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Slum-Architektur Mehr als nur ein Dach über dem Kopf

Über 800 Millionen Menschen auf dieser Welt leben in Slums. Ein 300-Dollar-Haus könnte die Lösung für sie sein
Slum-Architektur: Township in Cape Town, Südafrika
Township in Cape Town, Südafrika
© David Forman/Photolibrary/Getty Images

Armut macht erfinderisch, überall auf der Welt. Menschen in den Favelas von Rio de Janeiro, in den shantytowns von Mumbai und in den pueblos jóvenes von Lima beweisen täglich ihre Kreativität. Die Abfallberge an den Stadträndern dienen den Slum-Bewohnern als Rohstofflager. Alte Schrauben, Wellbleche, Plastiktaschen, Holzlatten, Kisten, fast alles findet Verwendung zur Aufbesserung der eigenen vier Wände.

Die existenziellen Sorgen aber bleiben. Etwa wenn der Monsun schon wieder das Dach abdeckt und die Schulbücher der Kinder tränkt. Wenn das Trinkwasser unangenehm riecht oder wenn das Strohdach abbrennt, was in der beißenden Sommerhitze nur eines Funkens bedarf. Schätzungen der UNO zufolge leben weltweit über 800 Millionen Menschen in sogenannten informellen, notdürftig zusammengezimmerten Behausungen. Weitere 100 Millionen müssen gar ganz ohne Dach über dem Kopf auskommen: mehr als zwölfmal so viele, wie die Schweiz Einwohner hat.

Erschwingliche Häuser für Arme

Ein globales Problem bedarf einer globalen Lösung, finden die beiden in den USA lebenden gebürtigen Inder Vijay Govindarajan und Christian Sarkar. Im Jahr 2010 lancierten der Professor für International Business an der Tuck School of Business in Dartmouth und der selbstständige Unternehmensberater eine kühne Idee: das 300-Dollar-Haus. In einem Blogeintrag im „Harvard Business Review“ stellten sie die folgenden Fragen: „Wie verwandeln wir Slum-Behausungen in würdevolle Wohnungen?“ und „Wie müssen wir die Häuser bauen, damit sie für Arme erschwinglich werden?“ Eine Begleitskizze zeigte einen quadratischen Ein-Zimmer-Grundriss, Moskitonetz, Wasserfilter, PC-Anschluss und ein Solarpaneel auf dem Dach. Die Botschaft war klar: Das Haus sollte mehr als Schutz vor Naturgewalten bieten. Es sollte auch ein Hort der Gesundheit, der Bildung und des schonenden Umgangs mit der Umwelt sein. Und es sollte eben nicht mehr als 300 US-Dollar kosten.

Ihren Ursprung nahm die Idee vor über 50 Jahren in Indien. Auf seinem Schulweg durchquerte der kleine Vijay täglich einen Slum. Seine damaligen Beobachtungen führten zu der Erkenntnis: Da die Menschen im Slum arm sind, haben sie eine schlechte Behausung und keine sanitären Anlagen, werden krank, gehen nicht zur Arbeit, haben kein Geld und schicken ihre Kinder nicht zur Schule. Das 300-Dollar-Haus sieht Govindarajan als Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Der Blogeintrag fand in kurzer Zeit weltweite Beachtung. Die beiden Ökonomen hatten offensichtlich einen entwicklungshilfekritischen Zeitgeist getroffen. Statt von Spenden und Hilfe sprechen sie von Investitionen und Märkten. „Die Armen sollen die Häuser schon selber bezahlen“, sagt Sarkar. „Nur müssen wir die Häuser für sie bezahlbar machen.“ Govindarajan und Sarkar lancierten die Website 300house.com. Über 2500 Menschen, darunter Ingenieure, Architekten, Designer, Studenten und Handwerker debattierten, welche lokalen Baustoffe sich für den Hausbau am besten eignen, wie man die Kosten niedrig und die Qualität hoch hält und wie sichergestellt werden kann, dass die Slumbewohner die Häuser am Ende tatsächlich bewohnen wollen.

Der nächste Schritt war ein Wettbewerb, der „$300 House Open Design Challenge“ im Jahr 2011. Exakt 300 Hausmodelle wurden eingereicht und von einer 16-köpfigen Jury und den Teilnehmern aus aller Welt bewertet. Eines der Gewinnerprojekte, Ursprung USA, setzte etwa auf Wände aus Bauschutt in stabilen Plastiksäcken, ein anderes auf eine Kunststoff-„Big Box“ über einem Bambusgerüst mit natürlichem Airconditioning. Für Aufsehen sorgte auch ein mit Lehmziegeln „überbackenes“, aufblasbares Iglu.

Schließlich winkte den sechs Gewinnerteams ein Workshop zur Entwicklung zweier Prototypen, eines für ländliche und eines für städtische Gegenden. In den kommenden Monaten sollen sie in einer Testphase nun für Erdbebenopfer in Haiti gebaut werden.

Harvey Lacey ist schon weiter. Ebenfalls in Haiti leitete der weißbärtige Texaner Frauengruppen an, weggeworfenes Plastik und andere Materialien in Ziegelsteine zu verwandeln. Als Werkzeug benutzen die Frauen eine einfache, manuell gesteuerte Kompressionsmaschine, ähnlich einem überdimensionierten Schraubstock. Im Wettbewerb landete der gelernte Schweißer mit seinen „Ubuntu-Blocks“ zwar nur auf dem zwölften Rang. Trotzdem baute er die Häuser mit den Frauengruppen unermüdlich – und verbesserte sie ständig: In einem YouTube-Film rüttelt Lacey zu Demonstrationszwecken sichtlich stolz an einer eben errichteten Hausmauer und sagt: „Meine Bauweise ist für ein Erdbeben von 8,3 Punkten auf der Richterskala zertifiziert.“

"Unrealistisch und schädlich"?

Ihr Billighaus-Konzept hat Govindarajan und Sarkar 2011 den renommierten "Breakthrough Idea Award" beschert. Allerdings müssen sie sich auch Kritik gefallen lassen: Unrealistisch und schädlich sei die Idee, hieß es etwa in einem Artikel in der „New York Times“. Unrealistisch, weil sich mit 300 Dollar keine würdevolle Behausung bauen lasse. Schädlich, weil die Einpflanzung vorfabrizierter Häuser in den Slums ein etabliertes Handwerkergewerbe und eingespielte soziale Strukturen zerstöre.

Die beiden Initiatoren glauben trotzdem an das 300-Dollar-Haus. Recht gibt ihnen nicht zuletzt, dass sich auch Firmen davon haben inspirieren lassen, etwa Mahindra & Mahindra, ein indischer Autokonzern, der im Wettbewerb den ersten Preis in der Unternehmens-Kategorie gewann. In den indischen Städten Bihar und Pondicherry hat die Firma Hunderte Häuser für die Opfer von Überschwemmung und Tsunami gebaut, inklusive Kanalisation, Sonnenkollektoren und Parks.

Noch ist der Weg vom projektbezogenen Häuserbau für Menschen in Not bis zum tatsächlichen Marktdurchbruch weit. Aktuell konkurrieren zwei unterschiedliche 300-Dollar-Haus-Philosophien miteinander. Die „Freunde der Technologie“ glauben an die industrielle Massenproduktion, um die Kosten pro Haus mit zunehmender Stückzahl zu senken. Die Freunde des „Eigenbaus“ hingegen setzen auf lokale Baumaterialien und die Mitarbeit der Slum-Bewohner selbst. Den Initiatoren ist diese Vielfalt recht. Hauptsache, es wird fleißig gebaut. Denn, sagt Vijaj Govindarajan: „Sogar Insekten und Spinnen haben ein Zuhause. Eine Unterkunft zu haben, ist ein Menschenrecht.“

Nützliche Adressen: Mehr Informationen gibt es auf www.300house.com. Auf www.jovoto.com/projects/300house sind alle eingereichten Projekte des Wettbewerbs vorgestellt.

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