Anzeige
Anzeige

Experiment Mein Leben als Dachs: Warum Charles Foster zum Waldtier wurde

Experiment: Regenwürmer essen, in Erdhöhlen kriechen, die Nase am Boden halten: Wer die Welt wie ein Tier erleben will, darf nicht zimperlich sein
Regenwürmer essen, in Erdhöhlen kriechen, die Nase am Boden halten: Wer die Welt wie ein Tier erleben will, darf nicht zimperlich sein
© Felicity McCabe (l.); Stephen Dalton / nature picture library (r.)
Der britische Naturkundler Charles Foster lebte wochenlang im Wald: als Otter, Fuchs oder Hirsch. Was ihn der Perspektivwechsel über die Welt lehrte

Interview: Bertram Weiß

GEO: Mr. Foster, Sie beobachten Tiere nicht nur — Sie versuchen auch zu leben wie sie. Warum?

Charles Foster: Der wichtigste Grund ist: Ich will von ihnen lernen, als Mensch besser zu leben. Denn wir teilen sehr viel mit ihnen: eine oft verblüffend ähnliche neurologische und physiologische Ausstattung, eine gemeinsame Geschichte tief in der Evolution — und natürlich die Welt. Ein anderer Grund: Ich will spüren wie es ist, ganz anders zu sein als gewohnt. Wenn ich zum Beispiel die sensorische Wahrnehmung eines Fuchses erahnen kann, um wie viel leichter wird es mir dann fallen, mich auch in andere Menschen hineinzuversetzen?

Im Allgemeinen stolzieren wir Menschen nur durch die Welt und bewahren zu Tieren Distanz. Wir betrachten sie aus der Ferne, gehen bestenfalls einmal in die Knie und streicheln sie. Aber wer versucht schon — abgesehen von Kindern —, ihre Perspektive einzunehmen? Wie ist es, als Fuchs durch die Gegend zu streunen und nach Beute Ausschau zu halten? Wie erscheint einem die Welt, wenn man mit der Nase so nah am Boden lebt wie ein Dachs? Wie ändert sich die Wahr­nehmung, wenn man wie ein Hirsch durch den Wald hetzt?

Aber funktioniert das wirklich? Wir können nun einmal nicht aus unserer Haut.

Ist es wirklich schwieriger, als zu versuchen, einen anderen Menschen zu verstehen? Natürlich, ich weiß aus eigener Erfahrung etwas darüber, wie Menschen sind. Aber sie sind auch viel besser darin als Tiere, sich zu verstellen. Natürlich müssen wir uns beim Versuch, uns in Tiere einzufühlen, der Unterschiede bewusst sein — aber auch der Gemeinsamkeiten. Ich misstraue der Vermenschlichung von Tieren weitaus weniger als andere. Es ist ein guter Anfang, von den eigenen Gefühlen auszugehen. Um dann darüber hinaus zu gelangen, muss man Dinge ausprobieren, die ohne Zweifel seltsam wirken.

Was tun Sie konkret?

Meine Vorgehensweise besteht schlicht darin, mich so nahe wie möglich an die Grenze vorzuwagen und mit allem, was mir an Hilfsmitteln zur Verfügung steht, ins unbekannte Terrain hinüberzuspähen. Zunächst wähle ich ein Tier aus. Dann vertiefe ich mich in die wissenschaftliche Literatur und finde heraus, was man aus der Forschung über die Funktionsweise dieses Tiers weiß, insbesondere über die Physiologie seiner Sinne. Dann tauche ich in seine Welt ein, manchmal über Wochen oder Monate. Und stelle mir dabei die Frage: Welche Art von Welt konstruiert das Gehirn dieses Tiers?

Charles Foster
Um als Otter zu leben, tauchte Foster mit seinem Sohn in Bäche — und wühlte am steinigen Grund nach Fischen
© Paul Sawer / FLPA / Minden Pictures (l.); Charles Foster (r.)

Wie können wir uns Ihre Verwandlung zum Tier vorstellen?

Im Londoner East End habe ich beispielsweise versucht, mich in das Dasein der dort lebenden, zahlreichen Stadtfüchse zu versetzen. Ich schlief unter Büschen, harrte über Stunden unter einer Hütte aus, jagte Wühlmäuse auf ihren Trampelpfaden und fraß aus Mülltonnen.

Oft wurde ich von Mitbürgern argwöhnisch beäugt oder von Polizisten des Ortes verwiesen. Deshalb konnte ich auch nicht auf allen vieren wie ein Fuchs in der Dämmerung durch die Straßen jagen. Aber ich habe es andernorts nach besten Kräften getan. Die Perspektive der Füchse nimmt man nämlich ein, wenn man mit Tempo einen Hang herunterschlittert. Wie die meisten Raubtiere haben sie frontal ausgerichtete Augen und sehen ein Objekt vor ihnen in Bodennähe daher vermutlich mehr oder weniger so wie wir. Was rechts und links von ihnen zu sehen ist, rast allerdings rasch und dunkel an ihnen vorbei.

Die Wahrnehmung der Füchse ist daher eine ganz andere als etwa die der Dachse. Diese Tiere leben in Duftlandschaften. Der Blick trägt wenig zu ihrer Welt bei.

Wie haben Sie die erkundet?

Ich habe einen Farmer gebeten, mit einem Bagger eine Grube in einen Waldhang in Wales zu graben. Die sollte mir als Ersatz für die weitverzweigten Höhlenlabyrinthe dienen, die Dachse unter der Erde graben. Ich kleidete die Grube mit Laub aus, baute ein Überdach aus Ästen und lebte darin für einige Wochen. Nachts habe ich mich darin eingerollt, tagsüber bin ich auf allen vieren durchs Unterholz gekrochen, habe Beeren gefuttert, auch mal Würmer gekostet. Von Zeit zu Zeit hat der Farmer Lasagne oder Fischauflauf vorbeigebracht.

Sie sind 1,90 Meter groß. Wie war es, sich aus der Höhe von zwei Beinen im Wald auf alle viere in Bodennähe zu begeben?

Mir ist vor allem bewusst geworden, dass ich den Geruchssinn in meinem Leben bis dahin praktisch völlig ignoriert hatte. Überall konnte ich etwas Neuartiges erschnüffeln, ein Stück Wiese roch wenige Meter weiter schon wieder anders als zuvor, ein Baum anders als der nächste. Und wenn ich nicht tief in die Lungen atmete, sondern flach und in raschen Stößen, wie es Dachse tun, dann wurden die Gerüche noch nuancierter und intensiver. Auch ich, so wurde mir klar, habe fünf Sinne zur Verfügung. Aber nutze normalerweise ausschließlich die Augen. Und die waren in der Welt des Dachses, vor allem in der Dämmerung, ziemlich nutzlos.

Und was haben Sie über den Dachs daraus gelernt?

Dachse leben in einer völlig anderen Welt als wir. Sie ist erfüllt von Gerüchen, Geschmäckern und Geräuschen, die nicht zu unserer Lebenswelt gehören: Hier stinkt vielleicht der Urin einer Maus, dort steigt meerfrischer Duft von der Schleimspur einer Schnecke auf; wieder anderswo schlägt einem ein Farnwedel ins Gesicht oder rascheln Käfer im Laub. Es gab Momente, in denen ich einen Baum gerochen habe, ohne ihn sofort in meine menschliche Vorstellung eines Baums zu übersetzen. Ich kann das nicht richtig beschreiben — ich war einfach in diesem Moment einem Baum näher als jemals zuvor in meinem Leben.

Ich stelle mir vor, dass ein Dachs viel mehr in seinen Sinneseindrücken lebt, als wir es tun. Wir neigen dazu, jeden Eindruck sofort in eine Vorstellung zu verwandeln. Und das erscheint mir oft bedauerlich. Denn unsere Idee — zum Beispiel von einem Baum — ist oft viel weniger interessant, viel weniger detailliert als der tatsächliche Baum, der vor uns steht. Daher sind Tiere großartige Lehrer, die uns zeigen, wie wir auch mit der Welt umgehen könnten.

Experiment: Rothirsche sind Fluchttiere: Um ihr Wesen zu spüren, ließ Foster sich von Hunden im Wald jagen
Rothirsche sind Fluchttiere: Um ihr Wesen zu spüren, ließ Foster sich von Hunden im Wald jagen
© Frédéric Desmette / BIOS / Okapia (l.); Charles Foster (r.)

Also dienen Ihre Versuche, sich in Tiere zu verwandeln, letztlich dazu, sich selbst zu verändern?

Das passiert ganz automatisch, ist ­unvermeidlich. Denn wir Menschen haben uns mit unserer Vorstellung von der Natur über die Natur selbst erhoben. Wir fürchten uns vor dem Wilden. Ganz besonders fürchten wir uns vor dem Wilden in uns. Wir Stadtmenschen leben in einer Verleugnung des Wilden, bestenfalls glorifizieren wir es als romantisches Ideal. Wenn wir uns aber ein wenig auf die Perspektive der Tiere ein­lassen, können wir entdecken: Vieles davon ist für uns nicht wesensfremd, es ist auch irgendwo in uns.

Das klingt nach schamanischen Vorstellungen von Tiergeistern.

Ich meine aber die Evolution. Blättern wir durch unsere stammesgeschicht­lichen Familienalben, sehen wir vor nicht allzu langer Zeit noch pelzige Gesichter vor uns. Und vieles in uns, etwa im Körperbau oder in der Struktur des Gehirns, ist dem Tierischen recht ähnlich. Wenn wir uns also physisch einige Millionen Jahre in der Evolution zurückfallen lassen, dann können wir vielleicht andere Geschöpfe besser verstehen — und die Wildnis in uns selbst entdecken.

Sie nehmen auf Ihren Ausflügen in die Tierwelt oft auch eines Ihrer Kinder mit. Fällt es denen leichter, in die Rolle von Tieren zu schlüpfen?

Ja, denn jedes Kind unter fünf Jahren ist noch kein echter Zweibeiner, es krabbelt auf dem Boden herum und saugt Eindrücke mit allen Sinnen auf. Aber auch meinem Sohn Tom, der mich als Achtjähriger bei meinem Leben als Dachs begleitet hat, fiel es oft weitaus leichter, sich auf das Fremdartige einzulassen — er konnte etwa einen Baum ohne kulturellen Ballast auf sich wirken lassen oder einen Wurm einfach mit Neugier auf einen ungewohnten Geschmack verspeisen.

Welches Tierleben hat Sie bisher am meisten gelehrt?

Bei jedem Tier habe ich versucht, Spezifisches zu erleben: Um mich wie ein Otter zu fühlen, habe ich Schnorchel genommen und einen Neopren- Anzug angezogen, mich in den Fluss gelegt und wie die Tiere mit viel Ausdauer zwischen den Steinen am Grund nach kleinen Fischen wie Bachschmerlen gestöbert. Als Rothirsch ließ ich mich von den Bluthunden eines Freundes durch den Wald jagen und habe dabei erlebt, wie die Angst den Blick verengt. In jedem Tierleben habe ich etwas Neues gefunden. Ich kann keines über ein anderes erheben. Aber von Mal zu Mal habe ich eine Art Beruhigung erlebt.

Wenn ich ganz in meine Welt, die Welt der Menschen eintauche, erlebe ich wie wohl jeder oft Unangenehmes, Angst, Zweifel, Wut. Dann hilft es mir sehr zu wissen, dass in einem walisischen Berg gerade Dachse schlafen, ein Otter gerade in einem Flüsschen Steine umdreht und eine Füchsin in die gleiche Sonne blinzelt, die auch auf mich herabscheint.

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel