Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Artikels "Die Stimmen von Auschwitz" aus GEO Epoche Panorama: Der NS-Staat.
Gegen Mittag kam mein älterer Kollege und sagte sehr verlegen: „Irgendwelche Herren suchen dich und wollen mit dir sprechen.“ Durch das Fenster erblickte ich zwei hochgewachsene Uniformierte. Da haben sie mich also doch erwischt, dachte ich. Einer von ihnen wandte sich in akzentfreiem Polnisch an mich: „Sie sind also Herr Sobolewicz.“ „Ja“, antwortete ich, und er wiederholte: „Tadeusz Sobolewicz, nicht wahr?“ „Das stimmt“, gab ich zurück. „Sie kommen mit“, warf der zweite – in minder höflichem Ton – ein. Auf der Straße stand ein Auto. Sie befahlen mir, mich auf den Rücksitz zu setzen. Der Wagen fuhr an.*
Tadeusz Sobolewicz, geb. 1924 in Posen, wurde im Alter von 17 Jahren als Kurier einer Widerstandsgruppe verhaftet, er überlebte sechs Konzentrationslager
Von den deutschen Soldaten im Schnellverfahren abgezählt, sind wir, das Herz schwer wie Blei, 1200 an der Zahl, in Viehwaggons gestiegen, die im Vorhinein für uns vorbereitet worden waren: 60 pro Waggon, Männer, Frauen und Kinder bunt durcheinander; auf dem Boden ein paar schmutzige Strohsäcke, ein Abortkübel, ein Eimer Wasser. Die Türen der Waggons werden verplombt; wir richten uns in der Dunkelheit ein, so gut wir können, und die Reise ins Ungewisse beginnt.
Sima Vaisman, geb. 1902, Zahnärztin in Paris, wurde im Januar 1944 nach Auschwitz deportiert
Die Waggontüren waren sofort geschlossen worden, doch erst abends setzte sich der Zug in Bewegung. Unseren Bestimmungsort hatten wir mit Erleichterung vernommen. Auschwitz. Damals für uns ein Name ohne Bedeutung; aber er musste immerhin einem Ort dieser Erde angehören.
Primo Levi, geb. 1919 in Turin, Chemiker und Partisan, kam im Februar 1944 nach Auschwitz
Neben mir stehen an der Luke zwei Mädels von zehn und zwölf Jahren, glückselig. Das ist die erste Reise, die sie in ihrem Leben machen. Sie haben die ganze Nacht Ausschau gehalten, die mitwandernden Sternbilder beobachtet, die Sichel des abnehmenden Mondes bewundert, wie sie hinter den Bergeshöhen hervorschlüpfte. Sie staunen über jeden Fluss und jeden Hügel und rühren sich nicht von ihrem Ausguck weg.
Lucie Adelsberger, geb. 1895 in Nürnberg, Ärztin, wurde im Mai 1943 nach Auschwitz deportiert
Es war dunkel, als der Zug anhielt. Die Morgendämmerung begann kurz darauf, und das Licht brach durch die Fenster. Es war jetzt hell genug, um in der Ferne Einzäunungen auszumachen. Wir mussten an einem Lager sein, und zumindest würde diese Not nun ein Ende haben. Den Rauch mit dem Geruch von brennendem Fleisch, den wir plötzlich rochen, schrieben wir der Reibung zwischen den Rädern des Zuges und den Gleisen zu.
Als die Lokomotive langsam weiterkroch, sahen wir Fremde in gestreifter Kleidung auf einem Hügel, die wie Roboter liefen und unseren Zug anstarrten, als hätten sie uns erwartet. Wir schrien und fragten sie, wo wir seien. Aber kein Wort kam zurück, nur ein Zeichen von einem von ihnen: Er ließ seine Hand über die Brust gleiten, so als ob er sie zerschneiden würde. Die anderen, die unseren Zug beobachteten, drehten die Finger in der Luft. Wir starrten sie erschreckt und ungläubig an, denn dieses Zeichen bedeutete Krematorium. In die nun folgende Stille hinein fragte ein vielleicht 16-jähriger Junge, was die seltsamen Gesten zu bedeuten hätten. Niemand antwortete ihm.
Benjamin Jacobs, geb. 1919 in Polen, wurde im August 1943 deportiert. Seine Schwester und die Eltern wurden ermordet
Zyklon tötet zuverlässig innerhalb von fünf Minuten. Nach 20 Minuten werden die elektrischen Entlüftungsapparate eingeschaltet, um die giftigen Gase zu vertreiben. Noch nach zwei Stunden verursachten sie einen erstickenden Reizhusten. Deshalb trägt das Sonderkommando, das jetzt mit Schläuchen hereinkommt, Gasmasken. Die Leichen liegen nicht im Raum verstreut, sondern türmen sich hoch übereinander. Das ist leicht zu erklären: Das von draußen eingeworfene Zyklon entwickelt seine tödlichen Gase zunächst in Bodenhöhe. Die oberen Luftschichten erfasst es erst nach und nach. Deshalb trampeln die Unglücklichen sich gegenseitig nieder, einer klettert über den anderen. Je höher sie sind, desto später erreicht sie das Gas. Welch furchtbarer Kampf um zwei Minuten Lebensverlängerung.
Miklós Nyiszli, geb. 1901 in Siebenbürgen, wurde im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert
Nachdem der ganze Vorrat an Leichen auf alle Retorten aller fünf Öfen verteilt war, beobachteten die Angehörigen der Kommission mit Uhren in der Hand den Verlauf der Verbrennung der Leichen, sie öffneten die Türen, schauten auf die Uhren, sprachen miteinander und wunderten sich, dass die Verbrennung so lange dauerte. Weil die Öfen, obwohl seit der Frühe in ihnen geheizt wurde, völlig neu waren und noch nicht entsprechend aufgeheizt waren, dauerte das Verbrennen dieser Ladung ungefähr 40 Minuten.
Henryk Tauber, geb. 1917 im polnischen Chrzanów, Schuster, wurde 1943 aus dem Krakauer Ghetto nach Auschwitz deportiert, er arbeitete im „Sonderkommando“ im Krematorium
Sie gibt keuchende Laute von sich. Erschüttert stehen die Leute des Gaskommandos um sie herum. So etwas ist während ihrer Zeit noch nie vorgekommen! Wir ziehen den sich bewegenden Körper unter den auf ihm liegenden Toten hervor. Es ist ein noch ganz junges Mädchen. Ich schätze es auf etwa 15 Jahre. Seinen eiskalten Körper bedecken die Männer mit dicken Mänteln. Einer rennt zur Küche, um heißen Tee oder Suppe zu holen. Jeder will hier helfen, als kämpfe er um das Leben des eigenen Kindes. Eine Viertelstunde später bringt man das Mädchen hinauf in den Vorraum des Heizungstraktes. Dort tötet man es durch Genickschuss.
Miklós Nyiszli
Nie werde ich die Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben ...
Elie Wiesel, geb. 1928 in Siebenbürgen, wurde 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert