+++ Kolumne "Alles im grünen Bereich" +++
Über ein Tempolimit auf Autobahnen zu diskutieren, ist ja so etwas wie ein typisch deutscher Volkssport. Die Debatte darum flammt immer wieder auf – und wird gerne mit vollem Körpereinsatz geführt. Was sich aus dem Ausland vielleicht wie eine sympathische Marotte ausnimmt, entfaltet allerdings ein beängstigendes Aggressionspotential.
Das bekam ich vor ungefähr zehn Jahren in einer Redaktionskonferenz zu spüren. Ich hatte gerade beiläufig erwähnt, was ich für eine Binsenweisheit hielt (dass ein Tempolimit Vorteile für den Verkehrsfluss und die Sicherheit auf der Autobahn mit sich bringe, außerdem das Klima schütze und den eigenen Geldbeutel entlaste), als mich eine Kollegin angiftete: Das sei doch Unsinn. Und schon heute, raste sie, dürfe man kaum irgendwo schneller als 120 Stundenkilometer fahren.
Ich weiß nicht, woher sie damals diese Information hatte. Sie musste viel rumgekommen sein. Heute könnte ich ihr entgegenhalten, dass das auf über 70 Prozent aller deutschen Autobahnkilometer gilt: no limits. Wenn man Baustellen mit einrechnet, sind es immerhin noch 60 Prozent. Beides nach Angaben der Bundesanstalt für Straßenwesen für das Jahr 2015.
Ob so ein Fakt zur Deeskalation beigetragen hätte, lasse ich mal dahingestellt. Denn offenbar handelt es sich bei der unbeschränkten Raserei um ein Thema, das sehr viel tiefer reicht als in Tabellen und Statistiken. Das zeigen auch die irrlichternden Irrationalismen der wieder aufflackernden Debatte. Um die zu verstehen, hilft der Slogan der Tempolimit-Gegner: „Freie Fahrt für freie Bürger“ – einst eine Reaktion des ADAC auf Tempo-100-Versuche auf deutschen Autobahnen in den siebziger Jahren. (Zur Erinnerung: Öl war damals knapp.)

Tempolimit auf Autobahnen: Ein Verbot zu viel?
Obwohl unser Leben in der freiheitlichen Grundordnung von zahllosen Beschränkungen und Verboten umstellt ist, über die sich niemand aufregt, löst die Forderung nach einem generellen Tempolimit auf Autobahnen offenbar tief sitzende Ängste aus. Sie bedroht unsere Identität. So schnell fahren, wie man möchte – auch wenn das nicht gleichbedeutend sein muss mit „rasen“: Das ist für viele offenbar ein nicht verhandelbarer Teil ihres Selbst- und Weltbildes. Opferzahlen, Verkehrsfluss, Klima und Gesundheit – all das ist abstraktes Zahlenwerk. In den tieferen Schichten der Autofahrer-Psyche entfaltet es keinerlei Wirksamkeit.
Es ist genau diese infantile Sicht der Dinge, die Verkehrsminister Scheuer jetzt füttert, wenn er behauptet, ein Tempolimit widerspreche dem „gesunden Menschenverstand“. Auch wenn er dabei selbstverständlich auch die Autoindustrie im Blick hat, die gerne totale Freiheit und Entfaltung des Subjekts propagiert – und mit Begrenzungen jeder Art so ihre Schwierigkeiten hat.
Das einzige EU-Land ohne Tempolimit
Die Folge ist ein politischer Realitätsverlust. Um beim Klima zu bleiben: Wie will der Verkehrsminister die seit Jahren stagnierenden Emissionen im Verkehrssektor senken, wenn er sogar eine so einfache, in allen anderen Ländern der EU erprobte und effektive Maßnahme nicht nur ablehnt – sondern geradezu lächerlich macht? (Und damit, übrigens, alle EU-Nachbarn brüskiert.)
Schon vor zehn Jahren galt, was auch heute gilt: Der ehemalige Klimaweltmeister Deutschland ist die einzige westliche Industrienation, in der kein generelles Tempolimit auf Autobahnen gilt. Ausnahmen weltweit: Afghanistan, Burundi, Nordkorea, nur so als Beispiel.
Ich bin allerdings nicht sicher, ob das Argument meine Kollegin umgestimmt hätte. Vielleicht spinnen ja auch die anderen alle.
* Aktuellere Zahlen liegen nicht vor.