemeingut, zu einer Landschaft, die allen gleichermaßen zusteht. Ein Schritt zum Begreifen, dass Wildnis zuzulassen heißt, das Leben so zu gestalten, dass es nicht leerer, sondern voller wird.

Die "Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt"

GEO SPECIAL Nr. 2/2012 - Natur-Erlebnis Deutschland

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